Darwin-Tag! Von Tintenfischen und Cthulhu-Göttern

In einer Podcast-Aufzeichnung für “ungeheuer vernünftig, die wahrscheinlich im März als Folge erscheinen soll, formulierte Olaf Herzig eine treffende Beobachtung: Meine beiden Spezial-Feiertage im Jahr kreisten je um Mythologie (Star Wars-Tag am 4. Mai) und wissenschaftliche Theorie (Darwin-Tag am 12. Februar).

Tatsächlich hat mich die Faszination für die drei Evolutionsforschenden Charles Darwin (1809 – 1882), Antoinette Brown Blackwell (1825 – 1921) und Alfred Russel Wallace (1823 – 1923) nie mehr losgelassen, seitdem ich 2013 “Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe” bei Herder publizierte. Dass der 200. Geburtstag von Wallace, immerhin Mitentdecker der Evolutionstheorie, am 8. Januar 2023 nahezu unbemerkt verstrich, betrachte ich als wissenschaftskommunikatives Trauerspiel. Und ich fürchte, der bedeutenden und vielseitigen Antoinette Brown Blackwell könnte am 20. Mai 2025 das gleiche Schicksal beschieden sein.

Das Buch bei Herder zur Biografie von Charles Darwin und den Beiträgen von Alfred Russel Wallace und Antoinette Brown Blackwell von 2013 liegt (nur) noch als eBook vor. Foto der Printausgabe: Michael Blume

Der Tintenfisch beim Marshmallow-Test zur Selbstkontrolle

Wie wichtig Evolutionsforschung und konkret vergleichende Evolutionspsychologie auch für das Verständnis von uns Menschen weiterhin sein, zeigte dabei ein Hinweis von Cameron via Mastodon. Ein mit soliden Quellen belegtes Cuttlefish-Video um die Psychologin Alex Schnell et al. zeigt, dass eben nicht nur sozial lebende Tiere wie Primaten oder Raben, sondern auch einzelgängerische Tintenfische den sogenannten Marshmallow-Test zur Selbstkontrolle bestehen – ähnlich wie Menschenkinder!

Im Kontext der Biologie bedeutet dies eine Falsifikation der Social Intelligence Hypothesis (SIH), nach der sich Selbstkontrolle erst und nur dann entwickele, wenn durch sozial lebende Artgenossen Belohnungen und Strafen zu erwarten wären.

Stattdessen stärkt der Tintenfisch die Ecological Intelligence Hypothesis (EIH), nach der auch schon Bedrohungen aus der Umwelt – hier etwa jagende Haie – die Evolution von Selbstkontrolle zum strategischen Abwarten hervorbringen können. Damit sollte auch kognitionspsychologisch noch sehr viel früher von Mitwelt statt Umwelt gesprochen werden: Die Mitwelt interagierte bereits mit unseren Vorfahr:innen, lange bevor diese zwischenmenschliche Kognitionen evolviert hatten.

Neue Erklärung zum “böse Götter”-Problem

Die Tintenfisch-Studie bietet dabei nicht nur neue Deutungsmöglichkeiten des Cthulhu-Mythos von Howard Phillips Lovecraft (1890 – 1937), sondern auch einen Beitrag zur Lösung des böse Götter-Problems: Schon dem studierten Theologen Charles Darwin war aufgefallen, dass frühe, übernatürliche Wesenheiten wie Geister oder auch Götter eher als launige, ja bösartige Wesen beschrieben wurden. Denken wir nur beispielsweise an den vatermordenden und ständig seine Ehefrau betrügenden Hochgott Zeus, dem Menschen dennoch Opfer bringen sollten.

Hätte sich Religiosität mit der SIH erst aus den zwischenmenschlichen, sozialen Kognitionen entwickelt, wie es etwa der Religionssoziologe Emile David Durkheim (1858 – 1917) nahelegte, dann wäre zu erwarten gewesen, dass sich Menschengruppen sehr früh für wohlwollende und berechenbare (“liebe”) Gottheiten entschieden hätten. Doch Darwin schrieb bereits 1871 in seiner “Abstammung des Menschen” zu Recht:

Die höchste Form der Religion – die großartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde hasst und die Gerechtigkeit liebt – war während der Urzeiten unbekannt.”

