Autismus- und Atheismusforschung. Religion zwischen rationaler und sozialer Kognition

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Leserinnen & Leser von “Gott, Gene & Gehirn” und dieses Blogs wissen es schon lange: Immer mehr Befunde aus der Kognitions- und Hirnforschung weisen darauf hin, dass Religion nicht vorwiegend auf rationaler, sondern vor allem auf sozialer Kognition aufbaut.

Schon der studierte Theologe Charles Darwin vermutete die menschliche Veranlagung zur später sog. Theory of Mind -TOM-, im Deutschen als Mentalisierung übersetzt: Wenn wir die Präsenz anderer Akteure annehmen, formulieren wir unvermeidlich auch Annahmen über deren uns betreffende Ansichten. Sowohl psychologische Experimente wie auch bildgebende Verfahren haben dieses Szenario immer wieder bestätigt.



Autismus und Atheismus

Nun war aber aus der Medizin gut bekannt, dass gerade diese sozialen Kognitionen bei Autisten beeinträchtigt sind, wogegen rationale Kognitionen bisweilen sogar überragend funktionieren. Entsprechend sollte Religion bei Autisten deutlich seltener anzutreffen sein.

Am bislang weitesten lehnte sich hierzu Robert McCauley aus dem Fenster, der auch darauf hinwies, dass Autismus sehr viel häufiger bei Männern auftritt – Religiosität aber häufiger bei Frauen.

In der Rezension seines Buches äußerte ich mich dazu noch zurückhaltend, wollte erst noch weitere, empirische Studien sehen. Nun sieht es aber so aus, dass diese vorliegen.



Ara Norenzayan: Religiosität leidet unter Analytik, Autismus geht häufiger mit Atheismus bzw. Agnostizismus einher

In zwei empirischen Studien fand Ara zuletzt die Grundannahmen bestätigt: Probanden gaben niedrigere Einschätzungen ihrer Religiosität ab, wenn sie zuvor analytisch-rational geprimet worden waren.

Und seit gestern ging es über die Ticker, in gleich vier separaten Erhebungen: Autisten tendierten empirisch deutlich stärker zum Nichtglauben als der gesellschaftliche Durchschnitt.

Vorsicht: Korrelation nicht einseitige Kausation!

Dankenswerterweise weisen er & Kollegen aber auch darauf hin, dass keine lineare Kausation behauptet wird. Während eine starke genetische Veranlagung je von Autismus und Religiosität inzwischen als gesichert gilt, sind Wechselwirkungen wahrscheinlich. So ist es z.B. durchaus möglich, dass Menschen weniger soziale Kognition entfalten, weil sie durch einseitige Bildung, Wissenschaft, Technik, Onlinestunden etc. weniger gefördert wird.

Ebenso ist es in meinem Forschungsbereich Religion & Demografie ja nicht nur denkbar, dass weniger sozial orientierte Menschen seltener grosse Familien & Gemeinschaften mitbegründen, sondern dass umgekehrt auch das Leben ohne Kinder & Partner im Haus und ohne Ehrenämter, Gebete etc. soziale Kognitionen weniger trainiert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit interagieren Natur & Kultur auch hier seit langem.



Hypothesen und Beziehungen

Als vorläufiges Fazit lässt sich also festhalten, dass rationales Denken auf belastbare Hypothesen, Religiosität aber auf Beziehungen ausgerichtet erscheinen. Und dass es wohl immer Menschen geben wird, die trotz aller Bemühungen nicht beides nachvollziehen können bzw. das eine mit dem anderen verwechseln. Wir sind halt alle nur Menschen und alle unsere Kognitionen sind beschränkt.

Zum Weiterlesen:

* Christine Hsu, “Autism and the Inability to Mentalize May Diminish Faith and Belief in God”, Medicaldaily 31.05.2012

* Homepage von Ara Norenzayan (mit Studien) 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

133 Kommentare

  1. “Schon der studierte Theologe Charles Darwin”

    Da ich das jetzt schon des öfteren bei Ihnen gelesen habe, kann ich nicht mehr an mich halten. Ich halte diese Formulierung für überflüssig. Das wäre ungefähr so anstrengend, wie wenn man sagen würde: die studierte Physikerin Angela Merkel wird in Moskau als Politikerin hoch geschätzt.

  2. @Dietmar Hilsebein

    Gerade für neue Lesende könnte es interessant zu wissen sein, dass Darwin (auch) Religionsexperte war. Merkt man seinen Ausarbeitungen zur Evolution der Religion auch wohltuend an.

  3. @hilsebein @blume

    Ich dachte wir sind aus den Zeiten, wo einige zwischen Ariern und Juden, Deutschen und Ausländern oder zwischen Männern und Frauen unterscheiden müssen, heraus.

    Warum immer Schwarz-Weiß-Denken? Warum zwischen Theologen und „Wissenschaftlern“ unterscheiden. Es gibt hervorragende Theologen als Naturwissenschaftler und es gibt hervorragende Naturwissenschaftler, die sich auch mit theologischen Fragen auseinander setzen können.

    Was soll der Kinderkram? Haben wir Minderwertigkeitskomplexe, dass wir uns hinter anderen verstecken müssen?

    Ein guter Wissenschaftler hat einfach die besseren Argumente! Nicht die besseren Vorfahren.

  4. “Warum zwischen Theologen und „Wissenschaftlern“ unterscheiden.”

    Weil Theologie nun mal keine Wissenschaft ist und somit Theologen keine Wissenschaftler sind.

    Sie steigern sich rein, Rest wegen Unsachlichkeit gelöscht. Sie müssen mit anderen Kommentatoren oder auch mir nicht einer Meinung sein, sollten sich aber um einen angemessenen Diskussionsstil bemühen. Stichwort: Soziale Kognition. 😉 I.Ü. Sockenpuppen-Verdacht. M.B.

  5. @Herr Blume, zu Darwin

    In Darwins Gesamtwerk (darwin-online.org.uk) lässt sich nichts zur Evolution von Religion finden.
    Woher haben sie diese Information?

  6. @boris blix: Darwin EvoReligion

    Unter anderem, weil ich gerade ein Buch zu dem Thema geschrieben habe, das nächstes Jahr erscheinen soll. 😉

    Ausführlich äußert sich Darwin zur Evolution des Menschen zum Beispiel in seinem zweiten Hauptwerk, der “Abstammung des Menschen”. Wenn Sie wollen, hier ein Vortrag von mir dazu vor einem Kongress europäischer Evolutionsbiologen:
    http://www.scilogs.eu/…gion-at-eseb-2011-lecture

    (Im Kommentarteil dieses Posts werde ich übrigens mal von katholischen Fundamentalisten beschimpft, tja…. 😉 )

    Ehrlich gesagt ist es mir immer ein Stück rätselhaft geblieben, wie sich Leute “Darwinisten” nennen konnten, ohne wenigstens seine beiden Hauptwerke einmal durchgearbeitet zu haben… Ich kann die “Abstammung des Menschen” weiterhin nur jedem an der Evolution des Menschen und seiner Fähigkeiten Interessierten empfehlen!

  7. Verwechselungen

    Als vorläufiges Fazit lässt sich also festhalten, dass rationales Denken auf belastbare Hypothesen, Religiosität aber auf Beziehungen ausgerichtet erschein[t]. Und dass es wohl immer Menschen geben wird, die trotz aller Bemühungen nicht beides nachvollziehen können bzw. das eine mit dem anderen verwechseln.

    Wenn wir hier die Religiösität durch den Glauben ersetzen, den religiösen Glauben nicht ausschließend, dann hat der (agnostische) Konstruktivist in der Tat das Problem nicht zuverlässig unterscheiden zu können.

    MFG
    Dr. Webbaer (der das allerdings als Idealzustand und als Basis des Skeptizismus versteht, ohne bewusst Autist zu sein, lol, die Moderne Wissenschaftlichkeit hat’s auch so implementiert – man darf natürlich gerne auf die oben zitierte karikaturenhafte Sicht bestehen, np)

  8. Fazit braucht Abgrenzung

    Da es die Idee “Atheisten leiden an Autismus” schon länger gibt (vgl. Ehrhard Neubert auf dem ökumenischen Kirchentag 2003: “Der Atheismus ist eine kulturelle Form des Autismus, einer krankhaften Ichbezogenheit.”), braucht die Interpretation dieser Studie eine klare Abgrenzung davon. Man kann sie einfach zu leicht als “empirische Bestätigung” für diese Fehldiagnose missverstehen.

  9. Respekt für den Vergleich!

    Sehr geehrter Herr (Dr.?) Blume,

    ich bin begeistert über den ergründeten Zusammenhang und seiner DARSTELLUNG – als Angehöriger eines Betroffenen kann ich viel damit anfangen.

    Haben Sie vielmals Dank!

  10. Religion und Autismus

    Es gibt ein weites Feld, mit dem sich die Religionswissenschaft befassen kann. „Gott, Gene & Gehirn“ – mittlerweile ist man sich relativ einig: „Columbia/ USA – Schon lange diskutieren Mediziner und Psychologen über die Existenz einer bestimmten Hirnregion, einem soegannnten “Gottes-Areal”, die für die Spiritualität des Menschen verantwortlich sein soll. Eine aktuelle Studie kommt nun zu dem Schluss, dass Spiritualität ein derart komplexes Phänomen sei, dass unterschiedliche Hirnareale gemeinsam für spirituelle Erfahrungen verantwortlich sind – es also den einen “Gottespunkt” im Hirn nicht gibt.“ Es ist also eine Erziehungs- und Bildungsfrage.

    Interessant ist auch, dass sich die Lehrmeister der Sumerer (Aktivitäten im Gilgamesch Epos) aber auch http://de.wikipedia.org/…/Atra%E1%B8%ABasis-Epos mit dem Problem Autismus – ein breites Feld – auseinandergesetzt haben und die Bildungsfähigkeiten auf manchen Gebieten untersuchten.

    Als die Mormonen begannen sich für die ehemaligen Bürger der DDR zu interessieren, Erzählte mir eine Mutter, das ihre Tochter mit Down-Syndrom sich in den Gottesdiensten wohlfühlte. Diese Menschen sind zwar keine Autisten – aber auch genetisch anders.
    Was fand die Religions-Forschung dazu raus?

  11. @Kirchner & @Zerpentin

    Raphael Kirchner, da sprechen Sie mir aus der Seele! Gerade auch “neue Atheisten” haben ja Religion immer wieder als Krankheit denunziert (“Gotteswahn”, “Virus” etc.) und ein bloßes Zurückpendeln wäre m.E. inhaltlich und menschlich unangemessen. Bewusst habe ich deswegen mit der Wertschätzung der menschlichen Vielfalt geschlossen, für die ja sowohl rationale wie soziale Kognitionen unverzichtbar sind. In einem der letzten Blogposts hatte ich ja auch darum geworben, auch den “Nutzen des Unglaubens” stärker zu erforschen. Lebendige Religion kann m.E. von rationaler Religionskritik sehr profitieren.

    @Th. Zerpentin
    Vielen Dank für Ihre freundliche Rückmeldung! Es freut mich sehr, dass Ihnen dieser Blog etwas gibt.

  12. @Deistung & @Webbaer

    Klaus Deistung, die entsprechenden Studien stehen noch ganz am Anfang. Doch lässt sich wohl schon sagen, dass verschiedene, je eher emotional-soziale oder rituell-durchorganisierte Gemeinschaftstraditionen Menschen mit korrespondierenden Veranlagungen ganz unterschiedlich ansprechen können. Man denke auch an die klassischen Unterscheidungen zwischen “Orthodoxien” und “Orthopraxien”.

    @Webbär

    Vielleicht bietet der graduelle Panpsychismus neue Antworten? 😉

  13. @boris blix

    In der Abstammung des Menschen von Charles R. Darwin Kapitel 3 heißt es:

    „… Wir haben keine Beweise dafür, daß dem Menschen von seinem Ursprünge an der veredelnde Glaube an die Existenz eines allmächtigen Gottes eigen war. Im Gegenteil sind reichliche Zeugnisse, nicht von
    flüchtigen Reisenden, sondern von Männern, welche lange unter Wilden gelebt haben, beigebracht worden,
    daß zahlreiche Rassen existiert haben und noch existieren, welche keine Idee eines Gottes oder mehrerer
    Götter, und keine Worte in ihren Sprachen haben, um eine solche Idee auszudrücken74. Natürlich ist diese
    Frage völlig verschieden von der höheren, ob ein Schöpfer und Regierer des Weltalls existiert; und diese ist
    von einigen der größten Geister, welche je gelebt haben, bejahend beantwortet worden.
    Wenn wir jedoch unter “Religion” den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte mitverstehen, so liegt
    der Fall völlig anders; denn dieser Glaube scheint bei den weniger zivilisierten Rassen ganz allgemein zu
    sein. …“

    „… Die Neigung der Wilden, sich einzubilden, daß natürliche Dinge und Kräfte durch geistige oder lebende
    Wesen belebt seien, wird vielleicht durch eine kleine Tatsache illustriert, welche ich einmal beobachtet habe.
    Mein Hund, ein völlig erwachsenes und sehr aufmerksames Tier, lag an einem heißen und stillen Tage auf
    dem Rasen; nicht weit von ihm bewegte ein leiser Luftzug dann und wann einen offenen Sonnenschirm,
    welchen der Hund völlig unbeachtet gelassen haben würde, wenn irgend jemand dabeigestanden hätte. So
    aber knurrte und bellte der Hund wütend jedesmal, wenn sich der Sonnenschirm leicht bewegte. Ich meine,
    er muß rasch und unbewußterweise bei sich überlegt haben, daß Bewegung ohne sichtbare Ursache die
    Gegenwart irgend eines fremdartigen, lebendigen Bewegers andeute, und kein Fremder ein Recht habe, auf
    seinem Territorium zu sein. …“

    Ich denke, dies spiegelt seine Meinung wieder.

  14. @Peter

    Ich unterscheide möglichst sauber zwischen dem Menschen, seiner Meinung und seiner Zugehörigkeit zu einer Religion oder einer Berufsgruppe.

    Ob die Theologien Wissenschaften sind, hängt davon ab ob man sie als eigenständig forschend oder als Methodenpool mit Spezialgebiet Bibel sehen möchte. Die Interpretation der Schriften, die Theologen vorher als „Wort Gottes“ verfasst haben, ist mit Sicherheit kontrovers zu diskutieren.

    Theologen sind aber als Menschen durchaus in der Lage, ihren Verstand zu gebrauchen und gute Wissenschaft – auch Naturwissenschaft – zu betreiben.
    Gute Naturwissenschaftler brauchen aber auch keine Ratschläge von Theologen, wie sie ihre Ergebnisse moralisch oder ethisch zu bewerten haben. Dies können sie selber am besten entscheiden.

  15. @ Michael Blume

    Danke, ich hätte nicht gedacht, dass die Themen noch so am Anfang stehen.
    Wie ist es mit den Homosexuellen? Ich weiß, dass es etwa 4% der Männer sein sollen. Zur Hochzeit der Griechen können es eher mehr gewesen sein. Es gab auch eine Umfrage vor Jahren – wenn man es medizinisch ändern könnte – würden sie es annehmen? Es wurde sehr deutlich abgelehnt.

  16. @ C.C.

    Das Beispiel mit dem Hund finde ich auch gut beobachtet. Hunde spüren u. a. – ohne Sichtkontakt – wenn Herrchen/Frauchen nach Hause kommt.
    Und so ist es nicht verwunderlich, wenn sie bei Nahtoderlebnissen auch eine Rolle spielen können, wenn sie verstorben waren.
    Die Kombination Theologe/Wissenschaftler wurde schon mehrfach erwähnt. Dazu gibt es auch ein interessantes Buch: E. Roloff: „Göttliche Geistesblitze“ – http://www.science-shop.de/…98-845a-a643e4c2114f .

    So war es auch vor 115 Jahren, als der Reverend und Ingenieur Burrel Cannon ein Fluggerät konstruierte und baute: http://www.hiddenmysteries.org/…/vol4/ezek.shtml Da will die Schulwissenschaft (noch) nicht ran: https://scilogs.spektrum.de/…oid_aus_gold#comment-6154 letzte Zeilen.
    Aber aus der Geschichte kommt Hilfe: Dr. H. Burgard: Encheduanna, Geheime Offenbarungen. „Alle bisher bearbeiteten Textteile sind derart aussagekräftig und in sich abgestimmt, dass ihr Inhalt vor mehr als 4.300 Jahren von Encheduanna nicht erfunden worden sein kann.“ Es geht um Fluggeräte, Funkverbindungen… http://www.amazon.de/product-reviews/3943565033

  17. @Klaus Deistung

    Nun, es gibt einerseits bereits Unmengen an Daten und Befunden, die im Bezug auf die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religion noch gar nicht vernetzt und diskutiert sind sowie auch viele noch zu klärende Fragen. Die Autismus-Spur wird z.B. bereits seit Jahren diskutiert, aber erst die aktuellen, empirischen Studien haben Skeptiker (wie mich 😉 ) überzeugen können. Und werfen natürlich gleich wieder neue Fragen auf, über die zu berichten ich gerne versuchen werde.

    Wissenschaft ist und bleibt ein offener, nicht endender Prozess. Trauen Sie besser keinem/r, der oder die behaupten, auf alle Fragen schon endgültige Antworten zu haben…

  18. Eine ganz andere Frage

    … und vielleicht ab vom Schuß:

    Warum sollen belastbare Hypothesen nicht auf Beziehungen ausgerichtet sein können?

    Warum soll eine Wissenschaft nicht auch integrativ sein können? Ich halte das nämlich für den Königsweg – und der wird in den Naturwissenschaften ja schon beschritten, in gewissen Geisteswissenschaften kämpfe ich grad mit den dagegen gerichteten Vorurteilen…

  19. @Noit Atiga: “Integrative Wissenschaft”

    Für fundierte, neue Ideen bin ich gerne offen, aber kann mir unter dem Begriff der “integrativen Wissenschaft” und Verbindungen von Hypothesen & Beziehungen noch nichts Genaueres vorstellen. Würden Sie mir/uns noch ein paar Erläuterungen dazu schenken? Vielen Dank!

  20. Mein Gedanke ist eine Fortführung der bie der Diskussion unter Der Nutzen des Unglaubens – Wer forscht mit? ausgeführen.

    Wenn ich von der Prämisse ausgehe, dass wir Menschen sozial sind, dass unser Gehirn auf das Verständnis des Menschen angelegt ist – dann ist Glauben eine Weiterentwicklung des zwischenmenschlichen Verständnisses.

    Dieses intersubjektive Verständnis kann nun entweder mit dem Vertrauen auf eine übernatürliche Entität besetzt werden – das ist die heutige Religion. Oder es kann mit dem Glauben an Zwischenmenschliches besetzt werden, an Beziehungen. Und warum sollte die Wissenschaft nicht auch Beziehungen untersuchen können?

    Bisher untersuchen wir immer Phänomene, die wir möglichst gut isolieren. Aber die Quantenphysik zeigt uns ja, dass es solche Isolation eigentlich nicht gibt, dass alles auf Wechselwirkung beruht. Warum sollte das nicht generell so sein? In der Chemie scheint es ja zu stimmen. Und in der Soziologie sieht man den Menschen teilweise schon jetzt nur als einen Teil, als ein “Neuron” wie Jean-Pol Martin es für die Schule bezeichnet hat (insofern beruht mein Gedanke hier auch auf der Diskussion bei Christian Spannagel, Gastbeitrag: Von Visionären und Praktikern).

    Und die Metapher kann vielleicht auch den integrativen Ansatz verdeutlichen: Wir können ein Neuron isoliert studieren – aber wir erfahren dann nicht viel über dieses Neuron, allenfalls Basics. Viel wichtiger sind die Verbindungen zu anderen Neuronen. Mir scheint es beim Menschen genauso zu sein – und dann könnten und müssten (um ihren letzten Absatz im Blogbeitrag zu zitieren) belastbare Hypothesen auf Beziehungen ausgerichtet sein.

    Dass wir es noch nicht können, das liegt dann nur an unserem beschränkten Kenntnissen. Wenn wir es könnten würden sich aber Mystik und Wissenschaft (zumindest prinzipiell) annähern. Und mir scheint das als Programm einer integrativen Wissenschaft ganz hilfreich.

  21. spekulativ

    Dieser Satz scheint mir sehr wichtig:
    “Vorsicht: Korrelation nicht einseitige Kausation!”
    Herausbildung von Weltanschauungen scheint mir ein zu komplexer Vorgang als dass man de Ursache einseitig nur in den Hirnstrukturen suchen könnte. Letztlich beeinflusst das Erlernte und Erlebte auch die Hirnstruktur.
    Ich spekuliere: Auch Weltanschauungen als “Software” des menschlichen Gehirns bilden sich nach Evolutionsgesetzen heraus. -Und das, was der Einzelne zu leben bereit ist, ist mehr mit der Chaostheorie(Strukturbildung im Chaos) beschreibbar. 😉

  22. @ Michael Blume

    Das lässt sich nachvollziehen – eine Menge Arbeit.

    Was Sie zur Wissenschaft sagen – das kann ich nur unterstreichen. Da gibt es Autoren, die kennen die letzten Geheimnisse der Pyramiden, andere wissen, dass es keine Ufos geben kann…
    Dabei ist es doch gerade die Schulwissenschaft, die endgültige Wahrheiten auch hier in den Blöggen verkündet:
    – Ufos finden im Hirn statt, 10/08 – neu pro-Ufo am 2./3./6.12: http://www.n24.de/news/newsitem_7969904.html mit Video: Secret Access: UFOs on the Record
    Autoren, die außerirdisches Leben auf der Erde unterstützen, können beleidigt werden „Lilith und Lolth“:
    – unqualifizierte Pseudowissenschaftler wie Sitchin oder Däniken
    – Sitchin … und der ist/war nachweisslich inkompetent – das ist (noch) wissenschaftskonform!
    – Geheimnisvolle Sonnenkorona, 01/10: da wird ein Zitat völlig falsch ausgewertet und trotz mehrfacher Hinweise – keine Korrektur!
    – Da erfindet ein Astronom ein Zitat, dass eigentlich nicht geschrieben wurde: Öffentliche Wissenschaft und Sonnenstürme. 2012 Keine Panik von Florian Freistetter – 03/12.
    Wenn keine Argumente mehr da sind – wird es nicht nur unsachlich, es wird auch gelöscht.
    Und dabei heißt es: „Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten!“

    Religion ist eigentlich eine gute Sache – aber sie wurde und wird vielseitig im Machtkampf missbraucht. Und High-Tech-Informationen in den Heiligen Schriften…?
    Die Quellen der Geschichte der Religion – ich glaube eher, dass man sich da (noch) raus hält. Dabei gibt es auch im Gilgamesch Epos eindeutige Hinweise.

