Chanukka und Advent-Weihnachten 2022 – Ein Durchbruch zu mehr gemeinsamem Licht?

Seitdem ich mich Ende der 1990er Jahre begann, im sog. abrahamitischen Trialog zwischen Christentum, Judentum und Islam zu engagieren, vertrat ich die Auffassung, dass Menschen “auch zusammen feiern” sollten. Das Christentum ließ sich nicht alleine über unfassbar lange (japhetitische) Glaubenstexte erfassen, das Judentum nicht auf den Holocaust / die Schoah reduzieren, der Islam nicht integrieren, wenn man ihn nur unter den Aspekten von Gewalt und “Islamisierung” wahrnehmen wollte. Stattdessen galt es, auch die Feste zusammen zu feiern – und aus wachsender Vertrautheit und Freundschaft Kraft zu sammeln, um die realen Probleme wie Antisemitismus, Rassismus, Dualismus anzugehen. Entsprechend arbeitete ich viel daran, Menschen dazu zu bewegen, miteinander Ramadan, Weihnachten, Chanukka und Purim zu feiern.

Und plötzlich – ausgerechnet im Jahr 2022 als ich gegen den Hass auf Twitter aufstand – durfte ich im Bereich des jüdisch-christlichen Dialoges einen Durchbruch miterleben, der zunehmend auch weitere Religionen und Weltanschauungen umfasst.

Was war geschehen? Seit Jahrzehnten hatte vor allem die jüdisch-orthodoxe Chabad-Bewegung darum geworben, Chanukka auch durch das öffentliche Aufstellen von Chanukkia-Leuchtern öffentlicher und buchstäblich sichtbarer zu feiern. Die gemeinsamen Feiern wurden zu einer neuen Form der verbindenden Zivilreligion – seitdem der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) 2005 Chanukkia-Kerzen in Stuttgart mit-entzündete, breitete sich der Brauch auch rapide in Baden-Württemberg aus. Vor wenigen Tagen tat dies dann auch Bundeskanzler Olaf Scholz in der Berliner Heinz-Galinski-Schule.

Mit jedem gemeinsamen Kerzen-Anzünden wurde aber auch immer mehr Christinnen und Christen, Humanistinnen und Muslimen erlebbar, wie eng verwandt die religiösen Traditionen waren: wenn ich auch Begriffe wie “Weihnukka” als etwas zu gewollt empfinde, so waren die Entsprechungen zum christlichen Advent doch offensichtlich. Die Covid19-Pandemie samt der erfolgreichen Impfkampagnen zunächst in Israel führten zudem dazu, dass noch viel mehr nichtjüdische Menschen die direkten Gefahren von Verschwörungsmythen und Antisemitismus verstanden. Das gemeinsame Ehren des Lichtwunders in der Öffentlichkeit wurde in Deutschland zu einer Art Gegen-Querdenken mit jährlich wachsender Beteiligung – auf die Aggressivität des feind-seligen Dualismus reagierten immer mehr Menschen mit Monismus.

In diesem Jahr kam noch die mutige Revolution im Iran, aber auch der deutliche Rechtsruck bei den Wahlen zur Knesset in Israel hinzu. Immer mehr Menschen erkennen gegen Huntingtons “Clash of Civilizations”, dass die Trennlinien zwischen Monismus, Relativismus und Dualismus quer durch die Religionen und Weltanschauungen verlaufen – und es also ein Zusammenstehen der demokratischen, dialogorientierten Kräfte brauche.