Mit den Tintenfisch-Studien und der Stärkung der EIH wird nun besser greifbar, dass Urformen des Tabus, der Rituale, der Mythen und des Opferns auf die Angst vor bedrohlichen und unberechenbaren Angreifern zurückgegangen sein dürften. Tierähnliche und un-tote Wesenheiten hätten demnach – wie auch der Mythenforscher Hans Blumenberg in “Arbeit am Mythos” betont – erst einmal kulturell überwunden werden müssen. Die biologisch angelegten, sozialen Instinkte waren und sind also keineswegs einfach “gut”, sondern können auch von monströsen Tentakelwesen wie den “Großen Alten” von Lovecraft (der Name!) getriggert werden. Noch einmal Darwin dazu aus dem gleichen Buch:

„Gutes zu tun in Erwiderung für Böses, den Feind zu lieben, ist eine Höhe der Moralität, von der wohl bezweifelt werden dürfte, ob die sozialen Instinkte für sich selbst uns dahin gebracht haben würden. Notwendigerweise mussten diese Instinkte, in Verbindung mit Sympathie, hoch kultiviert und mit Hilfe des Verstandes, des Unterrichts, der Liebe oder Furcht Gottes erweitert werden, ehe eine solche goldene Regel je hätte erdacht und befolgt werden können.“ 

Meine erste Radioproduktion zu Charles Darwin erfolgte 2016, online auf YouTube. Hier auch als Blogpost mit Volltext: Michael Blume

Ich bitte daher um Ihr Verständnis, dass ich am Darwin-Tag 2023, dem 12.02.23, nicht nur an Charles Darwin, Primaten und die “Abstammung des Menschen” gedenke, sondern auch an Azathoth, Tintenfische und das Necronomicon. Happy Darwin Day!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

10 Kommentare

  1. Einen schönen Tag des Herrn und einen schönen Darwin-Tag, lieber Herr Dr. Michael Blume und allen Lesern hier!
    Der Vortrag von Herrn Blume aus dem Jahr 2016 war sehr nett und substantiiert, gerne mal reinhörensehen, das Vid ganz unten im Artikeltext ist gemeint.

    Ansonsten bündeln Religionen ganz hervorragend, unterstützen die Bildung von Gruppen, die sich aber nicht immer untereinander ganz grün sind, nicht wahr?
    Insofern besteht auch eine Gefahr in der Religion, dies sonntäglich und aus agnostischer Sicht nur am Rande angemerkt.

    Tja, Charles Darwin kann kaum zuviel gelobt werden, er wird auch selten angegriffen, radikaler Darwinismus ist ja nicht von ihm, sozusagen Turbo-Darwinismus, denn das Leben kennt ja kein Ziel, jedenfalls ist so nicht bekannt.
    Angegriffen wird Darwin manchmal zu seinen Aussagen über das weibliche und männliche Tier, das aus seiner Sicht sehr oft viel prächtiger ist.
    No problemo hier.

    Wer möchte, kann auch ablehnende Sichten zur Religion entwickeln und veröffentlichen, es spricht einiges dafür wie dagegen.
    Heutzutage bspw. macht Religion aufgeklärtem Personal keinen besonders plausiblen Eindruck, im Sinne von : “Muss ich haben, hier und jetzt!”

    Mit freundlichen Grüßen und weiterhin viel Erfolg
    Dr. Webbaer (der u.a. auch bei der Feindesliebe ein wenig vorsichtig wäre, “Gegnerliebe” ginge ihm deutlich eher)

    • Oh, würden Sie den interessanten Mitwelt-Gedanken bitte noch etwas ausführen, @Mussi? Ich kann aus dem Kurzkommentar das konkrete Anliegen und zum Beispiel nicht erkennen, ob Sie Tag im Sinne von „Day“ oder von Hash-Tag meinen? 🤔🤷‍♂️☕️

  2. Meiner Kenntnis nach konnte sich Darwin nicht zwischen Konkurrenz oder Kooperation als entscheidende Impulse für die Evolution entscheiden. Deswegen soll er sich für ‘the fittest’ entschieden haben,weil Wallace ihm im Nacken lag.
    Ich halte beide für massgeblich. Aber letztendlich ist es Kooperation (Sex), worum konkurriert wird.
    Und wenn es letztendlich die Kooperation ist,dann liegt Mitwelt einfach auf der Hand.
    Die anthropologische Evolution vom MPI und Tomasello haben dazu mehr zu sagen.