  23. @Michael Blume: Ergänzung zur Hypothese

    Zur obigen Hypothese passen aus meiner Sicht auch die Erkenntnisse der meisten Geisteswissenschaften, etwa der Psychologie oder der Psychogenealogie, deren “Grande Dame” Trota von Berlin unter dem Titel Vier kleine Freuden pro Tag und eine Spritze Zufall vorgestellt hat (Die dort verlinkten Interviews waren mir auch eine Freude.).

    Und wenn ich das ausweite, dann könnte sich die Korrelation als zweibahnige Kausalität herausstellen: Einerseits liegt Autisten die aktuelle Wissenschaft recht gut, denn sie verzichtet weitestgehend auf das Soziale. Und andererseits entwickeln Wissenschaftler einen gewissen Autismus (Darwin ist ja nach Selbstzeugnissen ein gutes Beispiel). Aber irgendwie fehlte dann immer etwas Beziehung.

    Und dann könnte die wissenschaftliche Erkenntnis, die wir bisher hatten doch ein Konstrukt sein – während die “Wirklichkeit” auf Beziehung ausgerichtet ist (nach Ihrer Rezesion auch im Sinne von Patrick Späth, den ich aber erst noch lesen muss).

  24. @B.Ch.

    M.E könnte es sich durchaus lohnen, Ihre Gedankenspiele (klingt etwas angemessener als “Spekulationen” 😉 ) weiter zu vertiefen. So könnte der Blogpost zur Wechselwirkung biologischer und kultureller Evolution für Sie interessant sein:
    https://scilogs.spektrum.de/…2/biokulturelle-evolution

    Auch i.S. Chaostheorie gibt es Überlegungen vor allem aus dem Bereich der evolutionären Erkenntnistheorie und Spieltheorie. Der Biomathematiker Marin Nowak (Harvard) könnte z.B. für Sie interessant zu lesen sein. Wir leben in einem Zeitalter der Entdeckungen…

  25. @Noit Atiga

    Es freut mich sehr, dass (auch) dieser Blog so zum Nach- und Weiterdenken anregt. Und, ja, einige Parallelen zwischen Ihren Überlegungen und Patrick Spät sind mir auch aufgefallen – bin gespannt, wie Ihnen sein Buch gefällt. Zugleich sehe ich aber weiterhin zu lösende Probleme: So ist es m.E. etwas qualitativ anderes, eine Liebes- oder auch Gottesbeziehung wissenschaftlich zu erforschen oder selbst zu (er-)leben. Ob es überhaupt möglich und sinnvoll ist, diese Perspektiven zusammen zu bringen, wage ich noch nicht zu beurteilen, zumal z.B. asiatische Traditionen dazu manchmal andere Perspektiven einnehmen als die griechisch-empirische Analysetechnik. In der Religionswissenschaft dreh(t)en sich die Debatten um die “Religionsphänomenologie” immer wieder um diese Frage(n).

    Bitte lassen Sie mich/uns wissen, wenn Ihre Überlegungen in diesen Fragen Fortschritte gemacht bzw. Sie etwas dazu veröffentlicht haben. Ich bin ehrlich gespannt!

  26. Analytisches Denken und Faith

    Dieser Artikel will Atheisten und Autisten in ein Körbchen stecken und im andern Körbchen sind Gläubige und Gemeinschaftsorientierte. Das ist tendenziös (biased wie man in den USA gern sagt).

    Letztlich kursierte eine Studie mit einer ganz ähnlichen Fragestellung, nämlich dem Verhältnis von analytischem Denken zur Glaubensbereitschaft und sie kam zum – für mich erwarteten Resultat – dass analytisches Denken die Glaubensbereitschaft untergräbt. Nur schon wer Dinge kritisch zu hinterfragen beginnt, ist weniger bereit Übernatürliches anzunhemen.
    Im Artikel Was den Glauben bröckeln lässt wird das schön dargestellt.

    Man muss sich etwas bewusst sein:
    1) Religion als Bereitschaft zum unkritischen Glauben steht inhärent im Gegensatz zur Moderne und zum analytischen Denken.
    2) Der Erfolg der Moderne verdanken wir der Wissenschaft und Technik. Nur vor diesem Hintergrund ist die zunehmende Bedeutung der Menschenrechte verständlich.
    3) Die Moderne ersetzt die vielen religiösen Gemeinschaften durch die Gemeinschaft aller an den Fortschritt glaubenden, sie ersetzt Hoffnung ins Übernatürliche durch Hoffnung ins Hier und Jetzt.

  27. @Noït Atiga

    »Warum soll eine Wissenschaft nicht auch integrativ sein können? «

    Ihre näheren Erläuterungen zu dieser Frage gehen in eine etwas andere Richtung, als ich zunächst vermutet habe. Ich dachte, Sie wollten darauf hinaus, dass schon das Menschheitsprojekt “Wissenschaft” eine immense integrative Kraft besitzt. Wissenschaftler aus aller Welt arbeiten zusammen und tauschen sich aus, um die Welt zu erklären. Die Bevölkerungsexplosion der letzten 300 Jahre verdankt sich nicht den Religionen oder der evolutionären Fitness der Religiösen, sondern allein den Wissenschaften. In den Lehrbüchern der Physik, Chemie und Biologie finden sich in allen Teilen der Welt dieselben Fakten. Den von den Wissenschaften formulierten “Naturgesetzen” kann sich absolut keiner entziehen.

    Wissenschaft ist das integrative Kulturprojekt schlechthin. Das beste und sozialste, was die Menschheit bislang hervorgebracht hat (dicht gefolgt von der Demokratie ;-).

  28. @Martin Holzherr

    Der Ihrerseits angeführte Artikel zu Analytik & Religion stammt ebenfalls von Ara Norenzayan und ist oben im Blogpost ausdrücklich erwähnt und verlinkt. Dachten Sie, ich würde das nicht wissen oder bewusst unterschlagen?

    Ist es nicht interessant, dass es auch uns Akademikern offenkundig schwerfällt, Texte ohne Erregung zu lesen und zu kommentieren, wenn wir befürchten, sie bedrohten unsere jeweilige Weltanschauung? Wir sind halt nicht nur rationale, sondern auch emotionale und soziale Wesen…

  29. @Blume:Gemeinschaft der Wissensschaftler

    Auch Wissenschaftler bilden eine Art Glaubensgemeinschaft, nur ist der Gegenstand ihres Glaubens nicht ein Ding, eine Person oder etwas Übernatürliches, sondern die Methode mit der man die Welt erkundet. Sie verarbeiten Erfahrungen aber ähnlich wie Religionsgläubige, indem sie sich nämlich durch Erfolge bestätigt fühlen. Die analytische Methode zusammen mit dem systematischen Vorgehen bei Untersuchungen und Experimenten führt zu sichtbaren Fortschritten, die ihren Niederschlag nicht nur in papers, sondern auch in der Reproduzierbarkeit ihrer Arbeiten findet.
    Die an einen Gott oder an Übernatürliches Glaubenden suchen ebenfalls nach Bestätigung, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Die einzige Möglichkeit, die diesen klassisch Gläubigen aber offensteht, ist eine immer stärker wirkende Selbstüberzeugung, ein immer stärkerer Glaube, eine überwältigende Autosuggestion, denn die Realität bestätigt den Glauben eher selten.

    Dass Wissenschaftler tendenziell Autisten seien ist ein Klischee und kann nur sehr beschränkt zutreffen, schliesslich müssen sie [die Wissenschaftler] andere Wissenschaftler von ihrer Arbeit mindestens so weit überzeugen, dass die anderen ihre Arbeiten lesen und damit arbeiten.
    Wenn schon, müsste man sagen, dass Autismus nicht von vornherein ein Ausschlusskriterium für einen Wissenschaftler ist, denn Wissenschaftler sind von Natur aus neugierige Wesen und urteilen ohne Ansehen der Person. Wenn ein Autist etwas Gutes leistet als Wissenschaftler ist er ein guter Wissenschaftler, auch wenn er sonst was weiss ich ist.

    Emotionen, Absichten und soziale Faktoren spielen überall eine Rolle wo Menschen nicht völlig allein im stillen Kämmerlein arbeiten. In der Forschung ist die Zusammenarbeit heute die Regel und das vor sich hinbrüten zwar immer noch möglich, aber die Ausnahme.

    Überhaupt haben viele Dinge, die man dem Glauben und der Religion zuschreibt, eine universelle Bedeutung. Dazu gehören Rituale, bedeutungsvolle Meetings (bei den religiösen Messen genannt), das sich Vergewissern, das Überzeugen aufgrund des selbst überzeugt seins und die stille Übereinstimmung. Das hat Alain Botton sehr richtig erkannt und diese Erkenntnis in seinem Buch Religion for Atheists dargelegt.
    Warum ist gerade Alain de Botton prädestiniert für eine solche Einsicht? Das erscheint mir offensichtlich. Er hatte bereits atheistische Eltern wurde atheistisch erzogen und hat sich dann in Richtung Alltags-Philosophie, Lebenshilfe entwickelt. Weil für ihn Atheismus keine Antihaltung gegen einen früheren Glauben ist – denn er hat keinen früheren Glauben – kann er viel unvoreingenommener als vom Glauben abfallende auch die positiven Seiten eines Glaubens und von Glaubenspraktiken erkennen.
    Alain de Botton scheint mir auch ein gutes Beispiel für einen Atheisten, der sehr weit weg ist von Autismus.

    Autisten mögen weniger glaubensbereit sein, doch umgekehrt bedeutet eine weniger starke Glaubensbereitschaft nicht eine Tendenz hin zum Autismus.

    Interessant finde ich auch, dass die Abnahme der allgemeinen Religiosität mit dem stärksten Bevölkerungswachstum, das es in der Menschheitsgeschichte je gab, einhergeht. Nicht weil weniger Religiöse mehr Kinder hätten, sondern weil die weniger religiösen Wissenschaftler, Techniker und Industriearbeiter des 20. Jahrhunderts eine Kultur entwickelt haben, welche die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse nutzt, um das menschliche Leben humaner, weniger von äusseren Krisen und Hungersnöten bestimmt und länger zu machen.

  30. @Balanus: Volle Zustimmung

    Sehr gut zusammengefasst und sehr gut formuliert. Auch den abschliessenden Sätzen kann ich nur zustimmen:
    “Wissenschaft ist das integrative Kulturprojekt schlechthin. Das beste und sozialste, was die Menschheit bislang hervorgebracht hat (dicht gefolgt von der Demokratie ;-).”

  31. @Martin Holzherr

    Ihren Ausführungen kann ich viel abgewinnen, aber in einigen Aspekten sind sie mir doch zu polar gedacht.

    So findet sich die Aussage, dass Wissenschaftler per se Autisten wären, weder bei Ara Norenzayan noch bei mir oder sonst einem Kollegen oder einer Kollegin der Kognitions- und Evolutionsforschung. Ebenso gab und gibt es eine Unmenge auch religiöser Wissenschaftler – nehmen wir einfach Mendel, De Chardin, LeMaitre oder derzeit Harrald Lesch als bekanntere Beispiele. Ich erinnere hier gerne auch noch einmal an das hervorragende “Göttliche Geistesblitze” von Roloff:
    https://scilogs.spektrum.de/…chichte-von-eckart-roloff

    Die Begeisterung für Wissenschaft teilen wir (und @Balanus wohl auch). Aber ganz so ungebrochen stellt sich die Geschichte “der weniger religiösen Wissenschaftler” halt auch nicht dar. Eugenik, Sozialdarwinismen und die (pseudo-)wissenschaftlichen Lehren der Sozialisten wurden und werden zur Rechtfertigung unfassbarer Grausamkeiten heran gezogen. Alle freiheitlichen Gesellschaften haben zu Religionsfreiheit und religiöser Vielfalt zurück gefunden – die eine, perfekte Weltanschauung hat sich nirgendwo eingestellt.

    Sowohl Theismen wie Atheismen haben Gutes und Schlechtes hervorgebracht. Mir imponieren eigentlich nicht diejenigen, die nur die je eigene Religion oder Weltanschauung “reinwaschen” wollen, sondern eher diejenigen, die sich auch den dunklen Aspekten der je eigenen Geschichte stellen, bereit sind, auch von Andersdenkenden und -glaubenden zu lernen und so eine friedlichere Zukunft in Vielfalt und Respekt zu gestalten. Eine solche Gesellschaft wird die Würde und Freiheiten der Menschen und ihre Wissenschaften und Religionen achten.

  32. @Balanus & @Holzherr: Menschlichkeit

    Wissenschaft ist das integrative Kulturprojekt schlechthin. Das beste und sozialste, was die Menschheit bislang hervorgebracht hat (dicht gefolgt von der Demokratie ;-).

    Dem kann ich selbst als Wissenschaftler nicht wirklich zustimmen. Ganz abgesehen von der Frage, ob Demokratie wirklich eine so soziale Erfindung ist. Mit Feyerabend (Erkenntnis für freie Menschen zweifle ich daran gehörig: Mir schiene eine Gesellschaftsform viel besser, die – wie es Michael Blume ausdrückt – bereit ist, “auch von Andersdenkenden und -glaubenden zu lernen und so eine friedlichere Zukunft in Vielfalt und Respekt zu gestalten”. Und das ist mehr, als (unsere) Demokratien leisten.

    Insofern ist mir auch die Wissenschaft nicht wirklich friedlich – und schon gleich gar nicht sozial. Sie ist es noch in großem Maße innerhalb der Disziplinen, aber schon über Disziplingrenzen hinweg bleibt vom Frieden nicht mehr soviel übrig. Doch – und insofern hat unsere aktuell gelebte Wissenschaft wenig menschliches an sich – wie ist es denn mit der Achtung von Nichtwissenschaftlern? Deren Einwürfe qualifizieren wir doch oft als unqualifiziert und deswegen unbeachtlich ab. Und (soweit wir nicht selbst Gläubige sind) werden Glaubensfragen als unwissenschaftlich und damit untergeordnet abgetan.

    Und genau da, an dieser Spaltung setzt meine Vorstellung einer wirklich integrativen Wissenschaft an. Warum sollen die Erkenntnisse des Glaubens so falsch sein, nur weil man sie nicht beweisen kann? Warum sollen nicht gerade sie uns helfen können hin zur Erkenntnis? Warum soll nicht gerade die Betonung von Beziehung – statt Isolation von Phänomenen – sinnvoll sein? Warum soll es so undenkbar sein, dass unsere Wissenschaft nicht sogar auf dem Holzweg ist? Warum soll eine Relativitätstheorie für Alles nicht existieren können – und dann kommt es eben (fast nur) auf Beziehungen an?

    Dass jedenfalls die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen heute ein Holzweg ist, das zeigt sich ja am verstärkten Auftreten von Burn-out etc. – das ist ein systemisches Problem, kein individuelles. Auch wenn unsere heutige Gesellschaft es als individuelles Versagen (oder Versagen der Unternehmen) darstellen muss, um ihren Glauben zu verteidigen. Es gibt eben viele, viele Dinge, die wir mit wissenschaftlicher Isolation nicht begreifen können, vermutlich sogar wegen dieses Isolationsprinzips. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Isolation nicht vorübergehend sinnvoll war, denn als Ganzes hätten wir nicht gleichermaßen schnell Wissen angehäuft. Obgleich ich mich manchmal frage, ob das nicht sogar besser gewesen wäre…

  33. @Noït Atiga: Systemzwänge

    Was sie an Fehlentwicklungen beklagen (z.B. Burn-Out, Fachidiotentum, Ignoranz und Ächtung anderere Gruppierungen und Lebenseinstellungen) bezeichnet man allgemein als Systemzwänge. Immer mehr Leute fühlen sich im Hamsterrad gefangen. Das hat mit Wissenschaft und Technisierung aber nur am Rande zu tun. Viel stärker ist der Einfluss einer allgemeinen Ökonomisierung, die auch den privaten Bereich erfasst hat, wo man von Self-Branding/Self-Labeling und Selbstvermarktung spricht. Gerade deshalb gibt es z.B. Gegenbegriffe wie Slow Living .

    Wie sieht denn ein Lebensentwurf mit Schwerpunkt in Wissenschaft, Industrie oder Verwaltung aus? Ich behaupte überall gelten inzwischen sehr ähnliche (Hamsterrad-)Regeln und eine detaillierte Karriereplanung gehört fast zwangsläufig dazu.

    Das Problem liegt also in der Entwicklungsrichtung, die unsere Gesellschaft eingeschlagen hat. Der Hang zum Individualismus, den unsere Gesellschaft über eine lange Zeit entwickelte wurde instrumentalisiert zur individuellen Karriereplanung, mit dem Endeffekt, dass am Schluss nur noch die gewählten Details individuell sind, das System aber überall das gleiche ist.

    Das könnte sich ändern, wenn es weniger Lohnabhängige gäbe und mehr Leute ihren frei gewählten Projekten nachgehen könnten. Etwas was uns vielleicht noch bevorsteht.

  34. @Martin Holzherr: Systemzwänge

    Ich stimme dem voll und ganz – es geht um Systemzwänge. Und es liegt an der Dominanz der Ökonomie.

    Aber: Warum kann die Ökonomie dominieren? Warum dominiert sie derart im Westen? Warum gibt es Burn-Out nicht gleichermaßen in Asien? Oder im armen Afrika? Warum leben die Menschen dort überall ohne diese Probleme – obwohl ihr Leben eigentlich härter ist?

    Und alle diese Fragen kann die genannte (gewiss provokative) Hypothese beantworten: Umso mehr sich wissenschaftliches Denken im westlichen Sinne entwickelt hat, umso mehr hat man die Beziehungen vergessen. Und damit eines der wichtigsten Elemente der Natur.

    Es ist unser Glaube an die wissenschaftliche Vernunft, an die Existenz einer besten und richtigen Lösung, der der Ökonomie die Dominanz ermöglicht. Und dazu gibt es auch ein rein ökonomisches Argument: Japan müsste nach den üblichen Theorien längst pleite sein – und doch funktioniert die Wirtschaft dort mit einer Staatsverschuldung, deren Hälfte in Europa zur Katastrophe wird. Es liegt am dortigen Glauben, denn der lässt keiner Wissenschaft die Chance zur Dominanz.

    Yin und Yang – Gegensätze sind zwar da, doch beide gehören dazu. Auch zwischen der Isolation und der Einheit besteht ein Gegensatz, und beides ist nötig: Man muss sich von etwas trennen, um es erkennen zu können – aber man muss sich auch wieder damit vereinen, um die Differenz zu transzendieren. Und das wäre dann die Frage der Integration – isolierte Phänomene existieren nur in der Beziehung zueinander.

  35. Science is the best?

    Ich stimme Noit Atiga voll zu, dass neben dem wissenschaftlichen Weg auch noch andere Erfahrungsformen zu einem besseren sozialen und humanen Leben führen können. Technische Innovationen und bessere medizinische Versorgung sind noch nicht Garanten für ein erfülltes und friedliches Leben. Jahrtausendelang haben Menschen auch ohne Wissenschaft gut funktionierende Gemeinschaften gebildet, indem z.B. Rituale, Mythen, symbolische Denkformen das Miteinander von Mensch-Mensch und Mensch-Natur geregelt haben. Darüber wurden wir in den letzten Jahrzehnten nicht von Biologen und Physikern aufgeklärt, sondern von Geisteswissenschaflern (Ethnologen z.B.)
    Ausserdem funktioniert unser ganz normales soziales Zusammensein nicht nach wissenschaftlicher Empirie, sondern in einem Wechselspiel von menschlichen Erfahrungen: Gefühle, Intuitionen, Phantasie, Empathie spielen hier eine mindestens so grosse Rolle wie Logik, Messwerte und analystischer Verstand.
    Ich plädiere auch ganz entschieden dafür, nicht EINE menschliche Diskurs- oder Erfahrungsform absolut zu setzen, sondern das gesamte Spektrum zu berücksichtigen.
    Es kann sonst schnell ein neuer Imperialismus entstehen. Eine Dorfgemeinschaft im ländlichen China, Afrika oder Indien weiss nichts von Quantenphysik, Nanooptik oder Molekularbiologie, aber hat sehr wohl viele Instrumente bereit, um die Fragen von Leben und Tod zu meistern. Von denen können wir manchmal ebensoviel lernen wie von Darwin undf Einstein.

  36. Huch

    Und genau da, an dieser Spaltung setzt meine Vorstellung einer wirklich integrativen Wissenschaft an. Warum sollen die Erkenntnisse des Glaubens so falsch sein, nur weil man sie nicht beweisen kann? Warum sollen nicht gerade sie uns helfen können hin zur Erkenntnis? Warum soll nicht gerade die Betonung von Beziehung – statt Isolation von Phänomenen – sinnvoll sein? Warum soll es so undenkbar sein, dass unsere Wissenschaft nicht sogar auf dem Holzweg ist? Warum soll eine Relativitätstheorie für Alles nicht existieren können – und dann kommt es eben (fast nur) auf Beziehungen an? (Noït Atiga)

    … da kommt ja alles raus.

    Gefühlswissenschaft und Wissenschaft orientiert am Machtbezogenen gab es schon, und gibt es noch. Vielleicht orientiert sich der Wünschende einfach um, gerne auch auf den Standort bezogen?

    So-oetwas kann Michael Blume ja nicht gemeint haben, oder?
    Die in etwa so verlautbare Autistenthese – ‘Als vorläufiges Fazit lässt sich also festhalten, dass rationales Denken auf belastbare Hypothesen, Religiosität aber auf Beziehungen ausgerichtet erschein[t]. Und dass es wohl immer Menschen geben wird, die trotz aller Bemühungen nicht beides nachvollziehen können bzw. das eine mit dem anderen verwechseln.’ – lässt aber auch nichts Gutes erahnen, fürwahr!

    MFG
    Dr. Webbaer

  37. @Webbaer: “Gutes erahnen”

    Kann es sein, dass auch Sie selbst gerade (bewusst?) über (Ihre) Gefühle kommentiert haben? Inwiefern ist denn “Gutes” eine streng wissenschaftliche Kategorie und “erahnen” ein streng wissenschaftlicher Erkenntnisprozess? Zeigt sich da etwa auch hinter der Dr. Webbaer-Maske ein Mensch mit Emotion? 😉

    Also: Ich find’s sympathisch! 🙂

  38. Individuum Gesellschaft wichtig

    Rationales, analytisches Denken auf der einen Seite und soziales, glaubensgeleitetes Denken auf der anderen Seite ist für Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft keine Alternative.

    Wichtiger ist der gesellschaftliche Konsens gegenüber grundlegenden Fragen des Zusammenlebens. Stark religiös geprägte Gemeinschaften durchbrechen diesen Konsens sehr oft und stellen eine Art Gegenwelt dar.