Chanukkatage in Tübingen, 14.12.2022

Und so erlebte ich mein erstes “Hoppla, was geschieht denn hier!?” bei den Chanukkatagen von Marsch des Lebens in Tübingen, die gemeinsam mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) ausgerichtet werden und inzwischen auch von Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) unterstützt werden. Ich hatte letztes Jahr ein sehr gutes, kritisch-konstruktives Gespräch über Blutmetaphern in der Theologie der Freikirche geführt und mich entsprechend bereiterklärt, die Aufarbeitung von Antisemitismus zu unterstützen. Ein (ebenfalls Tübinger) Worthaus-Vortrag über christlichen Antisemitismus hatte binnen weniger Wochen Tausende Zuhörende und auch Zuschauende erreicht. Und als die Gemeinde dann auch noch Chanukka mit der Aufführung eines Tanzes und Rap-Songs feierte und die christliche Kulturwissenschaftlerin Michaela Buckel eine religionsgeschichtliche Einführung in die jüdische Chanukka-Tradition gab, verwarf ich spontan mein Skript über “Antisemitische Verschwörungsmythen” und griff stattdessen die fröhliche Stimmung der Tübinger Chanukkatage auf. Meine Verblüffung über die Dynamik ist mir m.E. anzusehen:

Gemeinsame Chanukka-Advent-Reuchlin-Feier in Pforzheim, 18.12.2022

Während in Tübingen aber vor allem Christinnen und Christen aktiv waren, erlebte ich im badischen Pforzheim wenige Tage später noch Größeres: Hier hatten Kirchen und jüdische Gemeinden gemeinsam (!) zu einem Festabend in Erinnerung auch an den mutigen Gelehrten Johannes Reuchlin (1455 Pforzheim – 1522 Stuttgart) eingeladen. Advent und Chanukka wurden dabei nicht vermischt, aber unter dem Symbol des Lichtes gemeinsam gefeiert – links auf der Bühne glänzte ein Adventskranz, rechts eine Chanukkia. Als Moderator von zwei Podiumsdiskussionen dankte ich spontan: “Normalerweise wird ein Beauftragter gegen Antisemitismus dann gerufen, wenn es brennt. Heute darf ich mal dort mitwirken, wo es strahlt.” Und tatsächlich war ich im Programm ausdrücklich als Religionswissenschaftler aufgeführt worden – es sollte eben nicht nur um Antisemitismus gehen, sondern um Zusammenleben und Zukunft. Bewusst war mit Mirzeta Haug eine muslimische Podiumsteilnehmerin (und einstige Studentin von mir in Heidelberg) eingebunden worden, wurde am Abend ein Friedenslicht durch Ahmet Kurt, einen Vertreter der großen, ezidischen Gemeinden in Pforzheim, auf die Bühne gebracht. 

Nachdem dann auch noch Rami Suliman, der Vorsitzende des Oberrates der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden (IRGB) die erste evangelische Landesbischöfin, Prof. Heike Springhart, zum allen gemeinsamen Tanz aufrief, war ich mir sicher: Pforzheim hatte “ein Stück Religionsgeschichte geschrieben.” 

Weil sie zum “Gemeinsamen Festakt 2022” in Pforzheim so liebevoll gestaltet waren, verwendete ich zum ersten Mal in meinem Leben Moderationskarten. Foto: Michael Blume

Chanukkia-Entzünden mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann, 20.12.2022

Und sogar noch an meinem (hoffentlich) letzten Arbeitsabend diesen Jahres konnte ich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zum öffentlichen Entzünden des Chanukka-Leuchters auf den Schlossplatz Stuttgart begleiten. Es kamen nicht nur erneut sehr viel mehr Menschen als in den Vorjahren dazu, die einladende IRGW überzeugte auch mit einer Licht- und Feuershow, die Ausblicke in die kommende Entwicklung der gemeinsamen Feiern gab.

Vor der Stuttgarter Chanukkia spricht die Vorstandssprecherin der jüdischen Landesgemeinde Württembergs, Professorin Barbara Traub. Foto: Michael Blume

Und wäre ich dann nicht familiär gebunden gewesen – ich nahm den Jüngsten mit auf eine Weihnachtsfeier – dann hätte ich auf Einladung von Innenminister Thomas Strobl (CDU) auch noch bei der feierlichen Chanukka-Fortsetzung der baden-württembergischen Polizeirabbinate dabeisein können!