  3. Ich weiss nicht,ob Sie Stephan Schleim’s blog verfolgen?
    Ich halte sowohl die westliche,weniger die östlichen Philosophie, zu stark auf Unterscheidung und Eindeutigkeit,welches sich im ‘oder’ kristallisiert,fokussiert.
    Was aber,wenn ein ‘und’ auch existiert und wirklich ist?
    Ob ich ‘ Konkurrenz oder Kooperation’ oder ‘Konkurrenz und Kooperation’ sage,macht halt nicht nur semantisch einen Punkt,oder?

    • Danke, @Mussi – Zustimmung. Wie Sie ggf. wissen, nehme ich in „Rückzug oder Kreuzzug?“ gerade auch die westliche Tendenz zur Analyse (wörtlich: Zergliederung, Zerschneiden) als eine Funktion der japhetitischen Alphabete wahr.

    • Die Konkurrenz meint das zusammen Laufen, im kompetitiven Sinne, Kooperation wird so nicht ausgeschlossen, die Kooperation das zusammen arbeiten, Darwin hatte es mit der Angepasstheit (an Umweltbedingungen, also auch an die Biosphäre), ‘Survival of the Fittest’ war aus diesseitiger Sicht fein gewählt, angeblich hat Darwin diesen Begriff “gemopst”, aber er nimmt eben die soziale Komponente, so wie sich Menschen dies vorstellen, bei den Betrachtungen der historisierten Tierwelt heraus.
      Beim modernen Menschen funktioniert so natürlich nicht, dort wäre besser von Konkurrenz, Kooperation und Verständigkeit zu reden.
      Ansonsten natürlich Zustimmung zu Ihren Anmerkungen zur sozusagen binären modernen Unterscheidung, Herr Dr. Michael Blume redet hier von einem (tendenziell abzulehnenden) Dualismus, der dem Konzept des Yin und Yang entgegen steht, zu streng ist sozusagen, denn auch eine binäre Fragestellung kann mehr als zwei Antworten erhalten, nämlich “weiß ich nicht” als dritte Option, wobei diese dritte Option auch beliebig weiter aufgelöst werden kann, so auf die Art : “A ist wahrscheinlicher als B, aber ich weiß nicht”; Dr. Webbaer sich zu diesem Thema kürzlich noch, im Zusammenhang mit der Datenbankentwickkung, die auch den sog. NULL-Wert kennt, köstlich mit “ChatGPT” unterhalten habend.
      “ChatGPT” ist vermutlich verständiger und sachlicher als Mister Spock (“Star Trek”), aber leider fachlich, wie auch schon von Vielen festgestellt worden ist, auch vom hiesigen Dr. Martin Bäker oder vom hiesigen Dr. Timm Grams, eine Niete, noch, verschlimmbessernd wirkt auch bei diesem Bot, der an sich ein AI-Model ist, dass er sozial [1] so eingestellt worden ist eigenes Unwissen zu verbergen, zu überspielen zu suchen.
      [1]
      Dieser Bot ist ein AI-Model, das mit Tera Byte Daten an Textdateien “gefüttert” oder “trainiert” worden ist, er liegt mit einigen Giga Byte Daten im Speicher unterschiedlicher Rechner und ist insofern als verteilte Anwendung zu betrachten, er greift bei Bedarf über sog. APIs auf weitere Ressourcen zu, auch themenspezifisch, so kann auch erklärt werden, dass “ChatGPT” manchmal etwas kann und weiß und manchmal das Selbe nicht kann und weiß.
      Dieser Bot ist übrigens nicht, wie angegeben wird, auf dem Kenntnisstand des Jahres 2021 sozusagen eingefroren, er hat auch entgegen seinen Angaben Internetzugang.
      Umgeben ist dieser Bot von einer sozialen Schicht, die ihn sozusagen zwiebelschichtig umgibt und sozusagen seine Redaktion bereit stellt, die darauf achtet, dass er stets sozialverträglich kommuniziert, diese “Redaktion” ist eine seiner möglichen Schwachstellen.

  4. Der webaer denkt und argumentiert zu tierisch.
    Bereits die Verschmelzung von Samen und Ei ist Kooperation. Auch das sich bilden von Molekülen aus Elementen ist Kooperation. Selbst die Elemente als sich selbst bestehend ist Kooperation,wohl bestandsfest.
    Die Selektion ist eine Folge der Kooperation zur Kooperation.
    cooperation is all around.
    Da ist der @webbaer leider tatsächlich old schon.

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