    Heute las ich zum Beispiel in einem Interview mit einem Soziologen, der eine internationale Studie zur Zukunft der Famile verfasst hat: “Zwei Erwachsene, die sich um ein Kind kümmern? Das ist ineffizient” Darin wird die Kinderkrippenbetreung als neuer Normal-/Regelfall behandelt und dies ist ja in Skandinavien bereits so.

    Hinter dem Denken – das ist ineffizient – steckt schon ein rationales Argument. Vor allem aber ist es ein ökonomisches Argument. Wer rational denken kann und zu analytischen Denken neigt, muss deswegen noch lange nicht sein ganzes Leben zweckrational organisieren. Doch heutige Gesellschaftslösungen neigen zu dieser Zweckrationalität.

    Relgionsgemeinschaften dagegen haben oft ganz andere Gesetze und leben nach anderen Grundsätzen.

  39. @Martin Holzherr:

    Für Menschen sehe ich beides auch nicht als Alternative.

    Mir ging es nur darum, dass wir uns in der Wissenschaft zunehmend als Alternative zum Glauben verstehen – ohne uns dabei bewusst zu sein, dass genau das erneut ein Glaube ist. Mir ging es daher auch nicht um die Integration irgendeiner Glaubensrichtung, sondern vielmehr um die Frage, ob unsere Wissenschaftsreligion noch angemessen ist…

    Zum Zitat: Ich kenne den Soziologen nicht, doch je nach Lesart ist “Das ist ineffizient” – rational isolierend oder gläubig integrierend.

    Soweit man auf die finanziellen Kosten für die Gesellschaft schaut, soweit reduziert man es rational auf ökonomische Argumente. Schaut man aber auf die Beziehungsentwicklung, dann integriert man Glaubensfragen. Dann geht es nämlich darum, ob wir Menschen eher als Individuum oder als Gruppenteil aufgezogen werden sollen.

    Fast alle Religionen haben das Letztere betont – die Rationalität, jedenfalls die ökonomische, betont eher das Erstere. Wissenschaft selbst kann den letzten Teil derzeit nur sehr schwer bis gar nicht fassen, allenfalls werden die Auswirkungen auf das Individuum studiert.

    Aber selbst bei diesen Auswertungen zeigt sich, dass sich ein Individuum umso besser entwickelt, je zahlreicher seine Bezugspersonen sind – solange es ein/zwei sichere Grundbindungen hat. Und das ist unter dem Verständnis des Menschen als Sozialwesen auch stimmig – jeder ist anders und je mehr Andere ich kennen lerne, je vielfältiger meine Beziehungen sind – desto komplexer werde ich als Selbst.

    Dass das bei Kindern viel besser klappt, das ist klar – denn die Kleinen haben ihren eigenen ganz persönlichen Pädagogen im Kopf. Und der lässt immer nur das rein, was auch Platz hat – und was zur Systembildung beiträgt. Ein System mit nur zwei Bezugspersonen ist also für das Kind ineffizient – es wird mit allen anderen Bezugspersonen später Probleme haben, denn seine Norm, sein Weltbild ist unflexibel.

    Auf anderer Ebene wurde das schon immer kommuniziert: Reisen bildet(e) – solange man sich eben immer wieder in neue Denkweisen einlesen muss(te).

    Und wenn ich das nun zurückbinde zur Wissenschaft, dann ist Isolation auch hier ineffizient…

  40. @Martin Holzherr

    Eine Nachfrage: Wenn Ihnen individuelle Freiheitsrechte so wichtig sind, was spricht dann gegen den Entscheid von Individuen, sich zu Familienformen oder Religionsgemeinschaften nach eigenem Gusto zusammen zu schließen? Ist ein staatlich oder ökonomisch erzwungener Individualismus denn noch wirklich Freiheit?

    Auch schrieben Sie: Wichtiger ist der gesellschaftliche Konsens gegenüber grundlegenden Fragen des Zusammenlebens. Stark religiös geprägte Gemeinschaften durchbrechen diesen Konsens sehr oft und stellen eine Art Gegenwelt dar.

    Dagegen frage ich – solange das friedlich bleibt, wo ist das Problem? Gerade (!) aus evolutionärer Sicht ist doch Variation zu begrüssen. Und es wäre auch für die gesellschaftliche Entwicklung furchtbar, wenn alle nur noch in die gleiche Richtung marschieren. Man mag friedliche Gemeinschaften wie die Amish, Hutterer, Shaker usw. persönlich gut finden oder nicht – mir ist eine religiös, weltanschaulich und kulturell vielfältige und widerständige Gesellschaft lieber als ein grauer Einheitsbrei aus durchökonomisierten Klonen, die weder mehr frei denken noch frei glauben dürfen. Wobei ich da keine allzu großen Befürchtungen habe: Die ökonomisch orientierten Individualisten nehmen sich ja mangels Kindern selbst aus der biologischen und kulturellen Evolution und bieten also nach heutigem Wissensstand ganz sicher nicht “das” Zukunftsmodell…

    Kurz: Wer Ja zur Evolution sagt kann m.E. nicht Nein zu Freiheit & Vielfalt sagen.

  41. Emotionen

    Einen Menschen mit klarem autistischen Hintergrund kenne ich nicht, Menschen mit Behinderung schon. Sie können sehr emotional reagieren. In der Wissenschaft ist es wohl kaum anders.

    Wie wird Niels Bohr reagiert haben als ihm nach langem Forschen klar war, dass sein Atommodell stimmig ist?
    W. v. Braun wird wohl bei der Explosion der ersten A 4 ein deutlich anderes Gesicht gemacht haben, als es beim geglückten Start der Fall war – und erst, als die erste Rakete den Mond erreichte.
    Nur ein Pokerface „darf“ keine Emotionen zeigen – sonst kann es auch anders sein.

  42. Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!

    @Michael Blume

    Wer Ja zur Evolution sagt kann m.E. nicht Nein zu Freiheit & Vielfalt sagen.

    Das sehe ich genauso und wünschte, die Prophezeiung zu den egoistischen Ökonomen würde wahr…

    @Klaus Deistung: Es scheint mir einen Unterschied zwischen Emotionen und Beziehungen zu geben. Autisten sind zu sehr starken Emotionen fähig, ja sie können geradezu ausrasten – bei menschlichem Kontakt. Sie können die Intention in der Annäherung nicht bzw. schlecht deuten und reagieren dann wie bei einem Angriff. Allerdings kann das wohl zumindest teilweise mit Willem korrigiert werden. (Es gibt eine Wissenschaftlerin, die das für sich durch ständiges Rennen gegen eine Tür korrigiert hat – denn mit Menschen kann man es kaum lernen, schließlich reagieren die dann auf den Schreck der Autisten negativ und verstärken damit oft das Problem.)

  43. @Klaus Deistung

    Nur ein kleiner Hinweis: Selbstverständlich haben auch Autisten Emotionen, bisweilen auch sehr starke. Probleme bestehen im Bereich der “sozialen Kognition”, nicht von Emotionen generell.

    Und dass gerade auch bei sich selbst als rational verstehenden Menschen Emotionen eine große und da verdrängt oft sogar besonders mächtige Rolle spielt kann ich Ihnen aus dem Wissenschaftsbetrieb voll bestätigen!

    Man denke nur an die derzeit tobenden Schlachten zwischen (überwiegend nichtreligiösen) Evolutionsbiologen über die Frage der Verwandten- und Gruppenselektion, die über öffentliche, heftige und auch persönlich-polemische Attacken ausgetragen werden:
    http://www.thisviewoflife.com/…ensus-of-the-many

    Da kann mir keiner erzählen, da ginge es alles nur rein rational, kollegial und fair zu… 😉

  44. Körbchen

    @ Martin Holzherr: „Dieser Artikel will Atheisten und Autisten in ein Körbchen stecken…“
    Da frage ich mich, wie weit sind denn Autisten in der Lage, Religion zu „begreifen“ zu leben? Die Stufen des Autismus sind verschieden – also auch ihre Möglichkeiten.
    Ein Pfarrer hat mal gesagt, dass er seine Aufgabe mehr als Seelsorger versteht – ob er damit bei seine Vorgesetzten gut angekommen ist, weiß ich nicht.
    „Mein“ Pfarrer hat gesagt: „Mein Sohn, die Jugendweihe ist eine Sünde.“ Bei anderen war sie es nicht. Auch eine Form von Emotionen. Die Bibel sagt: Lk 18,16 Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Lasset die Kinder zu mir kommen. Ob er in Konflikte geriet?

  45. @ Noït Atiga

    Wenn ich an Autisten denke, sehe ich zunächst ihr Spezialgebiet, das ja öfter in den Medien gezeigt wird. Sie machen mir aber auch andere Informationen bewusst – das Problem das Eltern mit autistischen Kindern haben (und umgekehrt).
    Auch wurde mal ein autistisches Paar in Australien gezeigt, die mit festen Regeln relativ gut zurecht kamen – in Abgeschiedenheit.

  46. Wissenschaft und Rezipienz

    @Blume

    Inwiefern ist denn “Gutes” eine streng wissenschaftliche Kategorie und “erahnen” ein streng wissenschaftlicher Erkenntnisprozess?

    Klar kann das sein, die Moderne Wissenschaft ist ja “nur” eine Methode, sie ist nicht frei in der Forschung und bedient die Rezipienz. In D hat man den demokratischen Prozess dbzgl. ja recht ausgefeilt – http://www.faz.net/…ft-ist-bedroht-11497511.html – und ringt um ihr Fortkommen.

    Wissenschaftler, die in ihren Vorträgen veruschen ihre Person ganz herauszunehmen, sind Dr. W unsympathisch. – In anderen Sprachräumen, bspw. im anglikanischen Raum, hat man hier wenig Probleme. Sie selbst tragen ja auch dankenswerterweise als Mensch vor.

    Aber das mit der Autismustheorie dürfen Sie gerne stecken lassen, das ist eine unzulässig einfache Sicht.

    MFG
    Dr. Webbaer

  47. @Webbär: Autismustheorie

    Nun, ich war ja selber skeptisch, obwohl zahlreiche weitere Befunde ja schon in diesen Richtung gezeigt haben – nun ist der Autismus-Atheismus(Agnostizismismu)-Zusammenhang gleich mehrfach empirisch aufgezeigt worden. Die entsprechenden Originalquellen sind alle verlinkt.

    Ich kann verstehen, dass manchen manche wissenschaftlichen Befunde unangenehm sind – mir selbst geht es manchmal auch selbst so. Wir können uns entscheiden, uns mit ihnen konstruktiv auseinander zu setzen oder sie erst gar nicht lesen. Allerdings bringt es nichts, diese dann “wegdrücken” zu wollen. Klappt eh nicht mehr, gerade in Zeiten des Internets. 😉

    Was Wissenschaft & Persönlichkeit angeht, sind wir uns aber einig – wobei ich mich persönlich kenntlich mache, Sie sich hinter Anonymität und gedrechselten Formulierungen verstecken. Aber das ist m.E. okay, solange Sie den Blog konstruktiv begleiten.

  48. @Michael Blume: Patrick Spät

    Spät am Abend war gestern Programm – und so will ich kurz auf Ihre Frage von oben antworten, eine längere Antwort werde ich aber – wie von Ihnen angeregt – in eine ausführlichere Darstellung meiner Gedanken integrieren.

    Ich finde Spät sehr anregend, denn er zeichnet eine völlig andere Perspektive und geht von einigen der Beobachtungen aus, die auch mich ins Zweifeln gebracht haben. Allerdings scheint mir seine Theorie doch nur eine andere, keine vollständigere Perspektive zu sein, pontiert formuliert: Er will die Zumutung des Materiellen durch die Zumutung des Geist(staub)es ersetzen. Damit wird aus meiner Sicht die Diskussion aber nicht verbessert und entsteht eigentlich nichts neues.

    Gerade im Hinblick auf die hier diskutierte Frage nach Autismus und Religiosität kann er nicht viel beitragen – denn warum sollte der doch eigentlich überall vorhandene Geist(staub) dort nicht wirken?

    Ein anderes Problem habe ich mit der Einfachheit seiner Analogien – wir wissen ja jetzt schon, dass es nicht nur um Ebenen geht, sondern um komplexere Beziehungen. Daher kann ich gerade manche Kritik an bestehenden Ansätzen nicht ganz nachvollziehen, ja sie scheint mir sogar teils im Widerspruch zu seiner eigenen Theorie.

    Und zuletzt: Ich glaube, dass das Hauptproblem bei der Erklärung von Geist in unserem fehlenden Verständnis der ganzen Zwischenstufen liegt – wir wissen ja nicht einmal was Leben ist. Insofern könnte nämlich die von ihm zugestandene schwache Emergenz durchaus auch die Erklärung für Geist sein: So wie Wasser etwas ganz anderes als H + O ist, so ähnlich stelle ich mir das auch beim Geist vor – über viele kleine, diskrete Zwischenstufen, also nur scheinbar als Kontinuum…

    Und dann könnte bei Autisten nur eine letzte Stufe unterentwickelt sein – die damit aber direkteren Zugang zu den Vorgängern dieser Stufe zulässt und diesen Vorgängerinhalt auch weniger bearbeitet abspeichert, denn unser Gedächtnis beruht ja wie bei einem RAM-Speicher auf ständiger unbewusster Wiederholung – soweit die letzte Stufe vorhanden ist, wird es dabei immer mehr komprimiert und daher auch umgeformt. Während es bei Autisten dann nur identisch gefestigt würden…

  49. politische Wissenschaft

    Ich kann verstehen, dass manchen manche wissenschaftlichen Befunde unangenehm sind – mir selbst geht es manchmal auch selbst so. Wir können uns entscheiden, uns mit ihnen konstruktiv auseinander zu setzen oder sie erst gar nicht lesen.

    Sie haben sicherlich auch begriffen, dass die Wissenschaft anthropogen ist und die Erkenntnisse zu einem beträchtlichen Teil der Rezipienz geschuldet – und dementsprechend finanziert. Man spricht denn auch nicht unzutreffenderweise von Konstrukten mit einem gewissen Nutzen und einer gewissen Provisorienhaftigkeit.

    Selbst die “harten” (Natur-)Wissenschaften wie die Physik haben sich nun in wichtigen öffentlich stark beobachteten Aussagen und zudem interdisziplinär mehr und mehr ins “Weiche” verschoben, gerade auch wenn sei prognostisch und auf hoch komplexe Großsysteme bezogen unterwegs sind.

    Sofern Sie zustimmen können, stände das dann aber im Gegensatz zum im Elfenbeinturm sitzenden wissenschaftlich tätigen “Autisten”, den es demzufolge immer weniger gibt.

    Der Glauben unterscheidet sich vom Wissen (im Sinne der Wissenschaften) nur durch die Methode. – Die natürlich nicht geringgeschätzt werden soll, in der Anwendung gelangt das Wissen dann auch oft zur Geltung, np, aber die Unterschiede sind philosophisch betrachtet nicht so-o groß.

    MFG
    Dr. Webbaer (der sich aber schon von NA “ein wenig” absetzen möchte)

  50. @ Michael Blume – Tobende Schlachten

    Dazu habe ich mich mit den 6000-Jahre-Erde-Kreationisten befasst. Sie waren mal auf dem Markt um zu werben – auf ein Gespräch wollten sie sich nicht einlassen.
    Es gibt auch welche, die um 15.000 Jahre angeben. Dazu hatte ich mal eine Kollegin. Von ihrer „Bibel“, die sie mir zur Info gab, hatte ich 2 Kapitel kommentiert – sie sprach nicht mehr mit mir darüber, nervte aber andere, mit denen ich dann wieder redete.
    Das hatte mich veranlasst, darüber einen Beitrag zu schreiben: Kreationismus und seine Varianten gegen die Evolution. Magazin 2000plus, Alte Kulturen 3/248 – 2007, S. 14 – 27.

    Emotionen, Presse heute: „Die Bilder von hasserfüllten Hooligan-Gesichtern wie beim Pokalspiel…“ sind gewisse Ängste zur WM.
    Zum Grundthema: Ein Autist könnte wohl in kurzer Zeit die Bibel auswendig lernen – ohne je etwas davon zu verstehen!?

  51. Austismus

    Ein Autist könnte wohl in kurzer Zeit die Bibel auswendig lernen – ohne je etwas davon zu verstehen!?

    Die verstehen schon. Wenn auch anders als Sie, und dieser Schreiber ebenfalls anders als Sie.

    Autismus ist ja meist in milderer Form anzutreffen, als unzureichend ausgeprägte Persönlichkeit, Dr. W kennt sogar zwei, beide mobil, einer wurde lange Zeit nicht als Autist erkannt.

    Vgl. auch hiermit:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Temple_Grandin

    Die abgemilderte Stufe nennt sich “Asperger”, davon gibt’s ziemlich viele, auch unter Bloggern.

    MFG
    Dr. Webbaer

  52. @ Dr. Webbaer

    Bei dem Autist – der die Bibel auswendig lernen könnte – dachte ich an den Mann, der ganze Telefonbücher auswendig lernt, aber für die täglichen Dinge eine Hilfe benötigt – TV-Beitrag und Film. Es gibt in allen Bereichen von schwarz bis weiß (eine Zusammensetzung aus den Grundfarben) eine Palette. Wir wissen auch – der Dr.-Titel kann zum Prof. führen – oder auch aberkannt werden.
    Allgemein betrachtet müssten die Autisten (bestimmte Bereiche) ja auch zu den Menschen mit Behinderung zählen?

    Bibel „anders“ verstehen – die Grundlagen liegen weiter zurück als allgemein bekannt. Da gibt es im Gilgamesch Epos und dem Enuma Elisch Hintergründe – und da kommen u. a. auch die Hoch-Technologie-Informationen her. Dr. Burgard schreibt in seinem Buch: s. o. @ C.C. – 03.06.2012, 19:23 einen Grundsatz.
    An einer anderen Stelle heißt es bei ihm: „Encheduanna beschreibt vielmehr z.B. in Bezug auf Nanna, dass dies ein Dingir war, der mit einem „schwebenden Schiff“ zum Firmament aufstieg, dessen Leuchten zur Mittagszeit „mit der Sonne rivalisierte“.“ Und so werden dann auch die Grundlagen der Arbeit des Reverenden und Ingenieurs Burrel Cannon verständlich http://www.altereddimensions.net/…ellCannon.aspx , die es schulwissenschaftlich eigentlich nicht geben darf – was mit Löschung eines meiner Kommentare unterstrichen wurde; da dann sein Folgekommentar keinen Bezug mehr hatte – hat er ihn auch gelöscht.
    MfG
    K. Deistung

  53. @Rüdiger Sünner

    »Jahrtausendelang haben Menschen auch ohne Wissenschaft gut funktionierende Gemeinschaften gebildet, indem z.B. Rituale, Mythen, symbolische Denkformen das Miteinander von Mensch-Mensch und Mensch-Natur geregelt haben.«

    Die Gemeinschaften mögen funktioniert haben, aber zu welchem Preis?

    Dabei denke ich noch nicht mal an die zum Teil grausamen Rituale, sondern an die immens hohe Kindersterblichkeit. Über tausende von Jahren hinweg kam es zu keiner nennenswerten Zunahme der globalen Bevölkerung. Erst mit dem Beginn des Siegeszuges der Wissenschaft vor rund 300 Jahren konnte die Menschheit weltweit wachsen. Noch in der Zeit von 1760-1849 starben in Finnland laut diverser Kirchenbücher 40% der Kinder vor dem Erreichen der Reproduktionsfähigkeit (Courtiol A et al. (2012) PNAS 109(21), 8044-8049). Auf diese Art der Regelung des Miteinanders von Mensch und Natur kann man gerne verzichten.

  54. Autist mit Behinderung?

    Okay, wenn hier irgendjemand mitliest, der mich persönlich kennt, dann kann er mich anhand meines Nachnamens und der nun folgenden Jahreszahlen eindeutig identifizieren. Sowas mag ich eher nicht, aber ich kann es weiß Gott noch weniger leiden, wenn jede Abweichung von der “Norm” pauschal als “behindert” oder “krankhaft” abgestempelt wird.

    Bei mir wurde Anfang 1982 im Alter von 10 Jahren (ich hatte in der 4. Klasse erhebliche Schulprobleme) “frühkindlicher Autismus” diagnostiziert. (Das war damals wohl genauso eine “Modekrankheit” wie heute ADHS) Nach einem verschwendeten Jahr in einem Landeskrankenhaus haben meine Eltern mir von der zweiten Hälfte der 5. bis zur 8. Klasse den Besuch einer Privat-Realschule ermöglicht und den Lehrern eingeschärft “der Junge ist wissensdurstig, neugierig, intelligent und lernwillig, aber er darf auf garkeinen Fall unter Druck gesetzt werden!” In der 8. meinte mein Mathelehrer (ja, Mathe und Naturwissenschaften sind mein “Spezialgebiet”) daß ich unterfordert war und auf ein Gymnasium wechseln sollte – letztlich bin ich zur 9. Klasse auf einen stinknormalen städtischen Gymnasium gelandet, wo ich manchen Lehrer mit meiner strikten Weigerung, schriftliche Hausaufgaben zu machen, zur Weisglut getrieben und 1991 mit einem Schnitt von 2,9 mein Abi gemacht habe. Die in NRW erlaubten fünf “Unterkurse” habe ich dabei voll ausgeschöpft: drei 5en in Deutsch und zwei in Englisch, weil ich mich beim Analysieren von Gedichten und Geschichten grundsätzlich nur auf das bezogen habe, was schwarz auf weiß dastand und nie auf das, was andere “zwischen den Zeilen” vermuteten. Mein Diplom in Physik habe ich 1997 gemacht (unter Physikern habe ich mich immer wohl gefühlt, die sind alle auf die gleiche Art “abnormal” wie ich ;-]) heute repariere ich Computer, bin verheiratet und Vater 2er Kinder. In meiner skeptischen Weltsicht bin ich nahe bei Descartes: als ich das erste Mal von seiner Spekulation las, daß all unsere Sinneseindrücke nur Projektionen eines gehässigen, verlogenen Dämons sein könnten (ein Konzept, auf dem letztlich auch die “Matrix”-Filme basieren) und jeder letztlich nur der Existenz seines eigenen denkenden, zweifelnden “Ich” sicher sein kann, erinnerte ich mich an eine der langen Fahrten von zuhause zum Landeskrankenhaus, auf der ich beim Blick auf die vorbeiziehende Landschaft genau die gleichen Gedanken hatte: existiert das da draußen eigentlich alles wirklich, oder wird das nur abgespult, damit die Fahrt lang genug dauert?