Fazit

Nach einem auch familiär wunderbaren Weihnachtsfest gestern komme ich zu dem Schluss, dass Chanukka und Advent 2022 mindestens in Deutschland einen jüdisch-christlichen und interreligiösen Schub nach vorne in Richtung einer “demokratischen Zivilreligion des Lichtes” gebracht haben. Dabei werden die jeweilige religiöse oder auch nichtreligiöse Identität der Teilnehmenden nicht in Frage gestellt, sondern das zentrale, demokratische Recht der Religionsfreiheit hervorgehoben sowie die gemeinsamen, historischen Wurzeln der Vielfalt betont.

Selbstverständlich mache ich mir keine Illusionen – auf die interreligiöse Dynamik werden auch wieder Phasen identitärer und dualistischer Angriffe folgen. Ethnonationalistische und feind-selige Verschwörungsbewegungen werden das Zusammenrücken der religiösen Minderheiten als vermeintliche Weltverschwörung attackieren, stören, vielleicht gar mancherorts wieder lahmlegen.

Aber als ich dieses Jahr mit einem privaten Foto (ja, ich müsste auch als Vegetarier wieder abnehmen 😉 ) “von Herzen Chanukka Sameach & frohe Weihnachten” wünschte, gab es dazu kaum noch böse Kommentare.

Jahresend-Lichtergruß-Foto Michael Blume. Familienfotografin: Alexandra Zettel

Das kann natürlich am ersten Erfolg gegen Twitter liegen (vgl. SWR-Bericht). Oder auch einfach daran, dass gerade tatsächlich – inmitten der Klimakrise – auch Gutes zwischen den Religionen geschieht. Idealerweise stimmt sogar beides. 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

9 Kommentare

  1. Neben den Verschwörungsmythen ist es die Gleichgültigkeit gegenüber „Religion“, das die europäische Kultur bedroht.

    Chanukka ist das richtige Zeichen zum richtigen Zeitpunkt. Türkische Familien haben auch schon Gefallen an unserem Weihnachtsbaumkult gefunden, d. h. Die Türen der Verständigung stehen offen.

    Ihnen Erfolg für Ihre Bemühungen, Herr Blume und weiterhin Frohe Festtage.

    • Danke, @lioninoil. Tatsächlich feiern auch immer mehr muslimische, ezidische und nichtreligiöse Mitmenschen das Weihnachtsfest des gregorianischen Kalenders mit. Gestern bekam ich auch erstmals zu hören, dass schon die Osmanen Weihnachtsbäume aufgestellt hätten!

      Ja, etwas passiert hier – und es tendiert zum Licht.

      Ihnen Dank für die konstruktive Blogbegleitung und einen guten Rosch in 2023! 🙏📚🕯️

  2. Ich habe noch nie sonst soviel Lebensfreude erlebt wie auf Chanukka-Partys und zum jüdischen Fasching (Feiertag nach dem Buch Ester in der Bibel) in der jüdischen Gemeinde Chemnitz. Das eine Mal war eine Klezmerband mit Sängerin, Klarinettisten und Pianisten aus Berlin da, das gehört zu den Höhepunkten in meinem Leben und bleibt mir unvergessen. Wie die ganze Gemeinde tanzt, von den 2-jährigen bis zu den Seniorinnen und Senioren, einfach wunderbar. Ich natürlich mittendrin. Beim Fasching trug ich ein Haman-Kostüm, das schien mir passend als lutherischem Christen mit einem Vater, der mal ein begeisterter Hitlerjunge war. Aber gehört halt zum Personal in dieser Geschichte. Sie haben trotzdem mit mir getanzt und es gab den 3. Preis bei der Prämierung der besten Kostüme. Schwierig, schwierig für einen Menschen, dessen Mutter in den letzten Monaten des vorletzten großen Krieges mit 13 mißbraucht wurde. Soviel Tod, soviel Blut, soviel Verzweiflung, soviel Suizide. Aber lebe den Augenblick, freue dich, wenn gefeiert wird, aber wisse, dass auch ganz andere Tage auf diesem Planeten zwischen Menschen immer wieder auftauchen, Gott sei es geklagt! Das mein persönlicher Gewinn aus diesen Kontakten.