    Den Kontakt zur evangelischen Kirche habe ich aber nie ganz verloren, (mein 6jähriger hat sich letztes Jahr im KiGo taufen lassen und meine 2jährige konnte schon “Kirche” sagen, bevor sie laufen konnte) und Atheismus war für mich (jenseits vom methodischen “ein Experiment muß auch dann reproduzierbare Ergebnisse liefern, wenn Gott sich überhaupt nicht einmischt”-Agnostizismus) nie eine Option: die meisten Atheisten (insbesondere solche, die sich “Humanisten” nennen) sind schrecklich inkonsequent und ignorieren die Erkenntnisse von Max Stirner, Friedrich Nietzsche und Ayn Rand: wenn es nichts göttliches außer uns selbst gibt, kann es keine Ethik geben außer dem gesunden Eigennutz. Die Menschen, die in einer solchen gottlosen Welt eine egoistische Gesellschaft aufbauen könnten, nennt Nietzsche “Übermensch”.

    Auf diesen “Übermensch” wurde in der Literatur wiederholt Bezug genommen, sei es beim “Seewolf” von Jack London oder in der Fernsehserie “Andromeda” nach Motiven von Gene Roddenberry.

    Ich bin nicht Wolf Larsen. Ich bin auch nicht Tyr Anasazi. Ich bin nichtmal John Galt. Ich bin nicht für eine gottlose Welt geschaffen, deswegen lebe ich lieber in einer Welt, in der Gott eine Rolle spielt, und in der ich Grund zu der Hoffnung habe, meinen 1992 verstorbenen Vater eines Tages wiederzusehen und mit ihm über seine Enkel zu reden, die er nie kennenlernen durfte.

    Was ist mein Fazit?
    1. trotz autistischer Tendenzen kann ich konsistent und ohne Widersprüche die Menschheit als Produkt der Evolution, meine Frau als ein Wunder und meine Kinder als Geschenke Gottes ansehen. 🙂
    2. zur Evolution gehört zwingend dazu, daß “abnormale” Individuen neue ökologische Nischen erschließen. Erst das “Survival of the Misfits” ermöglicht, daß sich Affen auch dort ausbreiten, wo es keine Bäume gibt. “Abweichungen von der Norm” sollten daher nicht grundsätzlich mit “Behinderungen” gleichgesetzt werden.
    3. jeder sollte selbst entscheiden, in was für einer Welt er leben will – aber dabei nach Möglichkeit realistisch bleiben.

    John Lennon war kein Realist.
    “Imagine there’s no heaven
    It’s easy if you try
    No hell below us
    Above us only sky
    Imagine all the people living for today

    Imagine there’s no countries
    It isn’t hard to do
    Nothing to punish crimes
    And no religion too
    Imagine all the roughnecks
    plundering and raping”

  55. Syndrome & Gesellschaft

    (…) weil ich mich beim Analysieren von Gedichten und Geschichten grundsätzlich nur auf das bezogen habe, was schwarz auf weiß dastand und nie auf das, was andere “zwischen den Zeilen” vermuteten.

    Nicht unwitzig, dabei besteht doch gerade der Kick im Kunstwesen darin zu vermuten, was heutzutage aus einem Werk herausgelesen wird, dabei auch immer die Ansprüche der Prüfenden antizipierend.

    Warum Sie sich der Schriftarbeit verweigert haben, erklärt sich so aber noch nicht.

    Aber egal, sicherlich sind “Asperger”, ADHS, Burn-Out wie Hundehusten Modekrankheiten, die mehr über die Gesellschaft aussagen als über die angeblich Kranken.

    MFG
    Dr. Webbaer (der “eigentlich” beim hiesigen Inhalteträger davon ausgeht, dass er das alles weiß)

  56. Grausamkeit

    @Balanus
    Auch wenn die Kindersterblichkeit abgenommen hat: unsere Welt ist um keinen Deut weniger grausam als die Welten, die noch kein explizit wissenschaftliches Weltbild kannten. Und wenn Grausamkeit erfolgreich bekämpft und eingedämmt werden kann, so auch nicht in erster Linie durch Naturwissenschaft. Sondern vielleicht durch Steigerung von Empathie, Toleranz, Hinhören, Sensibilität, Einfühlungsvermögen in das Andere und den Anderen, Dialogfähigkeit etc. Dazu haben Philosophen, Psychologen, Ethnologen, Künstler, Schriftsteller, Musiker mindestens soviel beigetragen wie Chemiker, Biologen, Astronomen und Physiker. Und tragen auch heute noch dazu bei: auch Sozialarbeiter, Lehrer, Therapeuten, Seelsorger, die ihre Fähigkeiten durch alles andere als ein naturwissenschaftliches Studium erworben haben.

  57. @Störk: Danke für Ihre Offenheit!

    Vielen Dank für Ihren Kommentar, in dem ich jeden Satz unterstreichen kann! Und ich kann auch nur unterstützen, wozu ich ja auch neulich ein Buchkapitel veröffentlicht hatte: Die Vielfalt hat uns Menschen so weit gebracht und auch Menschen mit vermeintlichen “Behinderungen” haben unsere Art mit voran gebracht und tun es noch:
    https://scilogs.spektrum.de/…er-evolution-des-menschen

    Und aus dem Forschungsbereich vielleicht auch interessant für Sie: Auch unter den stark autistisch geprägten Menschen fanden sich laut Norenzayan et al. einige religiöse Menschen. Eine jüdische Freundin machte mich darauf aufmerksam, dass einige Autisten auch z.B. in der Systematik und rituellen Gliederung der jüdischen Orthodoxie aufgingen.

    Und ohne die Gelegenheit gehabt zu haben, Sie einmal persönlich kennen zu lernen, darf ich feststellen: Sie haben sich hier auf dem Blog schon mehrfach durch sehr durchdachte Kommentare ausgezeichnet. Wenn Sie schreiben, hat es Hand und Fuss. Und das kann man wirklich nicht immer und von allen Naturwissenschaftlern behaupten, die sich zu Religion(en) äußern… 😉

    Also, von Vater zu Vater 🙂 : Ich freue mich, dass Sie sich immer wieder mal Zeit für diesen Blog nehmen und sich hier einbringen! Und zwar genau so, wie Sie mit Ihren Gaben sind!

  58. @Rüdiger Sünner

    Ich denke schon, dass der zivilisatorische Fortschritt mit der aufgeklärten wissenschaftlichen Neugier einhergegangen ist.

    Ich wüsste nichts, was weltweit so verbindend wirkt, wie die Frage nach der wahren Natur der Dinge und Erscheinungen, die Frage nach unserer Herkunft und die Frage nach dem, wie es weitergeht. Hier wird in einer gigantischen Unternehmung fortlaufend neues Wissen über die Welt und unsere Existenz zusammengetragen.

    Philosophen, Psychologen, Ethnologen, Künstler, Schriftsteller, Musiker, Sozialarbeiter, Lehrer, Therapeuten, Seelsorger und was es sonst noch alles gibt, alle können von diesem im Laufe der Jahrtausende erworbenen Wissen profitieren.

    Dass es letztlich immer auf den einzelnen Menschen ankommt, ist unbestritten. Wissenschaftler nicht sind per se bessere Menschen und es gab ja auch grausige und verbrecherische Experimente. Aber immerhin ist es unter Wissenschaftlern absolut unüblich, neue wissenschaftliche Erkenntnisse per Waffengewalt (oder durch eine erhöhte Geburtenrate ;-)) zu verbreiten.

    Jedenfalls haben zur Erfüllung des Bibelworts “Seid fruchtbar und mehret Euch!” die Wissenschaften beigetragen als irgendwelche Glaubenslehren, so dass wir heute mit Recht sagen können: Mission accomplished.

  59. @Störk: Danke

    Danke für Ihre ausführliche und bewegende Schilderung. Ich habe darauf nochmal meinen Post gelesen und muss mich für die Formulierung dort bei Ihnen entschuldigen: Andersartigkeit wäre richtig gewesen.

    Bewusst bin ich nämlich ganz bei Ihnen und wollte keine Entwicklungsform abwerten – wir brauchen alle Entwicklungen und alle Ansichten haben ihr Gutes und vieles hängt mit der jeweiligen Erfahrung zusammen. Und gerade persönlich habe ich das Wichtigste von Jenen gelernt, die nicht der Norm entsprachen. Aber leider hatte ich nicht das Glück, Ihre Eltern zu haben…

    @Rüdiger Sünner & @Balanus
    Was den Einfluss von Wissenschaft auf die Menschlichkeit einer Gesellschaft angeht, so bin ich eher bei Rüdiger Sünner denn bei Balanus. Wissenschaft ist im Westen eine Eliteangelegenheit und verbindet nur diese. Maik Riecken hatte das hier sehr treffend formuliert: “Ich halte die Aufklärung als Beispiel für eine gelungen umgesetzte Vision für schwierig: Was hatte die größte Bevölkerungsgruppe (je nach Land Bauern oder schon Arbeiter) konkret von der Aufklärung?” Und das gilt aus meiner Sicht auch für die Wissenschaft als Ganzes.

    Und die Verbindung zu den Ausführungen von Störk – so scheint mir – verstärkt das noch: Unser wissenschaftlicher Anspruch führt uns doch ganz oft dazu, auf Andere nicht gleichermaßen “Intelligente” herabzuschauen, ob nun heute lebende oder Menschen aus früheren Epochen. Ich erlebe das leider immer wieder auch unter Kollegen, wenn diese Erklärungen oder krude Fragen ebenso als Last empfinden wie die Fehler von sich anstrengenden Studierenden. Dabei könnten wir doch gerade dadurch lernen – denn dieses andere Verständnis ist ja auch möglich. Warum sollte unser gewohntes denn soviel besser sein?

    Und gerade im Schnittpunkt zum Glauben wurde (auch durch Michael Blume) ja empirisch nachgewiesen, dass Glaube dem Menschen sogar mehr dient als die Wissenschaft. Burn-out & Co. kannten Gläubige früher nicht – trotz ihrer materiell deutlich schlechteren Lage…

  60. @ Störk

    “wenn es nichts göttliches außer uns selbst gibt, kann es keine Ethik geben außer dem gesunden Eigennutz. Die Menschen, die in einer solchen gottlosen Welt eine egoistische Gesellschaft aufbauen könnten, nennt Nietzsche ‘Übermensch’.”

    Das kann man so nicht stehen lassen. Wenn Ethik auf Mitgefühl basiert, ist sie möglich. (vgl. barmherziger Samariter)
    In diesem Gleichnis fragt der Samariter nicht danach, was Gott will, sondern “es jammerte ihn”. Doch anders als beim bloßen Mitleid, blieb ihm die Handlungsfähigkeit erhalten.
    Der Begriff ‘Übermensch’ ist bei Nietzsche vielschichtig. Da schwingt Selbstüberwindung, Freigeist mit hinein. Ein Freibrief für einen kalten Egoismus ist das sicher nicht.

  61. Gott – Wissenschaft

    @ Störk
    „…Gott eine Rolle spielt, und in der ich Grund zu der Hoffnung habe, meinen 1992 verstorbenen Vater eines Tages wiederzusehen…“ aus der Nahtod-Forschung ergibt sich seit über 35 Jahren, dass eine Begegnung der verstorbenen Selen(?) stattfindet – da spielt es keine Rolle ob es ein Theist oder Atheist war.

    @ Rüdiger Sünner, @ Noït Atiga
    Grausamkeiten… Ich denke nicht, dass die Wissenschaft primär daran Schuld ist.
    Das Problem: Gott Geld zieht heute mehr als Gott der Herr. Und wenn die Polizei die Rockerclubs untersucht und dann ihre Mitglieder den Familien der Polizisten drohen, kommt das wohl klar zum Ausdruck.
    Immer wieder gibt es Fälle, wo bei Ärztefusch die Versicherung einspringen sollte, es wird endlos in die Länge gezogen (FS-Berichte), selbst wenn alle Gutachten für den Patienten sprechen.

  62. @Klaus Deistung: Gott & Wissenschaft

    Ich würde nie behaupten, dass Wissenschaft für Grausamkeiten primäre Schuld hätte – aber ich glaue auch, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir meinen sie hätte unser Leben grundlegend verbessert. Insofern kommt es immer auf den Bezugspunkt an – für einige Zeiten in der Geschichte gewiss, für andere eher weniger.

    Bedeutsam scheint mir aber doch, dass die Orientierung auf EINE richtige Antwort mehr Teil des Problems denn der Lösung ist, ob nun in der Wissenschaft oder im Glauben oder zwischen ihnen. Denn dann müssen Vertreter verschiedener Überzeugungen so lange streiten (ob nun blutig oder unblutig) bis einer gesiegt hat. Es geht also immer ums Siegen über andere, ums gesiegt haben.

    Daher scheint mir diejenigen Überzeugungen sinnvoll, die intrinsisch auf die eigene Verbesserung des Überzeugten ausgerichtet sind – die also niemanden bekehren wollen, sondern aus ihrer Ruhe heraus überzeugen. Denen es also mehr ums Siegen über sich selbst geht, um das Leben in der Entwicklung. Die asiatischen Philosophien gehen in diese Richtung, denn dort gilt mit Konfuzius: “Wenn du einen Würdigen siehst, dann trachte ihm nachzueifern. Wenn du einen Unwürdigen siehst, dann prüfe dich in deinem Innern!”

    Nur wie passt das zu unserer Wissenschaft? Für Teile davon meine ich Anzeichen von Wegweisern gefunden zu haben – doch der Weg dahin ist für mich noch weit.

  63. @ Noït Atiga

    „…ich glaue auch, dass wir es uns zu einfach machen…“ In Ihrer weiteren Aussage stimme ich Ihnen natürlich zu. Wissenschaft half im Auftrag der Politik z. B. die Atomwaffen zu entwickeln…, die dann zum politischen Selbstläufer wurden und von den Wissenschaftlern nicht mehr gestoppt werden konnten. Chemische Waffen… – alles um politisch Andersgläubige (fast zweideutig) Menschen zu töten, zumindest kampfunfähig zu machen.
    „… aus ihrer Ruhe heraus überzeugen…“ – in Glaubensdingen kann ich da nur zeitweise mitgehen. Der 30-jährige Krieg war eine Rückeroberung der katholischen Einflusssphären. Woanders wird von heiligen Kriegen geredet – es sind einfach Machtkämpfe. Der Vatikan hat immer noch Probleme mit der jüdischen aber auch mit der evangelischen Religion.
    Die 6000-Jahre-Erde-Kreationisten treten auch recht eindeutig mit Prozessen in den USA gegen die Evolution auf. Es ist nirgendwo einfach – auch nicht mit den Grundlagen der Religionsgeschichte!

  64. @Noït Atiga

    »Ich würde nie behaupten, dass Wissenschaft für Grausamkeiten primäre Schuld hätte – aber ich glaube auch, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir meinen sie hätte unser Leben grundlegend verbessert.«

    Wenn ich von ‘Wissenschaft’ rede, habe ich in erster Linie ein Prinzip im Sinn, eine bestimmt Art des Wissenserwerbs. Diese Art Urwissenschaft begleitet die Menschheit seit Adam und Eva (im Grunde war es wissenschaftliche Neugier, die zur Vertreibung aus dem Paradies führte). Von Anbeginn an hat der Mensch versucht, seine Lebensumstände zu verbessern (Feuer, Jagdwaffen, Ackerbau und Viehzucht, Erfindung des Rades, usw.). Die moderne Wissenschaft unterscheidet sich von der Urwissenschaft vor allem durch die Perfektionierung der Methoden. Wissenschaft ist im Grunde wertfrei, es ist auch niemand gezwungen, immer Neues zu erforschen. Man könnte einen einmal erreichten Stand auch einfach nur beibehalten, wie das wohl für etliche rezente Jäger- und Sammlervölker gilt. Es kommt halt auch auf die äußeren Umstände an, inwieweit Menschen dazu angetrieben werden, ihrer Lebenssituation durch neues Wissen zu verbessern.

  65. Balanus’ Urwissenschaft

    “Die moderne Wissenschaft unterscheidet sich von der Urwissenschaft vor allem durch die Perfektionierung der Methoden.”
    Abgesehen mal vom komischen Wort “Urwissenschaft”: diese Aussage ist falsch.
    Die “Wissenschaft” der frühen Kulturen ist immer eingebunden in einen spirituellen und animistischen Kontext, genauso wie ähnliche Aktivitäten heutiger Naturvölker oder indigener Kulturen. Genau dieses Band hat der moderne Wissenschaftsbegriff gekappt, weshalb wir heute in so einem Spaltungsdenken (Wissenschaft-Religion, rational-spirituell etc.) leben. Es ist nicht die Perfektionierung der Methoden, sondern eine grundlegend neue Methode, die den Himmel von Göttern und die Natur von Geistern leergeräumt hat: “Alles messen, was messbar ist – und messbar machen, was noch nicht messbar ist.” (Galileo Galilei) Das Anrührende an einer Kultstätte wie Stonehenge ist z.B., dass dort damals sowohl Neugier im Hinblick auf konkrete Sternbewegungen herrschte, als auch das Staunen vor der Erhabenheit oder “Heiligkeit” eines grösseren Ganzen.
    Die grossen Naturwissenschaftler haben sich etwas davon bewahrt, aber insgesamt trat diese moderne Rationalität als Instrument der “Entzauberung” auf, als rein instrumentelle Vernunft, die letztlich nach der Urformel für alles und jedes sucht. Wie man die alte Einheit auf höherer Ebene wieder erreichen kann – und ob dies überhaupt wünschenswert ist, zählt zu den grossen Fragen, die die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten bewegen werden.

  66. Menschliche Umstände (oder Blockaden?)

    Es kommt halt auch auf die äußeren Umstände an, inwieweit Menschen dazu angetrieben werden, ihrer Lebenssituation durch neues Wissen zu verbessern.

    Dieser Satz ist wahr. Allerdings: Wenn wir nicht psychisch getrieben werden, dann geben wir Menschen uns mit recht wenig Materiellem zufrieden. Darum auch leben die Menschen in Jäger- und Sammlervölkern noch heute ganz zufrieden ohne allen Fortschritt.

    Und unser westliches System ist insofern auf extremen Antrieb angelegt (siehe dazu auch Trota von Berlin mit ihrem Bericht vom Prinzip des kleinen Pinguins). Vom Prinzip her kann nämlich (fast) nur der Beste gewinnen – alle anderen verlieren, und verlieren will keiner. Und wir sind auch (fast) nie zufrieden, denn es gibt immer noch Dinge, die wir nicht HABEN.

    Dabei könnte es so schön SEIN – in der Abendsonne, in Gesellschaft mit Freunden, in … Und im Glauben kann man noch sein. Allenfalls in der Mystik kann man/frau noch Erkenntnis sein. In westlicher Wissenschaft kann man/frau sie derzeit nur haben.

    Andererseits glaube ich, dass ein gelungenes Leben auf Beiden beruht – auf Haben und auf Sein. Und ich bin auch davon überzeugt, dass es zwischenzeitlich gewisser Disharmonien bedarf, damit wir uns entwickeln. Irgendwie ist es wie beim Wachsen des einzelnen Menschen – es gibt Zeiten da passt man nicht in seinen Körper und es gibt Zeiten da lebt man in Harmonie.

    Insofern hat @Rüdiger Sünner Recht: Die Vereinigung von Rationalität und Glauben dürfte in den kommenden Jahrzehnten zentral werden. Und das wohl nicht nur, weil der Westen merkt, dass Rationalität nicht alles ist. Sondern auch, weil unsere Ressourcen schwinden – und wir trotz aller gutgemeinten Aufrufe zur Décroissance wohl nur dann umschwenken können, wenn dies aus der Wissenschaft kommt. So wie damals (spätestens in der Reformation) der Weg zur Rationalität aus der Religion kam…

  67. Perfektionierung der Methoden

    Was hat man Einstein gesagt, als er Physik studieren wollte? – Sinngemäß, es ist fast alles erforscht.
    Eine solche Einstellung fand ich in einem FS-Beitrag wieder [AR]: „Dieses Leben auf der Erde ist einzigartig im ganzen Universum! Es ist fast alles erforscht!“
    Im Islam gab es eine Zeit, wo man nur noch ein Buch brauchte, den Koran. Es gab aber auch wissenschaftliche Hoch-Zeiten und Kriege. http://www.phoenix.de/…9/247591?datum=2012-06-08 Ein Prophet verändert die Welt.

    Wir negieren wissenschaftliche Überlieferungen unserer Vorfahren von vor über 4000 Jahren und das sehr intensiv! Von über 70.000 Keilschrifttafeln sind als Buch gerade mal 12 als Gilgamesch Epos erschienen z. B. [MS] – und der Rest? Dr. Burgard hat jetzt ein weiteres Dokument als Buch veröffentlicht [BE].

    Eine Differenz schafft Wind, Fluß; Neugier sucht nach Erklärung. Eine Distanz schafft Geschwindigkeit – schon im alten Mexiko konnten Waren durch schnelle Trägertrupps mit mehr als 6 km/h transportiert werden – durch schnelle Auswechselung der Träger waren die Waren fast ständig in Bewegung.
    Unser Flugwesen ist teilweise an seine Grenzen gestoßen – und verlangt nach mehr…

    [AR] ARD: Abenteuer Wildnis. Die Kräfte der Natur: 1. Eis und Feuer. 16.10.2000. C WDR 2000
    [MS] Maul, St.: Das Gilgamesch-Epos. Beck, München 2005
    [BE] Burgard, H.: Die Geheimen Offenbarungen der Priesterfürstin Encheduanna. Ancient Mail, Groß-Gerau 2012 http://www.amazon.de/…riginaltitel/dp/3943565033

  68. @Klaus Deistung

    “Was hat man Einstein gesagt, als er Physik studieren wollte? – Sinngemäß, es ist fast alles erforscht.”

    Haben Sie hierfür eine Quellenangabe? Ich glaube das nämlich nicht.

  69. @Rüdiger Sünner

    »Abgesehen mal vom komischen Wort “Urwissenschaft”…«

    Beim Schreiben dachte ich noch, ich hätte dieses “komische Wort” gerade eben erfunden, aber dem ist leider nicht so. Schon bei Heidegger findet sich dieser Begriff, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang. Bei ihm geht es um die Idee von Philosophie als Urwissenschaft.

    Abgesehen davon wird meine Aussage zur Urwissenschaft nicht dadurch falsch, dass die “Wissenschaft” der frühen Kulturen meist in einen spirituellen und animistischen Kontext eingebunden wurde. Eine “urwissenschaftliche” Erkenntnis, so wie ich sie verstehe, wäre zum Beispiel, dass die allermeisten Pflanzen Wasser brauchen zum Wachsen.

  70. @ Stefan

    Eine gute Frage – ich habe auch vorher noch einmal gesucht – ich habe es im FS mitbekommen, konnte mich aber gut erinnern, als ich das ARD-Zitat hörte, las und notierte.
    Bei Einstein ging es um die Zukunft der Physik – vielleicht kennt ein Anderer die Quelle. Wenn ich nicht sicher wäre, hätte ich das auch nicht geschrieben.

  71. @Klaus Deistung

    Sie und @Stefan haben Recht. Die Anekdote ist gut bekannt. Aber nicht mit Bezug auf Albert Einstein, sondern auf Max Planck. Das scheint @Stefan gewusst und Ihnen eine Suche gegönnt zu haben… 😉

    So, und jetzt ist Fussball! Wir sind halt nicht nur rationale Individuen!
    😉

  72. @ Michael Blume @Stefan

    Danke – unter Max Planck habe ich zwei andere Weisheiten abgespeichert, die eigentlich beide zum Bloggen passen.
    Max Planck drückte es kurz vor seinem Tod so aus:
    1. „Wohin und wie weit wir blicken mögen, zwischen Religion und Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch, wohl aber gerade in den entscheidenden Punkten volle Übereinstimmung. Religion und Naturwissenschaft schließen sich nicht aus, wie manche heutzutage glauben oder fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander.“
    Das deckt sich mit meinen Äußerungen, dass Religion und Wissenschaft eine Quelle haben und ich auch feststellen kann, dass in den Heiligen Schriften High-Tech-Informationen enthalten sind!
    2. http://www.welt.de/…heriger-Meinungsfuehrer.html
    Da sie aber oft ihre Nachfolger erzogen haben, Wissenschaftspolitik auch eine Rolle spielt – kann es manchmal schon schwierig werden.

    Fußball – das Ergebnis war i. O. – das Spiel ausbaufähig.

  73. @Hilsebein

    “Wenn Ethik auf Mitgefühl basiert, ist sie möglich. (vgl. barmherziger Samariter)”

    Sie wollen nicht wirklich ein Gleichnis Jesu Christi als Beispiel für eine explizit gottlose Ethik verkaufen, oder? 😉

    Im Ernst, die Fähigkeit zum Mitgefühl und die mehr oder minder vage Empfindung, daß die Nutzung dieser Fähigkeit “ethisch gut” sein muß, ist ein Spezifikum der Art Mensch. Das liegt und genauso “in den Genen” wie die Religiösität. Wir sind nunmal daran angepaßt, in Dorfgemeinschaften von ca. 200 teilweise miteinander verwandten oder verschwägerten Individuen zu leben, die einander gegenseitig helfen, wann immer “Not am Mann” ist.

    Elche dagegen sind Einzelgänger. Elche könnten niemals eine Mitleidsethik entwickeln, weil sie zu isoliert leben, um einander in der Not helfen zu können, helfen zu wollen, oder auch nur um Hilfe zu rufen. Ein verletzter Elch schreit nicht vor Schmerzen, im gegenteil, er läßt sich nichts anmerken, egal, wie schwer die Wunde ist. Ein Elch erträgt Schmerzen so cool und stoisch, daß Jäger und Zoologen zeitweilig sogar Zweifel daran hatten, ob er überhaupt Schmerzen empfindet.

    Menschen sind anders. Menschen schreien, wenn sie Hilfe brauchen – ob sie nun vom Nachbarn gehört werden, oder von einem zufälligen Passanten, oder von Gott. Der Clou bei dem Gleichnis war ja, daß der jüdische Händler von den Räubern so übel zugerichtet worden war, daß er nicht mal mehr schreien konnte, als nacheinander der Priester und der Levit vorbeikamen – weswegen beide dachten “der ist eh tot, dem ist nicht mehr zu helfen” und um sich ja nicht vor dem Tempel-Gottesdienst mit Blut einzusauen einen großen Bogen um die vermeintliche Leiche machten.

    Aber um den Bogen zu schlagen zurück zum Thema: Mitgefühl ist eine spezielle Variante der “Theory of Mind” Fähigkeit. Diese ToM Fähigkeit bei Menschen ist in vielerlei Hinsicht essentiell für Erfolg oder Mißerfolg:

    – nur der Jäger, der sich in die Antilope einfühlen kann, weiß auch, wann er aufhören kann, sie zu hetzen und ihr einfach nur noch den Weg zur Wasserstelle abschneiden muß
    – nur wer sich in die wilde Ziege einfühlen kann, weiß, wann er sie einfangen und wie er sie zähmen kann
    – nur der Spekulant, der “weiß, wie der Hase läuft” und abschätzen kann, wann die Kleinanleger anfangen, einem Trend hinterherzuhecheln, kann seine Gewinne mitnehmen, bevor die Blase platzt.

    Es ist also nicht abwegig, zu behaupten, daß unsere ganze Zivilisation von der Hetzjagd über die Religion bis zur Börsenspekulation auf ebendieser ToM-Fähigkeit der Menschen aufbaut. Mir ist kein atheistischer Philosoph bekannt, der dies in seiner vollen Tragweite berücksichtigt.

  74. @ Störk

    “Sie wollen nicht wirklich ein Gleichnis Jesu Christi als Beispiel für eine explizit gottlose Ethik verkaufen, oder? ;-)!”

    Warum nicht? War nicht Jesus zu seiner Zeit gottlos in den Augen manch seiner Zeitgenossen? Egal.

    Was hilft es Ihnen, daß Sie Gott zum Urheber der Ethik machen? Eine Begriffshülse kann man mit Sinn und Unsinn füllen.

  75. Mitgefühl @Störk

    “Menschen sind anders. Menschen schreien, wenn sie Hilfe brauchen – ob sie nun vom Nachbarn gehört werden, oder von einem zufälligen Passanten, oder von Gott.”

    Das kann man nicht so pauschal sagen. Viele Menschen sterben still und leise, weil sie nicht um Hilfe bieten möchten. Und andere bringen sich lieber selbst um. In der US-Armee gibt es beispielsweise mehr Soldaten, die durch Selbstmord zu Tode kommen, als durch Kampfeinsätze: http://www.tagesschau.de/…selbstmordrate100.html

    Und was die Hilfe von einem (gedachten) Gott anbelangt, darüber könnte man sich trefflich streiten. Selbst Gläubige fragen sich oft, warum Gott das Leid in der Welt zulässt.
    Siehe dazu auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Theodizee

    “Mir ist kein atheistischer Philosoph bekannt, der dies in seiner vollen Tragweite berücksichtigt.”

    Ihre “Theory of Mind” ist m.E. ein Begriff aus der Psychologie, deshalb weiß ich nicht, inwieweit der atheistische Philosoph Schopenhauer, in seiner “Mitleidsethik”, darauf eine Antwort gibt. Seine Ideen wurden stark vom Buddhismus beeinflusst, der ja eine atheistische Religion bzw. Philosophie ist. Trotzdem spielt hier das Mitgefühl eine zentrale Rolle.

  76. @Mona & @Störk: ein- und mitfühlen

    Die Verben und insbesondere das von @Störk genutzte einfühlen passt aus meiner Sicht besser zum Menschen als das Mitgefühl. Es mag sich hier um Spitzfindigkeiten handeln, doch mir scheinen sie den Unterschied zum Menschlichen auszumachen.

    Was ich damit meine ist: Helfen ist nicht gleich Helfen. Und wer in der verletzten Position ist, der weiß den Unterschied zu schätzen. In einer Reportage des SWR zu Querschnittsgelähmten wird das von einem der Tetraplegiker deutlich gemacht (ca. 18:00): “Mitleid ist die höchste Form der Arroganz”.

    Insofern ist mir selbst Schopenhauer (obwohl ich ihn sehr schätze) zu sehr von seiner Zeit geprägt und mir fällt wie Störk kein westlicher Philosoph ein (im Osten nämlich die Lehre von Konfuzius), der die “Theorie of Mind” wirklich integrieren würde – aber das liegt vermutlich auch daran, dass diese Erkenntnisse recht neu sind. Selbst Schopenhauer scheint mir die Position des Leidenden nämlich noch zu stark mit einer Schwächeposition zu verbinden – während sie sehr oft eine enorme Willensstärke erfordert, von der die Gesunden viel lernen könnten.

    Die anderen beiden Anmerkungen von @Mona scheinen mir auch mit dem Vorgenannten zusammenzuhängen:

    Bei den Soldaten geht es enorm um Ehre und Anerkennung – die sich beide nicht mit einem Mitleidsverständnis von Einfühlung verbinden lassen. Daher haben sie auch keinen Ansprechpartner, denn alle in ihrem Kreis würden sie dann allenfalls bemitleiden und ihnen damit noch den letzten Rest von Menschlichkeit nehmen. In Romanform hat das Bernhard Schlink im Vorleser auf anderer Ebene darstellt.

    Und was die (fehlende) Hilfe eines (gedachten) Gottes angeht, liegt es oft sowohl an der konkreten Vorstellung von diesem Gott als auch von Gut und Böse. Wenn man nämlich das Leiden als böse ansieht, dann gibt es das Problem tatsächlich. Allerdings verschwindet es, wenn man jedes Leiden als Chance begreift – zumindest langfristig. Für einen speziellen Typ des Übels erwähnt das Trota von Berlin in ihrem Beitrag über Anne Ancelin Schützenberger. Denn dann kann es keine Welt ohne Leiden geben – wäre die doch auch eine Welt ohne Chancen…

  77. Mitleid versus Mitgefühl @Noït Atiga

    Sie schrieben erst: “Die Verben und insbesondere das von @Störk genutzte einfühlen passt aus meiner Sicht besser zum Menschen als das Mitgefühl.” und bringen dann zur Bekräftigung (?) das Zitat: “Mitleid ist die höchste Form der Arroganz”.

    Welche Unterscheidung wollten sie da treffen? Ich gehe einmal davon aus, dass Sie diese zwischen Mitleid und Mitgefühl treffen wollten, denn da besteht in der Tat ein Unterschied. Mitleid für jemanden zu empfinden kann durchaus bedeuten, dass man ihn als nicht gleichwertig betrachtet. Wobei man Mitgefühl eher mit Empathie gleichsetzen könnte.

    Zu Ihrem letzten Absatz:
    Ich meinte damit nicht die kleinen menschlichen Leiden, die sich mit etwas Achtsamkeit und Wellness wieder beseitigen lassen. Wenn gläubige Menschen sich fragen, warum Gott dieses Leid zulässt und dann an ihm zweifeln, dann wurden sie meist in ihrem tiefsten Innersten erschüttert, wie beispielweise manche Überlebende des Holocausts oder Eltern deren Kind starb.

  78. @Mona: Verben vs. Substantive

    Das Zitat war eher als Illustration gedacht – auch in Verbindung mit den Links. Ich hätte auch andere Beispiele anführen können, doch die Probleme von fast vollständig Querschnittsgelähmten scheinen mir breiter bekannt und daher leichter nachvollziehbar. Doch die Bedeutung dieses Satzes habe ich auch selbst auf beiden Seiten erlebt – auch von denen, die nur Mitgefühl (nicht Mitleid) hatten.

    Ich emfand aber stets nur Erleichterung, wenn jemand mit mir mitgefühlt hat. Und ich wurde nur erleichtert angeschaut, wenn ich mit jemandem mitfühlte. Gefühl ist nämlich nicht statisch. Man kann es nicht haben wie ein Ding. Man empfindet mit oder man tut es nicht. Wer nur Mitgefühl hat, der gibt sich lediglich den Schein von Empathie – es trifft nicht sein Herz. Es trifft ihn also allenfalls aus einer Distanz, die er nicht überbrücken will. Er will nicht wirklich mitfühlen oder sich einfühlen.

    In unserer Gesellschaft wird das leider meist übersehen, denn man scheint mit dem Mitgefühl moralisch auf der richtigen Seite und hat doch gekonnt den Schwarzen Peter zurückgespielt, teils Dinge sogar noch verschlimmert.

    Mir scheint auch die in Lexika enthaltene Erklärung in die Richtung meines Erlebens und meines Sprachgefühls zu gehen, der Pons etwa übersetzt
    Mitfühlen mit “jd fühlt etwas mit (das Leid oder den Schmerz eines anderen selbst spüren); Ich kann deine Sorgen mitfühlen. Sag ihr doch ein paar mitfühlende Worte.” (Das letzte geht aber schon in Richtung des Substantivs.
    Mitgefühl aber mit “das Gefühl, dass einem jd Leid tut; Mit ihm habe ich kein Mitgefühl mehr.”
    Und diese Definitionen von Mitgefühl gehen zwingend in die Richtung eines sekundären Gefühls, das sich in seiner Qualität deutlich vom wirklichen Leid unterscheidet. Und sich wegen dieses Unterschiedes distanziert, was dann wegen dieser Distanz vom Leidenden als Arroganz erlebt wird – auch wenn der Mitleid-Habende das eigentlich anders sieht, möglicherweise aufgrund seiner Erziehung, die ihm wirkliches Teilen von Gefühlen abtrainiert hat.

     
    Was Ihren letzten Satz angeht komme ich jetzt in heikles Terrain, gerade in Deutschland. Aber ich will versuchen, meine Gedanken dennoch dazulegen. Heute nämlich kann ich mit diesen Überlebenden oder Eltern leiden, aber früher hatte ich allenfalls Mitleid, später Mitgefühl. Ich musste wirkliches Mitfühlen erst lernen, denn mir wurde wie vielen anderen Deutschen nur das Haben von Mitleid eingetrichtert. Aber das Haben richtet sich nur auf konkrete Personen(gruppen) und es führt nur zu Gutmenschentum. Es führt dazu, dass man große Gesten tut und sich in seinen Äußerungen im Hinblick auf die betroffene Gruppe zurücknimmt.

    Aber es führt nicht zu mehr Menschlichkeit, es führt nicht zu Einfühlungsvermögen. Und das zeigt sich ganz schnell, wenn wir heute bereit sind, andere Menschen auszuschließen. Dass wir deren Ansichten nicht teilen ist eine Sache. Aber unser Einsatz darf nun nicht diese Menschen als Menschen ausschließen oder abwerten – dann fühlen wir uns nicht ein. Wenn wir also die Lektion gelernt hätten, dann würden wir uns auch in diejenigen einfühlen, die uns abwegige Ansichten vertreten. Und wir würden daran arbeiten, die Ursachen für diese Ansichten zu beseitigen. Wir würden damit diese Menschen als Menschen akzeptieren, statt sie auszugrenzen. Denn spätestens beim Einfühlen würde uns aufgehen, dass jede Ausgrenzung als selbsterfüllende Prophezeiung zu nochmehr Ausgrenzung führt – und damit weil sie die Gründe der Ansichten nicht beseitigt diese Ansichten nur noch vertieft. Aber damit gibt es aus der Ausgrenzung nur zwei Wege: das Aussterben oder den Aufstand.

    Und das hätten wir eigentlich als Deutsche lernen sollen: Wenn irgendeiner ausgegrenzt wird – egal aus welchem Grund – dann fühlen wir mit ihm und setzen uns ein als Menschen, auch wenn uns das keinen Vorteil bringt. Denn die passiven 50-90 Prozent, die sind genauso Übeltäter wie die unmittelbar Handelnden. Das verdrängen wir gern, doch aus der Sicht eines einmal ebenso Ausgegrenzten kann ich sagen: subjektiv macht es keinen Unterschied, ob einen in der Gruppe alle aktiv ausgrenzen oder ob es einer ist und alle anderen zu- oder wegschauen…

    Und insofern sehe ich jedes Leiden als Chance, zum Lernen für mich und für die Gesellschaft. (Auch durch meine Ausgrenzung habe ich gelernt – und vielleicht war sie nötig, damit ich wieder richtiges Mitfühlen lernte.) Schon als kleines Kind aber habe ich von den Rollstuhlfahrern viel gelernt: Die waren nie mürrisch, die haben nie geklagt – und dabei ging es ihnen schlechter als den klagenden Gesunden. Überhaupt sind mir Personen, die gelitten hatten, immer als Persönlichkeiten erschienen. Und auch jene, die unter Deutschlands Machtpolitik auf gräßlichste Weise leiden mussten, waren nach der Verarbeitung ihres Leides oft die ersten, die ihre Hand gereicht haben – an alle, die mitfühlen wollten…

  79. Streit um Gott?

    Im Gilgamesch Epos haben sich die Anunnaki vom Nibiru dem Menschen gegenüber als Götter (die Götter der Vorzeit) ausgegeben. Aber sie hatten auch Macht und Möglichkeiten, die wir heute so (noch) nicht wahrhaben wollen. Der Anunnaki/Dingir Enlil (Prof. Maul, Beck 2005, 11. Tafel, Zeilen 203/4) segnete in der Arche Uta-napischti/Noah/…, das war vor um 13.000 Jahren:

    Gilgamesch suchte diese Langlebigkeit zu erreichen und sprach mit Uta-napischti – das war vor um 4.500 Jahren. Henoch wurde ja auch der Erde entrückt und Jesus sowieso.

    Wie kann Gott das zulassen? Die Anunnaki sollen auch an Einen über ihnen geglaubt haben – sie waren aber auch der Meinung, dass sie in seinem Auftrag den Menschen einst vor um 300.000 Jahren schufen. Für viele Könige und Priester waren sie in der Vorzeit Ansprech- und Gesprächspartner. Ohne ihren Segen konnte keiner König werden. In der Bibel finden sich viele Ereignisse wieder.

    Ich bin der Meinung, dass der Glauben an einen Gott für die Gläubigen so etwas wie ein Ansprechpartner ist, ein Pfahl zum Aufrichten – und wenn ich ihm meine Gedanken dargelegt habe – fühle ich mich besser.

    Kein Mensch, aber auch die Anunnaki-Götter nicht, konnten sich ohne technische Hilfsmittel zwischen Himmel und Erde bewegen. Auch Mohammed, der mit einem Buraq (als Pferd dargestellt) zu Gott flog, wird durch Technik transportiert worden sein.

    Wir Menschen wissen heute, was wir falsch machen auf der Erde, aber moralisch zieht Gott Geld immer noch mehr als Gott der Herr! Und wenn wir mal (besonders nachts) im FS zappen – wie viel Menschen werden für die klingelnden Kassen der Filmemacher möglichst „real“ umgebracht?
    Wir sollten selber viel mehr tun, anstatt auf Gott zu hoffen, dass er unsere Probleme löst!
    Aber nicht einmal die Religionen können/wollen sich einig werden – ihre Führer sind zu gern Herrscher! Und so bekämpften und bekämpfen sich die gespaltenen Religionen sogar untereinander. Da bleibt doch Gott „auf der Strecke“.

    Wie schrieb der Dichter Erich Weinert am Ende eines Gedichtes?
    „Dem Volk muss die Religion erhalten bleiben!“

  80. @Noït Atiga

    Sie schreiben: “Gefühl ist nämlich nicht statisch. Man kann es nicht haben wie ein Ding. Man empfindet mit oder man tut es nicht. Wer nur Mitgefühl hat, der gibt sich lediglich den Schein von Empathie – es trifft nicht sein Herz. Es trifft ihn also allenfalls aus einer Distanz, die er nicht überbrücken will. Er will nicht wirklich mitfühlen oder sich einfühlen.”

    Gefühle sind nicht statisch, sie schwanken je nach Stimmung oder verändern sich durch äußere Einflüsse. Man kann sie auch nicht haben wie ein Ding, das ist wahr. Manche Menschen können ihre Gefühle auch schlecht ausdrücken oder möchten sie nicht zeigen, deshalb weiß man oft nicht wirklich, inwieweit jemand mitfühlen oder sich einfühlen kann. Ob es jemand ernst meint und einem anderen auch hilft, falls dieser Hilfe braucht, das sieht man doch erst an seinen Taten.

    “Ich musste wirkliches Mitfühlen erst lernen, denn mir wurde wie vielen anderen Deutschen nur das Haben von Mitleid eingetrichtert. Aber das Haben richtet sich nur auf konkrete Personen(gruppen) und es führt nur zu Gutmenschentum. Es führt dazu, dass man große Gesten tut und sich in seinen Äußerungen im Hinblick auf die betroffene Gruppe zurücknimmt.”

    Ja, das mit dem “Gutmenschentum” sehe ich auch so. Aber wie haben Sie “Mitfühlen” erlernt? Manche Menschen sind ja von Hause aus zu so etwas fähig und ich überlege, inwiefern das angeboren ist. Es gibt die Möglichkeit durch Meditationsübungen mehr Mitgefühl zu empfinden, diese verändern auch das Gehirn dahingehend.
    Siehe hier: http://www.epochtimes.de/…veraendern-597807.html

    “Und das hätten wir eigentlich als Deutsche lernen sollen: Wenn irgendeiner ausgegrenzt wird – egal aus welchem Grund – dann fühlen wir mit ihm und setzen uns ein als Menschen, auch wenn uns das keinen Vorteil bringt. Denn die passiven 50-90 Prozent, die sind genauso Übeltäter wie die unmittelbar Handelnden.”

    Da sprechen Sie eine wichtige Sache an, die aber schwierig, wenn nicht gar unmöglich, zu realisieren ist. Die Geschichte zeigt doch, dass sich die Menschen zwar technisch weiterentwickeln, sozial aber eher weniger. Heutzutage ist z.B. Mobbing, an den Schulen, fast schon der Normalfall und außer den Betroffenen scheint es niemanden groß zu stören, da meistens alle wegschauen, die es nicht betrifft.

    “Und insofern sehe ich jedes Leiden als Chance, zum Lernen für mich und für die Gesellschaft. “

    Mir widerstrebt die Annahme etwas, dass die Menschheit nur durch Leiden besser werden kann. Sicher mögen persönliche Erfahrungen hilfreich sein, andere besser zu verstehen. Aber das Wichtigste ist doch, dass man die Ursache des Leidens findet und sie beseitigt.

  81. Mitgefühl

    @Störk

    Im Ernst, die Fähigkeit zum Mitgefühl und die mehr oder minder vage Empfindung, daß die Nutzung dieser Fähigkeit “ethisch gut” sein muß, ist ein Spezifikum der Art Mensch.

    Nö, das gibt’s auch in der Tierwelt; es macht ja auch “evolutionstechnisch” Sinn.

    MFG
    Dr. Webbaer (der gerade in seinem Arbeitszimmer in einem leicht abgetrennten kleinen dunklen Stauraum eine Katze mit 5 mäuseartig großen Nachkommen hostet)

  82. Empathie

    @Mona

    Ja, das mit dem “Gutmenschentum” sehe ich auch so. Aber wie haben Sie “Mitfühlen” erlernt? Manche Menschen sind ja von Hause aus zu so etwas fähig und ich überlege, inwiefern das angeboren ist.