    • Danke, @Eberhard Erben.

      Laut einem populären, jüdischen Witz lassen sich jüdische Feiertage grundsätzlich in 3 Etappen einteilen:

      1. Sie haben versucht, uns umzubringen.
      2. Wir haben überlebt.
      3. Lasst uns essen / feiern!

      Dass zunehmend auch nichtjüdische Freund:innen zum Mitfeiern eingeladen sind, lässt sich also nur begrüßen. Und auch laut Gemara wurden Enkel des Haman bedeutende Gelehrte der Thora. 🙂

      Also Danke für Ihren Kommentar und Ihr auch mutiges Engagement für eine bessere, gemeinsame Zukunft!

  3. Hinweis zum Weihnachtsbaum:
    er könnte allen abrahimitischen Religionen (mindestens) gemeinsam sein.
    Er erinnert nämlich an Adam und Eva im Paradies. Die Geschichte Gen. 3 wurde im Elsass szenisch aufgeführt (als Paradeisspiel noch heute in anthroposophischen Einrichtungen üblich). Der 24. 12 ist in allen christlichen Kirchen der Gedenktag von Adam& Eva.
    Die Geschichte und die Frage der “Erbsündenlehre” müsste man dann noch einmal diskutieren, hier sollen drei Hinweise genügen:
    – Martin Luther und Gregor Mendel gehörten dem gleichen Orden an.
    – Imanuel Kant vertritt diese Lehre -Goethe sprach sich dagegen aus.
    – die Freiheit des Menschen bedingt auch die Freiheit zum Bösen, sonst wäre es keine Freiheit.

    • Danke, @Joachim Fischer – freilich ist zum Beispiel die Deutung der verbotenen Frucht als Apfel erst lateinisch und der Tannenbaum 🌲 m.W. elsässisch-deutsch. Im Judentum wird z.B. an eine Etrog-Frucht gedacht, es gibt auch die Deutung als Weizen 🌾 (Übergang zur Landwirtschaft) u.v.m.

      Der Mythos ist weit verbreitet, aber seine regionale und religiöse Ausprägung unglaublich vielgestaltig.

      • Die Deutung der Frucht als Apfel ist schon sehr früh belegbar, denn Äpfel waren im vorderen Orient ein teures Luxusgut. Im Lateinischen ergab sich dann ein Wortspiel (malus -Apfel, aber auch böse) das einer bestimmten Lesart in die Karten spielte. Ich kenne auch die Deutung als Granatapfel. Tatsache aber ist, dass bei der schriftlichen Fixierung dieser Geschichte jede Festlegung auf eine bestimmte Frucht vermeiden wurde. (Die Autoren der sogenannten “jahwistischen Schicht” wussten, was sie taten und der ursprüngliche Sitz im Leben des 1. Buchs Mose war möglicherweise ein Lesebuch für den schulischen Unterricht der angehenden Schreiber und Beamten. )Die Deutung als Weizen wird inzwischen unplausibel.
        Die Geschichte Gen. 3 ist ganz große Erzählkunst, hoch bearbeitet und verdichtet, eher ein Kunstmärchen denn ein Volksmythos, und wie alle großen Kunstwerke vielschichtig. (Ich werde müde und höre auf)

        • Danke, @Joachim Fischer – nicht fürs Aufhören, denn trotz Müdigkeit kommentierten Sie konstruktiv und lesenswert! 👍

          Ihnen gute Erholung und einen guten Rosch ins neue Jahr!

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