    “Echtes”, also über Mitleid und über sich als besserstehend einordnend Gönnerhaftes Hinausgehendes, Mitgefühl ist – soweit Dr. W weiß – eine Kultureigenschaft.

    Die umgebende Kultur bestimmt das Verhalten der Einzelnen, wenn es um die Hilfe an sich geht. – Selbst die Liebe zum eigenen Kind ist kulturgebunden und gab es so nicht immer.

    Es sind denn auch die allermeisten indigenen Kräfte Kulturchristen (sofern sie nicht in den einen oder anderen Sozialismus/Kollektivismus abgeglitten sind).

    MFG
    Dr. Webbaer

  83. @Mona: Mitfühlen können (fast)alle Babys

    Zu den Fragen muss ich etwas weiter ausholen, denn sie hängen ganz eng am Verständnis des Menschen. Daher fange ich mit der zweiten Frage an:

    Ich bin überzeugt, dass das Mitfühlen allen Menschen angeboren ist, gewiss manchen mehr als anderen. Im Prinzip aber gehört diese Fähigkeit zum Menschen, denn ohne sie hätte sich unsere Spezies nicht eine so lange Kinder- und Jugendzeit bei gleichzeitig kurzen Geburtsabständen leisten können. Das können wir nämlich nur, weil wir uns in andere einfühlen und darum auch unsere extrem anfälligen Babys oder Kleinkinder anderen Menschen in Obhut geben können – selbst bei uns entwicklungsgeschichtlich nahen Primaten ist das jedenfalls ohne Aufsicht der Mutter ein Unding. Wissenschaftlich überzeugend hat das etwa Sarah Blaffer Hrdy in Mothers and Others herausgearbeitet.

    Aus dieser Perspektive bin ich aber auch überzeugt, dass unser Fehlen des Mitgefühls auf der direkten und indirekten Erziehung durch die Gesellschaft beruht. Wir (im statistischen Mittel) fühlen mit den Kleinsten nicht mit, wir können uns nicht in ihre Lage versetzen und wir versuchen nicht von ihnen zu lernen. Wir haben allenfalls Mitgefühl oder Mitleid, wir sehen uns immer als weiter, als besser – in jeder Beziehung. Dabei wirkt die Neugierde eines Kindes so belebend. Dabei könnte man mit ihm ganz neue Perspektiven entdecken und hätte die Chance, aus verkrusteten Strukturen auszubrechen. Mir (er)geht es mittlerweile so – ich bin oft selbst mit wildfremden Kindern in einem über die räumliche Distanz doch innigen Kontakt, weil wir unsere Phantasie und unser Einfühlungsvermögen spielen lassen. Und für diese Spiele braucht es kein Material und doch ist jedes von ihnen eine der Freuden am Tag.

    Aber diese kleinen Freuden werden den Kindern ganz schnell aberzogen, auch von vielen eigentlich aufgeschlossenen Erwachsenen. Mir wurde das vor einiger Zeit an folgendem Beispiel sehr deutlich: Ein kleiner Junge versuchte sich an den Einstellungen des Rucksacks seiner Eltern, er wollte erforschen, wie das so funktioniert – er zerrte nicht, er riß nicht, nein, er war ganz vorsichtig, um ja nichts kaputt zu machen. Und was machten die Eltern – sie gaben ihm zwar keinen Klaps, aber sie unterbrachen seine Wissbegierde, seinen Einfühlungsversuch in die Struktur eines Rucksackes mit den sehr barsch intonierten Worten: Lass das!!! Du verstellst mir alles! Dabei war die Fahrt noch lang und nach der Art und Weis, wie der Junge vorging (was sie gar nicht beobachtet hatten), wären es nur kleine Nachjustierungen gewesen und sie hätten dazu später noch im Wagen Zeit gehabt. So aber war der Junge geschockt – was hatte er nun wieder falsch gemacht???

    Auf diese Weise wird systematisch das Einfühlungsvermögen unterbunden. Und dazu gibt es einige Anthropologische Studien, denn in einfacheren Kulturen sehen sich die Eltern mehr als Entwicklungshelfer, denn als Erzieher. Ein Ent-wicklungs-helfer (im urspünglichen Sinne des Wortes) bemüht sich nicht um die Besserwerdung seiner Schützlinge, sondern er versucht ihnen über sein Einfühlungsvermögen und seine Erfahrung Wege aufzuzeigen, die sie gehen können. Ich glaube es war Jean Liedloff in Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit, der etwa das folgende Beispiel zitierte: Zwei Kinder streiten sich um etwas Essbares, sagen wir ein Stück Schokolade. Und sie wollen nun vom Erwachsenen wissen, wie sie es lösen sollen. Was macht die Mutter? Sie zerbricht die Schokolade und gibt BEIDE Teile dem einen Kind, welches vorher das ganze Stück hatte. Und lässt die Kinder wieder allein. Auf den Gedanken, dass ja nun jeder ein Stück haben könnte, darauf kommen sie von selbst. Die Mutter hat sie nur gelehrt, dass gewisse Dinge teilbar sind. Wie sie als Menschen miteinander umgehen können, das erfühlten sie sich selbst.

    und sie wurden nicht belehrt darüber, wie sie zu handeln haben. Sie wurden nicht belehrt darüber, dass sie unfähig sind. Sie wurden nicht belehrt, dass der Erwachsene im Miteinander richtiger denkt. All das passiert aber bei uns noch – und zwar schon dann, wenn der Erwachsene sich den Streit liebevoll anhört und danach jedem Kind eine Hälfte zurückgibt. Und wenn er das macht, dann ist er im Westen schon eine Ausnahme. Aber wir lernen ja nicht die einzelnen Regeln der Erwachsenen, sondern wir lernen die Quintessenz all ihres Handelns – und die ist dann: Als Erwachsener weiß es besser. Ich will damit keineswegs die einfachen Völker in höchsten Tönen loben, auch dort gibt es Probleme, aber auch wir können von ihnen lernen.

    Damit bin ich “schon” bei der vierten Frage: Ich bin dort ganz bei Ihnen – ideal wäre ein Leben ohne Leiden. Ganz geht das nicht, schon deswegen, weil uns auch von außen Leiden aufgetragen wird. Aber wenn wir von klein auf menschlich bleiben dürften, dann bliebe uns viel Leiden erspart. Vieles im Westen resultiert ja aus der Missachtung des kleinen Kindes, was sich darum nichts mehr wünscht, als eines Tages groß zu sein und endlich bestimmen zu können. Aber es hat inzwischen sein Einfühlungsvermögen verloren und kommandiert genauso, wie es vorher kommandiert wurde.

    Wie kann man diesen Kreislauf nun unterbrechen? Eigentlich nur durch einschneidende Ereignisse – und das berichten einstimmig Hirnforschung, Psychologie & Co. Wir lernen ja immer langsamer, bei gleicher Bedeutung brauchte es also dreimal soviele gegenteilige Erfahrungen, um die nichtmitfühlenden neuronalen oder psychischen Strukturen aufzulösen. Und damit das überhaupt möglich ist, müssten wir sofort in eine Gesellschaft wechseln, die uns nur noch diese mitfühlenden Erfahrungen bietet – eine Unmöglichkeit. Leiden und Schmerz aber, die sind ein extremer Verstärker für Erfahrungen, sie können zum kompletten Umbau von Denkstrukturen führen und das in sehr kurzer Zeit – wenn man dem Individuum Alternativen bietet, die man aber eben nicht durch Ausschluss generiert, sondern durch Integration und Wissbegierde.

    Letztlich geht es also um den Aufbau von Beziehungen, es geht um das, was Saint-Exupérie im Kleinen Prinzen den Fuchs viel schöner sagen lässt, als ich die Idee hier wiedergeben kann: Man muss die Fremdheit ganz langsam zu überwinden trachten, durch systematische, wohlwollende Annäherung in kleinen Schritten ohne den Nähekreis des Anderen zu verletzen. Mit Neugierigen und mit Kindern geht das immer sehr gut, aber bei Erwachsenen braucht es für die Bereitschaft zur Annäherung zumindest in unserer Gesellschaft oft das Leiden und den Schmerz.

    Und damit bin ich bei der sehr persönlichen Frage, wie ich es gelernt habe. Zunächst einmal wurde mir das Einfühlen ebenso kräftig abtrainiert wie wohl den meisten Kindern. Allerdings war es bei mir wohl teils krasser und teils subtiler, zumal es zusätzlich eine extreme Ungerechtigkeit zwischen uns Geschwistern gab – die ich als Benachteiligter auch noch als gerecht ausgeben und selbst unterstützen sollte (Das ist objektiv aus Erwachsenensicht bestätigt, mein subjektives Empfinden war ob des mit Geburt beginnenden Training sogar das absoluter Gleichheit!). Und auf diesem Wege habe ich wohl einen sehr intensiven siebten Sinn entwickelt – ich verhielt mich daher auch auf unbekanntem Terrain stets genauso, wie man es erwartete. Es gab aber in meinem Inneren auch eine gewisse Stärke, die neugierig war. Ich habe also schon als Kind alle Arten von Büchern verschlungen und bin dann später nach vielen Anläufen auch in einer viel einfühlenderen Gesellschaft gelandet, in Frankreich. Aber das allein hätte nicht genügt, wenn sich nicht wirkliche Beziehungen entwickelt hätten, weil Einzelne sich in mich einzufühlen vermochten und mich nicht wegen der Oberfläche abgewiesen oder ausgeschlossen haben. Und dann gehörte dazu eine ganze Menge Leiden, mit großartigen Frauen ebenso wie mit manipulativen Kollegen. Und darauf aufbauend und dazu parallel auch eine enorme Lektüre wissenschaftlicher Werke aller irgendwie annähernd einschlägigen Disziplinen (etwa Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Neurobiologie, Philosophie, Anthropologie…). Und das Ganze war und ist immer ein beziehender Prozess, und auch darum scheint mir die von Ihnen zitierte Studie zumindest an methodischen Problemen zu leiden, denn die Mönche sind isoliert.

    Und damit zur ersten Frage: Jeder, der länger leiden muss, besinnt sich langfristig (zumindest unbewusst) auf die eine wichtige Kunst, die ihm bleibt: auf sein Einfühlungsvermögen. Und er kann sich dann viel besser in ganz viele Personen einfühlen, also auch mit ihnen fühlen und mit ihnen nicht nur leiden sondern auch genießen. Und weil er das kann, darum spürt er auch den Unterschied zwischen Helfen und Helfen – ohne dass er ihn deswegen reflektierend darzustellen vermochte (so wie ich es hier versucht habe). Aber dann verletzt manches Helfen mehr als die Nichthilfe, weil man diesen Gutmenschen nicht mit der üblichen Rationalität beikommen kann. Und das drückt das Zitat sehr treffend aus. Aber eines ist wichtig: Es geht nicht um den Ausdruck von Gefühlen, sondern nur um das Fühlen. Denn was jemand fühlt, dass wird in der Beziehung zu ihm viel deutlicher als es Worte allein je ausdrücken können.

    Die Kids aber, die Mobbing betreiben oder durchgehen lassen, die sind selber Opfer. Sie sind Opfer, weil man ihnen das Einfühlungsvermögen genommen hat und sie nun ihre einzige Verwirklichung darin finden, andere zu erniedrigen. Und sie sind auch noch Opfer, weil sie keine Auswege sehen – sie kennen keine Erwachsenen, die unabhängig von eigenen Interessen gegen Ungerechtigkeit eintreten. Also lernen sie sehr früh: Wenn es um andere geht, dann halte still. Und darum müssen sie sich sogar selbst ihr Mitgefühl abtrainieren, denn sonst wäre jedes dabeisein eine Tortur. So aber leben sie nur noch durch das einzige verbleibende und zulässige starke Gefühl der Überlegenheit, die man nur haben kann.

    Direkt können wir das wie gesagt nicht ändern, denn wenn wir es mit Macht unterbinden, dann verstärken wir das Prinzip sogar noch. Was es braucht ist Einfühlung und Vorbild – und beides geht nur über Wege, die die Gesellschaft verachtet. Man ist nämlich mit der Einfühlung zu weich – und mit dem Vorbild wird man sehr schnell zum Störenfried, schließlich macht und sagt man Dinge, die an den Verdrängungsmechanismen aller Anwesenden nagen. Und weder mit dem Einfühlung noch mit Einsatz gegen Ungerechtigkeit kann man eine Blumentopf gewinnen – man riskiert vielmehr ausgeschlossensein. Interessanterweise gibt es aber dann doch langfristig einen Weg zurück, langfristig merken nämlich Einige der Beteiligten, dass dieser Störenfried viel weniger gegen sie ist, als jene, die scheinbar immer mit allen Anwesenden einer Meinung sind (und jeden Abwesenden genüsslich zerfetzen).

    Andererseits gibt es auch auf gesellschaftlicher Ebene Ansätze zu einem Miteinander, die Hoffnung geben. Etwa wenn ehemaligen “Raudis” mit Sozialarbeitern kooperieren oder wenn in Schulen Schüler als Streitschlichter ganz unkonventionelle Wege ghen. Das Prinzip ist immer dasselbe: Man fühlt sich in die “Übeltäter” ein und lässt sie selbst entscheiden, wie sie das Problem lösen wollen. Ob die Ergebnisse gefallen oder ob wir sie gefunden hätten ist solange irrelevant, wie Dritte davon nicht betroffen sind…

  84. @Dr. Webbaer: Ja, denn

    … einerseits muss ich mit der Diskussion irgendwo anfangen. Und andererseits bin ich davon überzeugt, dass die Entwicklung des Menschen dem Individuum genug Leiden auferlegt, wenn sie denn frei durchlaufen werden kann. Da gibt es einige Brüche mit liebgewordenen Gewohnheiten, ob nun wegen Abstillen, Geschwistern, Einschulung, Pubertät, Partnerschaft, Beruf, Familie, …
    Immer wird uns eine Veränderung zugemutet, die Anlass zur Weiterentwicklung ist – auch ohne externe Leiden. Und ich glaube, dann böten diese Brüche weit mehr Chancen als bisher.

  85. @Noït Atiga

    Danke für Ihre ausführliche Antwort. Mir war gar nicht bewusst, so viele Fragen gestellt zu haben.
    Natürlich ist Mitgefühl sowohl angeboren, als durch Kultur und Gesellschaft bestimmt, das ist schon klar. Mir ging es aber darum, wie sich Mitgefühl steigern lässt. Beim Hass weiß man das doch auch. Wenn ich Ihre Beispiele richtig verstehe, dann gehen Sie eher davon aus, dass das Mitgefühl, das ein Kind mitbringt, durch Umwelt und Erziehung geschmälert wird. Grundsätzlich sollte eine gute Erzeihung die positiven Eigenschaften eines Kindes ja fördern. Während man versucht, die schlechten mit Strafen zu unterbinden. Günstiger wäre es wahrscheinlich Erkenntnisfähigkeit und Sensibilität zu fördern. Auch andere Ausdrucksformen, wie Kunst oder Musik, erscheinen mir in dem Zusammenhang wichtig.

    Kreative Menschen können sich ja auch über ihre Kunst ausdrücken und sprechen damit andere an, die ebenso empfinden. Man muss also nicht immer direkt über seine eigenen Gefühle sprechen, um von anderen verstanden zu werden. Gerade bei Kindern funktioniert die Annäherung an ein Thema oft auch, indem sie ein Bild davon malen. Dazu würde auch Ihr Satz passen: “Man muss die Fremdheit ganz langsam zu überwinden trachten, durch systematische, wohlwollende Annäherung in kleinen Schritten ohne den Nähekreis des Anderen zu verletzen. Mit Neugierigen und mit Kindern geht das immer sehr gut…”.

    Zum Mobbing: Als Schwester einer Lehrerin ist mir das Thema “Mobbing in der Schule” ziemlich vertraut. Es gibt dafür unterschiedliche Motive, und auch nicht alle Mobber sind “Raudis”. Manche geben sich ihren Opfern gegenüber sogar recht einfühlsam, oft aus dem Motiv heraus, etwas zu erfahren, was sie später gegen das Ofer verwenden können. Interessant ist auch, dass in manchen Berufen stärker gemobbt wird, als in anderen. Spitzenreiter sind ausgerechnet die sozialen Berufe.
    http://www.baua.de/…licationFile/46973/Fb951.pdf

  86. Sentimentalismus

    Vieles im Westen resultiert ja aus der Missachtung des kleinen Kindes, was sich darum nichts mehr wünscht, als eines Tages groß zu sein und endlich bestimmen zu können.

    Verglichen mit welchen anderem Kulturkreis liegt eine ‘Missachtung’ vor? Oder war das eine maßstabslose Meinungsäußerung?

    Dass das Leiden zum Leben gehört und gar nicht weggepflegt werden kann, sollte klar sein.

    MFG
    Dr. Webbaer (der gar nichts von einer Pathologosierung von im erweiterten Sinne Normalen hält)

  87. @Mona: Mitgefühl steigern

    Mir ging es aber darum, wie sich Mitgefühl steigern lässt.

    Durch Fühlen und Mitfühlen.
    Und zwar schon mit den ganz, ganz Kleinen und dann ohne Unterbrechung.
    Durch möglichst viel Kontakt mit möglichst verschiedenartigen Mitmenschen.

    Ich glaube auch nicht, dass es bei Kindern ursprünglich schlechte Eigenschaften gibt (die Anthropologie glaubt das auch nicht). Dieses Schlechte haben sie höchstens von uns gelernt (Was wir uns nicht vorstellen können, denn wir wollen doch wenigstens das Beste). Aber ursprünglich ist der Mensch ein soziales Wesen und damit gut, denn er will geliebt werden – vom ersten Blickkontakt seines Lebens an. Natürlich sind Kinder anders, natürlich stellen sie unsere Welt auf den Kopf und natürlich behaupten sie sich – aber wir können gerade deswegen von ihnen lernen.

    Und natürlich gibt es gewisse Einschränkungen in der Gesellschaft, doch lernen alle Kinder diese viel schneller und besser allein – auch deswegen, weil ihnen die Gründe der Einschränkungen teils erst weit nach der Pubertät zugänglich sind. Und vorher lernen sie durch Strafen nur eins: sie werden als inkompetent angesehen. Dürfen sie aber lernen, dann imitieren sie uns von ganz allein, auch wenn sie dabei variieren, aber sie imitieren immer das, was und wie sie es schon verstehen. Denn der Pädagoge in ihrem Kopf (die Gehirnreifung) sorgt immer für die aktuell angemessene Filterung. Und daher kommen sie auch auf uns zu, bitten um unsere Hilfe, wenn sie nötig ist. Und die Verletzung von Regeln bekommen sie auch ohne Strafe extrem gut mit – sie fühlen diese Verletzung schon durch die intuitiven Reaktionen der Erwachsenen…

    Musik und Kunst können dieses Mitgefühl gewiss steigern, gerade bei Personen, die nicht mehr direkt zugänglich sind. Aber viel wichtiger ist der menschliche Kontakt, ist der Umgang mit soviel Varianten des Menschen, wie nur möglich. Und aus sovielen Perspektiven wie möglich, denn was in Beziehungen transportiert wird, das kann jedes menschliches Werk nur unvollständig wiedergeben (selbst der Film lässt etwa Gerüche und Dimensionen weg). Destilliert wird es dann schon im Kopf.

    Unsere “modernen” Bildungssysteme widersprechen diesem ziel des Mitfühlens durch verschiedenartige Erfahrungen. Größtes Problem dort: sie fixieren Ordnungen in einer Kindergruppe, die dann jahrzehntelang hält. Damit kommt das Kind in eine Postion und lernt mit ungefähr Gleichaltrigen (seine effizientesten Lehrer) nur eine Perspektive kennen. Aber auch die Wissensvermittlung selbst wird vom (immer besseren) Lehrer kontrolliert, was wieder gegen das eigene Gefühl und das Mitgefühl geht etc. All das passte recht gut in eine starre Gesellschaft, eine mit wirklich freiheitliche aber nicht mehr.

    Nun war es schon wieder lang, darum zum Mobbing nur ein Verweis auf ein – wenn es nicht so traurig wäre – sehr amüsantes amerikanisches Wissenschaftsbuch: Paul Babiak/Robert D. Hare, Snakes in Suits: When Psychopaths Go to Work

    @Dr. Webbaer: Das ist keine Erfindung, sondern geht auf psychologische und anthropologische Forschungen zurück. Aus der Anthropologie hatte ich oben schon auf die lesenswerte (aber nicht unbedingt als Modell) Jean Liedloff verwiesen, aber bekannt ist etwa auch Claude Lévi-Strauss. Zur Kinderpsychologie bietet der Kinderarzt Herbert Renz-Polster in Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. einen guten allgemeinverständlichen Überblick über den Forschungsstand und viele Nachweise. Und wenn es ums Lernen geht, empfehle ich uneingeschränkt Manfred Spitzer mit Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens.

  88. politische Wissenschaft

    … kennt der Schreiber dieser Zeilen zur Genüge. Es reicht eigentlich, wenn die gestellte Frage beantwortet wird, die Frage nach dem “Verglichen womit?” – dann könnte nämlich sofort einiges klarer werden.

    MFG
    Dr. Webbaer (der Theorien immer als Sichten einer Person(engruppe) versteht)

  89. @Mona

    > nicht alle Mobber sind “Raudis”. Manche
    > geben sich ihren Opfern gegenüber sogar
    > recht einfühlsam, oft aus dem Motiv
    > heraus, etwas zu erfahren, was sie später
    > gegen das Ofer verwenden können.

    Ich hatte weiter oben das Beispiel des Wildbeuters gebracht, der sich in die Antilope einzufühlen versucht. Auch dieser benutzt sein Einfühlungsvermögen als Waffe: wenn er im Dauerlauf schwitzend in der Mittagssonne zu ergründen versucht, ob die Antilope von Furcht getrieben weiter in die Wüste flüchtet, ob sie vom Durst getrieben in Richtung Fluß abbiegen wird, oder ob sie kurz davor ist, vor Erschöpfung zusammenzubrechen, dann ist sein Versuch, die innere Befindlichkeit des Tieres nachzuempfinden, Mittel zum Zweck, das Tier letztendlich zu töten. Und wenn ein Spekulant bei einer sich abzeichnenden Blase aus dem Markt aussteigt und seine Gewinne mitnimmt, dann verkauft er an genau diejenigen, die sich vom Hype blenden lassen und beim Platzen der Blase alles verlieren: er kann mitfühlen, welcher Herdentrieb die Kleinanleger dazu treibt, in einen bereits hoffnungslos überbewerteten Markt zu investieren, und greift dann lieber genau deren Geld ab, bevor er sein eigenes verliert.

    Einfühlungsvermögen dient also nicht zwangsläufig dazu, demjenigen, in den man sich einzufühlen versucht, Gutes zu tun.

  90. @Störk

    Das Beispiel mit dem überbewerteten Markt, der vom kenntnisreichen Anleger ausgenutzt wird, die Empathie bemühend, ist schlecht.

    Es gibt diesen Anlegertypus nicht. Denn ein Anlager kann nur zuverlässig im Ex Post zwischen einem sich günstig entwickelnden Kurs und einer Überbewertung unterscheiden, nicht aus dem Ex Inter und erst recht nicht aus dem Ex Ante.

    Sie können das gedankenexperimentell leicht überprüfen indem Sie sich fragen, was der “Spekulatius” gestern gemacht hat: War gestern die Lage eine andere?

    Hoch komplexe Systeme lassen sich so, also auf Basis nackter Empathie, – ohne Insiderkenntnisse – nicht bearbeiten.

    MFG
    Dr. Webbaer

  91. Manipulation

    @Störk

    “Einfühlungsvermögen dient also nicht zwangsläufig dazu, demjenigen, in den man sich einzufühlen versucht, Gutes zu tun.”

    Ganz recht! Und man könnte die von ihnen gebrachten Beispiele noch durch die Werbepsychologie erweitern, wo man sich gezielt in die Wünsche und Träume der Kundschaft “einfühlt”, damit sie möglichst viele Dinge kauft, die sie nicht braucht.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Werbepsychologie

    @Noït Atiga

    Danke für den Buchtipp!

  92. @webbär

    Ich rede nicht von “günstigen Kursen”, sondern von Massenhypes und Blasen. Beispiele der letzten beiden Jahrzehnte: dot.com Blase, Immobilienblase, Telekom-Hype, Facebook-Hype.

    Wie man eine Blase vorhersieht? Indem man sich in die Anleger versetzt. Dotcoms waren “die Zukunft”, das ganz große Geld, das nächste Microsoft (okay, Google ist tatsächlich heute die gleiche Klasse wie damals MS) – als das platzte und die Zentralbanken munter weiter Liquidität raushauten, mußte es “etwas solides” sein – was paßt besser als Immobilien? Und seit Lehman Brothers wissen wir, daß man auch mit Immoblien Miese machen kann – und der €uro ist auch nicht mehr, was die DM war – raten sie mal, wo die nächste Blase entsteht (kleiner Tipp: verschiedene Edelmetalle entwickeln sich seit Lehman sehr unterschiedlich)

  93. @Störk&Mona: Manipulation oder Mitfühlen

    Natürlich kann das Einfühlen für Manipulationen genutzt werden, aber nur soweit es vom Fühlen getrennt ist. Sprich: Wer in der Lage ist, seine Fähigkeiten ohne Skrupel nur zum eigenen Vorteil einzusetzen, der fühlt nicht mit und der fühlt sich auch nicht ganz ein, sondern der fühlt eher analysierend, wie aus einer externen, zweiten Ebene. Würde er nämlich auf unmittelbarer Ebene mitfühlen, dann würde er auch jenen Schmerz noch fühlen, den seine Handlung verursacht.

    Die ersten Beispiele von @Störk hatte ich daher auch im Sinne der meist als primitiv bezeichneten Völker gelesen. Die leiden nämlich tatsächlich mit ihren Opfern und sie beschwören daher deren Seelen. In vielen westlichen Darstellungen wird das als Humbug bezeichnet, aber es ist die konsequente Fortführung des Mitfühlens. Wenn ich wirklich mitfühle, dann leide ich mit meinem Opfer, dann muss ich mich mit diesem Opfer versöhnen, denn sonst leide auch ich weiter.

    Wir Westler kennen das nicht wirklich; nur bei uns kann es solche Investmentbanker oder Werbepsychologen geben – wobei das für Deutschland auch erst in den letzten zwei Jahrzehnten stimmt. Vorher war zumindest bei den Bankiers die Kultur noch eine des Ein- und Mitfühlens. Aber das Leiden mit dem Opfer kommt auch bei uns zurück, und zwar umso mehr wir das Mitfühlen neu lernen. Mir geht das mittlerweile bei der Korrektur schlechter Arbeiten so – ich bin dann ganz persönlich deprimiert und muss mich mit den Benoteten wieder auf gewisse Weise versöhnen…

    @Mona – Gern geschehen und Danke zurück für die Studie.

  94. @Störk

    Ohne Spezialinformation lassen sich auch sogenannte Blasen nicht identifizieren.

    Ansonsten würde ja auch das Geld auf der Strasse liegen.

    Bei “Dotcom”, Telekom und jetzt bei FB, zuvor bei Google und bei dem einen oder anderen Going Public weiß man schlichtweg nicht was passieren wird.

    Nicht dass das in diesem Zusammenhang besonders wichtig wäre, aber antimarktwirtschaftlichen Sichten widmet sich Dr. W traditionell ein wenig…

    MFG
    Dr. Webbaer

  95. @Dr.W

    … dann weiß er sicher auch Folgendes: In entsprechenden Kreisen war sowohl Dotcom als auch Facebook als auch bei Lehmann sehr wohl im Vorhinein bekannt, dass es eine Blase gibt und dass diese bald platzen wird. Die Deutsche Bank hat daher gerade bei den Immobilienzertifikaten ganz massiv alle eigenen Titel noch schnell in den Markt gedrückt und parallel ebenso massiv auf das Platzen spekuliert – zuerst dadurch gut verdient und mittlerweile eine ganze Reihe von Klagen am Hals. (Ähnliches gilt für die Banken im Umfeld von Facebook.)

  96. Kreise

    In entsprechenden Kreisen war sowohl Dotcom als auch Facebook als auch bei Lehmann sehr wohl im Vorhinein bekannt, dass es eine Blase gibt und dass diese bald platzen wird.

    So, so.

    Dass die Immobilienblase auf Grund einer ungünstigen unter Clinton vorgenommenen Erweiterung des Community Reinvestment Acts erstmal einen unnatürlichen Immobilien-Subprime-Markt geschaffen hat, war bekannt. Hier haben einige sehr früh das Platzen der Blase vorhergesehen – allein!, diejenigen, die lange investiert blieben und rechtzeitig abgesprungen sind, haben ihren Reibach gemacht.

    Und wie ließe sich dieser Absprungzeitpunkt ermitteln? – Subprime und die dbzgl. Teilhabe war für viele eine Wette auf ein Ponzi-System.

    Klar, europäische Banken, die anscheinend gänzlich ahnungslos sufsprangen und zu lange drin blieben, hat’s dann erwischt, loge!

    Hand aufs Herz: Wer hat damit gerechnet, dass die USA Lehmann hopp gehen lassen?

    MFG
    Dr. Webbaer (der sich nun ausklinkt)

    PS + BTW: Wer gegen den Euro wetten möchte, darf jetzt noch aufspringen. Nie war eine Wette so klar gewinnbar wie jetzt.

  97. Immo-Blase

    > Hier haben einige sehr früh das Platzen
    > der Blase vorhergesehen – allein!,
    > diejenigen, die lange investiert blieben
    > und rechtzeitig abgesprungen sind, haben
    > ihren Reibach gemacht.
    >
    > Und wie ließe sich dieser
    > Absprungzeitpunkt ermitteln?

    Der Zeitpunkt ist reines Glücksspiel, weil die Zahl der relevanten Akteure zu groß ist, als daß sich irgendjemand in jeden einzelnen davon hineinversetzen könnte. Aber daß es sich überhaupt um eine Blase handelte, dürfte jedem bekannt gewesen sein, der sich etwas intensiver damit beschäftigt hat. Und wenn mir bekannt ist, daß es sich um eine Blase handelt, und ich zuwenig von der Psychologie der anderen Marktteilnehmer verstehe, um ihre Reaktionen vorauszuahnen und vorwegzunehmen, dann lasse ich lieber die Finger von dieser Anlageform. Also konkret ich als jemand, dessen Menschenkenntnis eher akademischer als praktischer Natur ist.

    Kapitalismus ist eine feine Sache, wenn man ihn so vernünftigen Leute wie Warren Buffet oder den Brüdern Albrecht überläßt.

  98. @Störk: Nicht ganz

    Der Zeitpunkt ist reines Glücksspiel, weil die Zahl der relevanten Akteure zu groß ist, als daß sich irgendjemand in jeden einzelnen davon hineinversetzen könnte.

    Das stimmt leider nicht ganz – und insofern werden alle Kleinanleger gehörig aufs Glatteis geführt. Denn mit der aktuellen Technik kann man zumindest kurzfristige Trends recht gut erkennen und entsprechend reagieren. Auch wenn das dann wieder Rückwirkungen auf die Kurse hat.

    Für die eigentlichen Gewinner der Blasen aber sind alle diese Reaktion völlig egal, denn die Banken haben in jedem Fall (hauptsächlich) über Provisionen oder Rückvergütungen (sogenannte Kick-Backs) verdient. Gerade bei den Zertifikaten wurden auf diesem Wege teils hohe zweistellige Beträge abgezweigt, die nie jemand realistisch verdienen konnte. Also: Wer um diese Provisionen gewusst hätte und rational gedacht hätte, der hätte jedes Engagement sofort abgeleht. Allerdings sitzen die Banken noch heute am längeren Hebel – werden doch viele Verfahren dann wegen Vergleichs eingestellt, wenn es für die Banken schlecht aussieht – gerade eben hier.

  99. Kleinanleger

    Kleinanleger sind sowieso immer die gekniffenen – sei es, weil eine Bank “toxische Papiere” schnellstmöglich weiterverhökern will, oder weil im Zuge der 423. Griechenland-Rettung die Inflationsrate das Zinsniveau von Bundesschätzchen gleich dreimal überrundet. Meine letzte “Investition” war ein Auto mit Gasanlage – die “Rendite” besteht darin, daß ich im Monat 200€ weniger Treibstoffkosten habe als vorher. Aber damit haben wir uns jetzt ziemlich weit vom Thema “Religion” entfernt…

  100. @Störk: Entfernung – ja, obwohl…

    Ja, einerseits haben wir uns von Religion entfernt. Doch andererseits ist doch gerade der Glaube auch Frage des Sich-Vorstellens einer Zukunft. Und ob man die Zukunft in bedrucktem Papier sieht, in einem sparsamen Auto ;-), in der Verbindung von Mensch und Natur, in vielen Göttern, in einem Gott, oder… Das ist für mich dann doch wieder Glaube und – wenn es institutionalisiert wird – Religion…

    Aktuell dazu übrigens: Eva Bambach mit Kathedralen für den Fußball – Stadien für den akustischen Rausch

  101. Autismus als geniale Anpassung?

    Ein interessanter, Ihnen vielleicht schon bekannter Artikel zu Autismus ist mir am Wochenende hier in die Hände gefallen: Sandler, Richard H. et al. (2000): Short-term benefit from oral vancomycin treatment of regressive-onset autism. In: Journal of Child Neurology 15 (7), S. 429–435. Auslöser war eine sehr interessante Reportage von Arte zur Hilfe bei Autismus.

    Wenn sich die Hypothese verfestigen würde, dann hätte das aus meiner Sicht auch Rückwirkungen auf die Beziehung von Autismus und Religion. Möglicherweise ist dann Autismus eine geniale Anpassung der Natur.

    Babys (vielleicht in geringerem Maße auch Jugendliche und Erwachsene), denen ihre Gemeinschaft nicht die erforderliche Nahrung (und damit Lebensgrundlage) bereitstellen kann, orientieren sich nach außen. Sie entwickeln also insbesondere jene Fähigkeiten, die ihnen eine Abgrenzung von der Gesellschaft ermöglichen. Damit können sie der Gruppendynamik entfliehen – was zwar ein individuelles Risiko ist, aber für die Gesellschaft auch die Chance genialer neuer Entdeckungen birgt. Und vielleicht ist dass dann auch (auf kleinerer Flamme) ein Grund für unsere zunehmende Rationalität, schließlich ist schon länger bekannt, dass die Umwelt großen Einfluss auf die Aktivierung oder Desaktivierung menschlicher Möglichkeiten hat…

  102. @Noit Atiga

    Vielen Dank! Und, ja, tatsächlich gibt es in der Evolutions- und Atheismusforschung entsprechende Überlegungen (ich plane bald von einer Neuerscheinung zu berichten). Und in meinem Artikel zur “Pflege in der Evolution des Menschen” hatte ich ebenfalls darauf verwiesen, dass vielfach auch vermeintlich “behinderte” Menschen Sozialstrukturen und Innovationsfähigkeiten unserer Vorfahren gestärkt haben könnten. Zum Download hier:
    https://scilogs.spektrum.de/…er-evolution-des-menschen

  103. @Michael Blume

    Ich bin gespannt auf diese neuen Berichte.

    Für mich ginge Autismus (zumindest im Bezug auf den von Ihnen angesprochenen Artikel) dann sogar noch weiter – Autisten hätten dann nicht nur (wie Kranke oder Verletzte) die Sozialstrukturen gestärkt, sondern sie wären vermutlich Erfinder für gesellschaftlich notwendige Verbesserungen. Schließlich sind viele Autisten hochintelligent und können sich ob der geringern Integration oft mehr auf Entdeckungen konzentrieren. Und das wäre eine raffinierte Entwicklung der Natur – welche immer plausibler wird, denn nach den aktuelleren Kenntnissen ist die Gehirnfunktion wohl viel intensiver vom Magen-Darm-Trakt abhängig als früher gedacht.

  104. @Noït Atiga

    »Wenn sich die Hypothese verfestigen würde, dann hätte das aus meiner Sicht auch Rückwirkungen auf die Beziehung von Autismus und Religion. Möglicherweise ist dann Autismus eine geniale Anpassung der Natur.«

    Wenn ich das richtig verstanden habe, dann besagt die Hypothese, dass bestimmte Formen des Autismus auf einer Art Stoffwechselstörung beruhen (gestörte Darmflora, neurotoxische bakterielle Metabolite, usw.).

    Das Krankheitsbild Autismus mit der Symptomatik einer sozialen Dysfunktion stellt somit ganz gewiss keine “geniale Anpassung der Natur” dar.

    Man sollte schon unterscheiden zwischen dem Autismus als behandlungsbedürftige Erkrankung (das war Thema der arte-Sendung) und dem völlig normalen Sozialverhalten von Gesunden, welches in der besprochenen Studie von Norenzayan et al. in den so genannten “autism score” eingeflossen ist.

  105. @Balanus: Ja/nein

    Ja, die Unterscheidung ist für die Behandlung sinnvoll – wenn wir nur auf die soziale Funktion abstellen. Allerdings beruht diese Einschätzung darauf, dass für uns andere Entwicklungen per se schlecht sind, dass also alle Menschen sozial sein müssen.

    Nun sind Extremformen des Autismus in der Natur nicht wahrscheinlich, denn die entsprechend starken Antibiotika sind Menschenkreationen. Das Prinzip aber könnte auch bei reinen Nahrungswechseln vorkommen – und so stellte es sich in der Arte-Reportage ja für gewisse Einwanderer dar. Bei denen lag es nur an der Nahrungsumstellung.

    Wird nun ein Mensch weniger in die Gruppe eingebunden, dann ist er auch eher bereit, Risiken einzugehen und neue Gebiete zu betreten (wörtlich oder sinnbildlich). Jedes derartige Betreten birgt aber neben den Risiken auch Chancen für neue Entwicklungen zugunsten der gesamten Gruppe.

    In meiner Hypothese würde also die Verbindung zwischen Stoffwechsel und Gehirn auch dafür sorgen, dass dem Menschen der Kontakt zu anderen Menschen nicht gleichermaßen wichtig (und bewusst) ist. Sie haben also weniger Probleme, unangenehm aufzufallen – und wer neue Theorien entwickelt fällt auf. Sprich (leicht) autistische Menschen sind eher geneigt, die tradierten Formen zu hinterfragen. Dieses Hinterfragen ist aber gerade dann sinnvoll, wenn die bisherige Lebensweise nicht so einfach fortgeschrieben werden kann, was dem Einzelnen eben auch über den Stoffwechsel signalisiert wird.

    Wir kennen derartige Anpassungen bei verschiedenen Bakterien oder Viren, dort können wir sie auch leichter untersuchen (siehe gerade jetzt die Ausführungen von Lars Fischer zu Resistenz ohne Resistenz – die ungewöhnliche Widerstandskraft der Biofilme). Und eine derartige Rückwirkung der Umwelt(entwicklung) auf den Menschen scheint mir ebenfalls möglich – etwa in den verschiedenen Formen des Autismus, umso mehr als viele Autisten auf anderen Gebieten weit überdurchschnittlich begabt sind. Vermutlich wird eben nur der Schwerpunkt der Gehirnleistung verschoben.

    Und diese Rückwirkung wird auch plausibel, wenn man auf die neueren Erkenntnisse zur Bedeutung von Darmbakterien auf das Verhalten und Entwicklung insgesamt schaut. Beim Menschen sind derartige Unterschiede nur in Teilgebieten bekannt – etwa die Differenzen zwischen Normalgeburten oder Kaiserschnitten. Einen recht aktuellen (dem Laien aber wohl nur viel guten Willen zugänglichen) Überblick bieten: Sekirov, Inna; Russell, Shannon L.; Antunes, L. Caetano M.; Finlay, B. Brett (2010): Gut microbiota in health and disease. In: Physiological Reviews 90 (3), S. 859–904.

  106. @Noït Atiga

    Mir ging es um etwas anderes. Autismus ist nicht gleich Autismus. Die frühkindliche Form scheint auf ganz anderen Ursachen zu beruhen als das Asperger-Syndrom. Der frühkindliche Autismus scheint eine echte Erkrankung zu sein, während Asperger eher nach einer genetischen Disposition ausschaut.

    Die von Ihnen angestellten Überlegungen (neue Gebiete erschließen, nützliche Sonderbegabungen, etc.) können eigentlich nur Menschen mit Asperger betreffen. Hier scheint auch die Vorstellung zu passen, dass das Asperger-Syndrom ein Grenzfall des sozialen Verhaltensspektrums ist. Der andere Grenzfall wäre vielleicht die Distanzlosigkeit. Und irgendwo dazwischen wären dann all die normalen, also nicht krankhafte Ausprägungen des Sozialverhaltens angesiedelt.

    Der frühkindliche Autismus ist eine ganz andere Baustelle. Wenn mich nicht alles täuscht, haben solche entwicklungsgestörte Kinder an der Norenzayan-Studie nicht teilgenommen.

  107. @Balanus

    Möglicherweise ist Autismus nicht gleich Autismus, möglicherweise ist aber Autismus doch gleich Autismus nur mehr oder weniger stark ausgeprägt. Für letzteres spricht aus meiner Sicht gerade die Tatsache, dass die diagnostische Unterscheidung im wesentlichen über die Intensität der Beeinträchtigung (etwa im Hinblick auf die Sprache) erfolgt.

    Und was die Ursachen angeht scheint es keine eindeutigen Ergebnisse zu geben. Man vermutet eine genetische Ursache, denn es gibt Hinweise auf ähnliche Probleme bei wenigstens einem Elternteil – aber warum und wann etwas ausgelöst wird, das scheint nicht ganz klar. Auch die Zwillingsstudien lassen (anders als bisher angenommen) wohl nicht immer auf genetische Ursachen schließen, denn die Zwillinge werden fast gleichzeitig von derselben Mutter geboren und erhalten damit bei der Geburt eine nahezu identische Darmflora mit. Und deren Einflüsse wurden bisher noch kaum allgemein wahrgenommen. Außerdem stellt sich zunehmend die Frage, ob nicht auch viele “echte Erkrankungen” eine potentiell positive Anpassungsleistung sind.

    Natürlich bedarf es für die Rückwirkung auf die Gruppe gewisser Kommunikationsfähigkeit. Nur: das muss nicht immer Sprache sein, sondern das kann auch ein Zeigen sein oder ein gelungener Selbstversuch etc.

    Mir scheint es daher Grenzfälle nur in unserer Vorstellung zu geben – in der “Wirklichkeit” scheint mir alles eher auf ein Spektrum von Entwicklungsvarianten hinzudeuten. Obwohl Sie heute auch dann noch Recht haben: Die Chance einer Rückwirkung auf unsere heutige Gesellschaft ist beim Asperger-Syndrom deutlich höher. Aber das kann sich ja ändern. (Muss sich vielleicht ändern?)

    In der Studie ging es nur einer von 4 Teilstudien um Autisten selbst. Für diese nur 12 Personen sprechen die Autoren aber von Autism nach DSM-IV – und damit wohl (die genaue Nummer habe ich dort nicht gefunden) vom wirklichen Autismus, und nicht vom Asperger-Syndrom. In den anderen Teilstudien wurden einmal Psychologie-Studenten und zweimal Amerikaner verschiedener Pools ausgewählt und nach einem Standard-Test beurteilt. Hier wurden also wirklich nur Merkmale als Korrelationen untersucht.

  108. @Noït Atiga

    Stimmt, in Studie 1 wurden vermutlich doch Jugendliche mit frühkindlichem Autismus befragt, soweit das eben möglich war.

    Das bekräftigt dann meinen Einwand weiter oben, dass man strikt trennen sollte zwischen behandlungsbedürftigen Erkrankungen (Studie 1) und normalem Sozialverhalten (Studien 2, 3 und 4).

  109. @Balanus

    Inwiefern die Studie nun Ihre Schlussfolgerung bestätigen soll verstehe ich nicht. Die Ergebnisse unterscheiden sich ja nicht – und das spricht doch für Kontinuität.

    Und zur Normalität: Die ist eine Definition der jeweiligen Gesellschaft. Gerade Psychologen sind davon überzeugt, dass in unserer westlichen Gesellschaft psychisch Kranke oft die eigentlich Gesunden in einem kranken Umfeld sind (was übrigens die Zunahme von psychischen Erkrankungen sehr elegant erklären würde.).

    Bei Autismus ist das vielleicht etwas anders, aber auch da kann man sich fragen, ob ein Weniger an Täuschung und ein Mehr an Offenheit nicht sogar menschlicher wäre. Schließlich sind kleine Kinder sehr offen. Das Täuschen lernen sie erst von den Erwachsenen. Und gerade über Kulturgrenzen hinweg sind wir auf Offenheit, auch in Gefühlen, angewiesen – denn unsere antrainierten Erkennungen funktionieren dann nur noch für Basis-Emotionen.

  110. @Noït Atiga

    »Inwiefern die Studie nun Ihre Schlussfolgerung bestätigen soll verstehe ich nicht. Die Ergebnisse unterscheiden sich ja nicht – und das spricht doch für Kontinuität.«

    Es geht mir nicht so sehr um die Ergebnisse der Studie, sondern um Ihre Idee, dass Autismus möglicherweise eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen ist. Und auch darum, dass echter Autismus (Studie 1) eine schwere neurologische Entwicklungsstörung ist, während eine Abneigung gegen enge soziale Kontakte (Studien 2, 3, und 4) in aller Regel keinen Krankheitswert hat.

    Dieser fundamentale Unterschied wird in dem Paper durch die Ermittlung eines “Autismus-Scores” in der Normalbevölkerung verwischt. Im Grunde haben wir es hier mit der Pathologisierung breiter Bevölkerungsschichten zu tun, wenn normal entwickelten Menschen autistische Züge oder Tendenzen zugeschrieben werden. Gleichzeitig ist dieses Vorgehen geeignet, die Schwere des autistischen Krankheitsbildes zu verharmlosen.

    Und wenn von einer “Kontinuität” der Studienergebnisse gesprochen wird, so steckt m. E. dahinter die Vorstellung, Nichtreligiosität habe bei Gesunden im Wesentlichen die gleichen Ursachen wie bei Autismuskranken, nämlich eine defizitäre soziale Kontaktfähigkeit.

  111. @Balanus

    Vorweg: Für mich und meine Entwicklung ist jeder Mensch in seiner Individualität genauso bedeutsam – egal ob hochintelligent oder soziales Genie oder Autist jeder Form oder hochgradig Behinderter oder Schwerstkranker oder Gewalttäter oder Strenggläubiger oder Atheist oder …

    Insofern finde ich das Motto von Konfuzius noch immer unübertroffen: “Wenn du einen Würdigen siehst, dann trachte ihm nachzueifern. Wenn du einen Unwürdigen siehst, dann prüfe dich in deinem Innern!”

    Und ich lese das so, dass uns jeder Mensch und jedes Wesen in unserer eigenen Entwicklung helfen kann – egal, was wir über ihn oder es denken.

    Und Ja. Wir bezeichnen den Autismus als schwere Entwicklungsstörung – aber diese Störung ist eine Reaktion auf Umweltbedingungen, und das ganz unabhängig von den Gründen. und ja, wir bezeichnen schwere Formen als Krankheit, weil wir uns darin keinen Sinn vorstellen können. Aber damit maßen wir uns etwas an, das uns nicht zusteht – denn wer sagt uns denn, dass diese (oder einige dieser) so “Kranken” sich nicht eigentlich gut fühlen und ihr Unbehagen nur durch unsere Rückwirkung auf sie entsteht? (Für psychisch Kranke ist man heute fast dieser Meinung.)

    Und ja. Aus meiner Sicht beruhen autistische Züge auf einer Kontinuität im menschlichen Verhalten. Im sogenannten Normbereich wollen das ja auch Sie nicht bestreiten. Warum dann bei ausgeprägteren Formen?

    Und ja – ich meine Ihr Problem zu verstehen: In Ihrer Sicht erscheinen Nichtreligiöse dann als Kranke, denn andere Kontatkfähigkeit ist in diesem Bild ein Mangel. Weil nun aber diese andere Kontaktfähigkeit mit Nichtreligiosität einhergeht, darum werden Atheisten als krank eingestuft.

    Aber dieses Problem lösen wir nicht, indem wir von prinzipiellen Unterschieden zwischen schweren Störungen und leichten Abweichungen ausgehen, also eine Schranke einführen zwischen dem “Normalen” und dem “Abwegigen”. Nein, dieses Problem können wir nur lösen, indem wir unsere Gesellschaft wirklich integrativ gestalten und leben, indem wir von und mit ALLEN MENSCHEN lernen, ganz egal wie anders (oder gar falsch) sie uns erscheinen …

  112. @Noït Atiga

    Dass Ihnen alle Menschen gleich viel bedeuten, habe ich schon mitgekriegt. Finde ich gut.

    Weniger gut fände ich, wenn man vor lauter Achtung vor dem Anderssein eines Menschen diesem die Hilfe verweigern würde. Ein autistisches Kind ist möglicherweise nicht weniger glücklich als ein nicht-autistisches Kind. Aber ich verstehe die Eltern, wenn sie alles versuchen, um den Zustand ihres Kindes in Richtung “Normalität” zu verändern. Aber vielleicht ist es ja auch purer Egoismus, wenn sie das versuchen.

    Die Definition einer Krankheit ist manchmal problematisch. Am sichersten ist da vermutlich die Eigendiagnose. Wenn ich mich krank fühle, bin ich krank, auch wenn kein objektiver Befund das bestätigen kann.

    Bei manchen neurologischen oder psychischen Erkrankungen merkt der Betroffene gar nicht, dass ihm etwas fehlt, er selbst fühlt sich gesund.

    Autismus ist per Definition eine Erkrankung, der Begriff bezeichnet einen besonderen Zustand, der die Betroffenen hilfebedürftig macht.

    Aber selbst, wenn wir den Krankheitsstatus wegließen, und Autismus als eine seltene, aber normale Entwicklungsvariante ansähen, würde das an der Hilfebedürftigkeit der Betroffenen nichts ändern. Und die Rede von “autistischen Zügen” würde dann auf Verhaltensmerkmale verweisen, die bei bestimmten Hilfebedürftigen die Regel sind. Viel gewonnen wäre damit wohl nicht.

    Hinzu kommt, dass bei frühkindlichem Autismus, wenn die neueren Hypothesen stimmen, eine adäquate Pharmakotherapie womöglich dafür sorgen könnte, dass das Kind sich wieder der Außenwelt zuwenden kann. Auch das sprich eigentlich gegen die Vorstellung, dass Autismus das Ergebnis einer normal verlaufenden Entwicklung sein kann.

    »Und ja – ich meine Ihr Problem zu verstehen: In Ihrer Sicht erscheinen Nichtreligiöse dann als Kranke, denn andere Kontatkfähigkeit ist in diesem Bild ein Mangel. Weil nun aber diese andere Kontaktfähigkeit mit Nichtreligiosität einhergeht, darum werden Atheisten als krank eingestuft.«

    Zu solch merkwürdigen Schlüssen könnte man aufgrund der Studien kommen, weil sie eine Verbindung herstellen zwischen Autismus und Atheismus. Das ist das Problem. Dass diese Schlussfolgerungen falsch sind, liegt auf der Hand, schließlich ist Atheismus ein weit verbreitetes Phänomen, während echter Autismus ziemlich selten vorkommt.

    »Aber dieses Problem lösen wir nicht, indem wir von prinzipiellen Unterschieden zwischen schweren Störungen und leichten Abweichungen ausgehen, also eine Schranke einführen zwischen dem “Normalen” und dem “Abwegigen”.«

    Diese Schranke ist genau dort, wo wir erkennen, dass Menschen besondere Hilfe brauchen.

  113. @Balanus: Fast einig 😉

    Wenn ich mich krank fühle, bin ich krank, auch wenn kein objektiver Befund das bestätigen kann.

    Das ist mir auch die beste Definition, zumal wenn Menschen (sich selbst) wirklich fühlen können. Das Problem der neurologischen oder psychischen Erkrankungen löst sich dann auch recht einfach, denn Menschen sind in ein Netz eingebunden – und wenn das Netz Veränderungen merkt und nicht übergeht, dann kann man das problematisieren und der “Kranke” kann sich seines Zustandes bewusst werden, ob er ihn dann ändern will, das ist dann seine Sache.

    Daher bin ich auch gegen jedes aktive Ziehen hin zur “Normalität”. Das mag zwar gut gemeint sein, ist aber nicht gut gemacht. Langfristig hat das bisher (ob bei Kindern oder bei Erwachsenen) nur zu Problemen geführt, die aber leider nur selten mit diesem Ziehen verbunden werden (Diskutiert wird das aktuelle etwa bei Intersexualität). Pflanzen etwa würden wir auch nie mit Macht ziehen, dann gehen sie nämlich ein. Vielmehr bieten wir ihnen einen Rahmen, in dem sie sich entwickeln, oder aber einen Stamm, an den sie sich anlehnen können. Beides scheint mir bei Kindern ebenfalls die einzig sinnvolle Lösung – wenn sie nämlich diesen Freiraum haben, dann schauen sie sich den Rest sowieso von ihrem Umfeld ab und können das auch ganz gut bewerten (meist umfassender als Erwachsene, deren Brillen oft schon auf gewissen Bereichen blind sind).

    Auch bei Autisten bin ich daher gegen die meisten der aktuellen “Hilfen”. Sie sind nun einmal so, wie sie sind – und wenn wir sie mit Macht vereinnahmen, dann werden sie nur noch unglücklicher. Viel besser ist das, was die Eltern von Störk gemacht haben: Den Lehrern (und anderen) klar machen, dass die Kinder lernen wollen – aber eben anders als die Lehrer das wollen. Und dann wird das Kind von selbst die Nähe suchen und ggf. auch die Hilfe, die es aus eigener Perspektive braucht. Es wird Fragen stellen, um Anleitung bitten etc. Und wenn das vom Kind ausgeht, dann sollen wir Erwachsenen natürlich da sein – solange das vom Kind gewünscht wird. Und dass Autisten einen anderen Umgang pflegen, darauf könnten und sollten wir “Normalen” uns einstellen – dann respektiert man eben eine größere Distanz und dann versucht man eben Gefühle zu verbalisieren etc.

    Daher: Niemand ist hilfebedürftig, allenfalls kann sich jemand Hilfe wünschen! (Oder es liegt ein Unfall bzw. Bewusstlosigkeit vor.) Allenfalls können und müssen wir gewisse Beziehungen anders angehen. Und viele Probleme würden gar nicht erst entstehen, wenn die “Kleinen” nicht oft so stark verbogen würden. Selbst beim frühkindlichen Autismus scheint ja ein Verbiegen der Auslöser zu sein, das man dann reparieren muss. Also sollte man vielleicht einfach mit Antibiotika vorsichtiger sein – dann brauchte es keine Korrektur (oder zumindest seltener).

    Und damit bin ich doch hinsichtlich der beiden letzten Absätze nicht ganz Ihrer Meinung. Ich glaube, dass Extreme generell seltener vorkommen als Abweichungen im Normalbereich (Gauß-Kurve) – aber doch darum nicht ein prinzieller Unterschied vorliegt. Und wenn wir eine Schranke einführen wollen – dann nicht dort, wo wir zu erkennen meinen, dass jemand Hilfe braucht. Sondern allenfalls dort, wo diese(r) Jemand ebendiese Hilfe verlangt.

  114. @Noït Atiga — Eins noch…

    »Und wenn wir eine Schranke einführen wollen – dann nicht dort, wo wir zu erkennen meinen, dass jemand Hilfe braucht. Sondern allenfalls dort, wo diese(r) Jemand ebendiese Hilfe verlangt. «

    Ich hatte bei meinen Formulierungen insbesondere an die Kinder aus der arte-Dokumentation gedacht. Da kann oder darf man nicht warten, bis Hilfe “verlangt” wird. Es gibt reichlich Fälle und Situationen, wo keine Hilfe verlangt wird oder verlangt werden kann, aber moralisch geboten ist.

    Zur Gauß-Kurve: Nehmen wir irgendwelche Blutwerte. Da gibt es einen Normbereich. Wenn die Werte weit genug außerhalb der Norm liegen, vermuten wir — meist zu Recht — eine krankhafte Veränderung. Diese seltenen Extremwerte unterscheiden sich von den Normwerten aufgrund ihrer Ursache. Darin liegt für mich der “prinzipielle” Unterschied zwischen diesen Werten.

  115. @Balanus: Arte ja

    Bei den Arte-Kinder bin ich ganz bei Ihnen, aber dort geht es um Reparatur einer seitens der Ärzte (Antibiotika) bzw. Eltern (anderes Essen) verursachten Störung.

    Und natürlich gibt es Unfälle oder Situationen, wo die Hilfe nicht verlangt werden kann. Aber auch dann kann man sie anbieten, ohne sie aufzudrängen. Die Übergänge sind fließend, die Unterscheidung teils subtil, aber für die Betroffenen oft entscheidend…

    Und bei den Blutwerten will ich nicht bezweifeln, dass es prinzipielle Differenzen geben kann – vieles ist aber auch da im Fließen.

  116. Religion als soziales Phänomen

    Vielen Dank für die Idee, Religion als sozial zu betrachten. Ich habe es bislang immer von einer individuellen Position aus betrachtet, und aus der hat die weite Verbreitung dieser scheinbar bestenfalls nutzlosen Meme für mich nie einen Sinn ergeben (es wirkt dann wie das sprichwörtliche “Klatschen mit einer Hand”).

    Es scheint mir aber ein sehr nützliches Mittel zu sein, um seine Mitmenschen davon zu überzeugen, dass man grundsätzlich vertrauenswürdig ist und ihre Moralvorstellungen teilt. Auf direktem Weg ist das extrem schwierig (wenn jemand immer wieder beteuert wie ehrlich er ist, bin ich erst mal sehr misstrauisch), aber gleichzeitig kann eine Gesellschaft ohne Vertrauen nicht funktionieren – hierzu empfehle ich Bruce Schneiers “Liars and Outliers”.
    Wenn ich die ganzen Rituale mitmache und den Eindruck erwecke, den mythologischen Teil der Religion für wahr zu halten, gehen meine Mitmenschen davon aus, dass ich mich auch an die moralischen Vorgaben der Religion halte, und dass es sicher ist, mit mir Geschäfte zu machen. Insofern haben religiöse Leute in einer Gesellschaft in der ihre Religion bekannt und verbreitet ist einen handfesten evolutionären Vorteil.
    HINWEIS: Meine Darstellung liest sich jetzt so, als sei das nur ein “Trick” und Religiosität würde bloß geheuchelt, um andere reinzulegen. Aber das meine ich nicht. In den allermeisten Fällen ist dieser Mechanismus den Anwendern wohl überhaupt nicht bewusst. Dass allerdings viele Leute in der Kirche bleiben und die Rituale mitmachen, obwohl sie längst den Glauben verloren haben zeigt aber mE, dass es ihnen zumindest instinktiv klar ist.

  117. @Autolykos: Richtige Spur

    Herzlich willkommen auf NdG – und interessanterweise haben Ihre Überlegungen Sie tatsächlich in die Richtung des vorliegenden Forschungsstandes geführt. Ich denke z.B., dass Sie Freude an dieser Zusammenfassung haben könnten:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…n.pdf

    Auch sonst wünsche ich Ihnen viel Freude beim Stöbern und Lesen, gerne auch beim Mit-Diskutieren!

  118. Autismus und Fußball /@Noït Atiga

    »Bei den Arte-Kinder bin ich ganz bei Ihnen, aber dort geht es um Reparatur einer seitens der Ärzte (Antibiotika) bzw. Eltern (anderes Essen) verursachten Störung.«

    Die Ursache des frühkindlichen Autismus war anfangs doch gar nicht bekannt, erst nach und nach kam man drauf, dass diese Autismusform möglicherweise nicht nur eine idiopathische Erkrankung ist (was für Sie noch unter normale Entwicklung fällt), sondern auch iatrogen (Antibiotika) oder idiosynkratisch (Nahrungsmittelzusätze) verursacht werden könnte.

    Hätten die Eltern und Ärzte den Autismus als gottgegebene Entwicklungsvariante gesehen und nicht als krankhafte Entwicklung, wäre man auf diese möglichen Ursachen gar nicht gestoßen.

    Zurück zur Logik der Studie:

    Zurzeit sind viele Wagen mit Deutschlandfähnchen geschmückt. Warum nicht alle? Was sind das für Menschen, die ihren Wagen nicht schmücken?

    Machen wir eine kleine Studie. Zunächst befragen wir autistische und neuro-typische Jugendliche und stellen fest, in der Gruppe der Autisten ist die Begeisterung für Fußball signifikant geringer ausgeprägt als in der neurotypischen Gruppe.

    Sodann ermitteln wir in der Bevölkerung die Fußballbegeisterung und den Autismus-Score. Wie erwartet finden wir, dass die Fußballbegeisterung mit zunehmendem Autismus-Score abnimmt.

    Daraus kann man schließen: Menschen, denen an Fußball nichts liegt und während der EM ihr Auto nicht schmücken, haben einen Hang zum Autismus.

    Zuletzt publizieren wir die Ergebnisse unter dem Titel: „Mentalizing Deficits Constrain Enthusiasm for Soccer“

  119. @Balanus: Doch und: Warum nicht?

    Hätten die Eltern und Ärzte den Autismus als gottgegebene Entwicklungsvariante gesehen und nicht als krankhafte Entwicklung, wäre man auf diese möglichen Ursachen gar nicht gestoßen.

    Doch, denn mich stört ja gar nicht die Suche nach Ursachen – sondern mich stört die Bezeichnung der Person als krank und die damit einhergehende Suche nach Fehlentwicklungen in ihr.
    Jeder ist wie er ist.
    Und was wir allein tun können, ist in unserem Verhalten nach Ursachen zu suchen, unser Verhalten an die anders Erscheinenden anzupassen. Damit bauen wir ihnen nämlich wirliche Brücken zu uns – und bei den Arte-Kindern hätte man dann die Ursachen sogar schneller gefunden, hätte man doch nicht erst soviel an ihnen herumgedocktert, sondern wäre gleich auf die Änderungen der Umwelt gestoßen.

    Und wenn wir in unserem Verhalten wirklich keine Fehler finden, dann sollten wird auch nicht an den Andersartigen herumziehen, um sie irgendwie “normal” zu bekommen. Das ist auch moralisch nicht geboten, es sei denn dieser Andersartige fragt aktiv derartiges nach. (Zu den Problemen, die auch bei Erwachsenen aus “überzeugter Hilfe” entstehen, siehe etwa Günter M. Ziegler mit Happy Birthday, Dr. Turing!.)

    Und zur Fußball-Studie: Ich fände das ganz interessant und hätte nichts dagegen einzuwenden – soweit dort (wie bei der von Michael Blume zitierten Studie) klar herausgestellt wird, dass man nur Korrelationen untersucht hat. Dass es sich also hinsichtlich der Ursachen nur um Vermutungen handelt. Meine Vermutung ist aber etwas anders (siehe bei Eva Bambachs Kathedralen für den Fußball – Stadien für den akustischen Rausch).

  120. @Noït Atiga

    »Doch, denn mich stört ja gar nicht die Suche nach Ursachen – sondern mich stört die Bezeichnung der Person als krank und die damit einhergehende Suche nach Fehlentwicklungen in ihr.«

    Auch mir geht der Begriff „krank“ leichter über die Lippen, wenn ein Mensch eine Infektion durchmacht oder einen Herzinfarkt erlitten hat.

    Entwicklungsstörungen sind eine andere Kategorie, besonders, wenn sie die Psyche oder geistige Fähigkeiten betreffen. Hier ebenfalls von „Krankheiten“ zu sprechen, ist oftmals verfehlt. Aber deshalb gibt es ja diese Begriffe wie Sprachstörung oder Wachstumsstörung.

    Wobei natürlich nicht von vorneherein feststeht, wann eine Störung oder ein Defizit vorliegt, und ein Mangel ist noch keine Krankheit. Wohl aber eine Abweichung von einer definierten Norm.

    Dennoch: Im Falle des frühkindlichen Autismus sieht es ganz danach aus (siehe Arte-Dokumentation), dass eine Art Überempfindlichkeitsreaktion zu dieser Störung führt. Die Suche nach den Krankheitsursachen beginnt eigentlich immer im betroffenen Individuum.

    Was nun eine defizitäre Entwicklung angeht, in diesem Punkt stimme ich der besprochenen Studie ausdrücklich zu, frühkindlicher Autismus geht in der Regel einher mit bestimmten kognitiven Defiziten. Was ich bezweifle, ist die Annahme, dass breite Teile der Bevölkerung ebenfalls solche kognitiven Defizite aufweisen.

    „Klar herausgestellt“ (siehe Titel) wird in dieser Studie in erster Linie, dass Mentalisierungsdefizite den Glauben an einen personalen Gott einschränken – und das nicht nur bei autistischen Kindern.

    »(Zu den Problemen, die auch bei Erwachsenen aus “überzeugter Hilfe” entstehen, siehe etwa Günter M. Ziegler mit Happy Birthday, Dr. Turing!.)«

    Sexuelle Orientierung und irregeleitete Moralvorstellungen sind weit ab vom Thema. Bei Turing gab es weder irgendwelche Entwicklungsstörungen noch kognitive Defizite.

  121. @Balanus

    Sexuelle Orientierung und irregeleitete Moralvorstellungen sind weit ab vom Thema.

    Genau das bestreite ich – denn das wurde damals unterschiedslos als KRANK bezeichnet. Und damit ist es für mich eine treffende Illustration für die fehlgeleitete Verwendung dieser Bezeichnung. Auch wenn wir sie in diesem Bereich heute glücklicherweise nicht mehr verwenden. Aber: Wir können jede Definition nur an unserer Norm kontrollieren – und unsere Norm kann genauso gut falsch sein wie richtig. Beispiele dazu gibt es reichlich, aber das kann immer erst im Nachhinein beurteilt werden.

    Und ich glaube (nicht allein), dass ein Problem der aktuellen Medizin gerade darin besteht, dass sie mit ihrer Suche fast ausnahmslos im Patienten beginnt. Vieles kommt ja von außen – selbst beim Herzinfarkt sind Stress oder Wut Hauptauslöser, und die kommen aus dem Umfeld.

    Auch bei den Auswirkungen von Autismus auf die Kognition würde ich die Bezeichnung kognitive Differenzen vorziehen. Und ähnliche, wenn auch weniger ausgeprägte Differenzen bestehen auch bei breiten Teilen der Bevölkerung.

    Un Auslöser des Autismus sind nicht Überempfindlichkeiten, sondern abweichende Empfindlichkeiten. In unserer heutigen Welt sind sie auf den ersten Blick dysfunktional – aber sie hatten früher wohl sinnvolle Funktionen (etwa als frühe Warnung vor potentielle giftigen Substanzen) und könnten sie auch heute haben. Gerade der auf Antibiotika-Gabe entstehende Autismus ist ein Hinweis auf das Risiko solcher Behandlungen – nicht nur bei Kindern. Und dieses spezifische Risiko wurde bisher kaum beachtet. Oder die andere Ernährung als unübersehbarer Hinweis auf die Verbindung von Hirnfunktionen mit der Art der Nahrung.

    Beim Titel der Studie haben Sie recht – aber das ist ein gesellschaftliches Problem, denn mit abwägenden Titeln wird man nicht mehr gelesen. Man muss übertreiben – aber die Autoren stellen im Text die Einschränkungen dar und damit relativieren sie ihren Titel. Ich habe mir daher abgewöhnt, irgendetwas nur aus einem Titel abzuleiten.

  122. @Noït Atiga

    »Wir können jede Definition nur an unserer Norm kontrollieren – und unsere Norm kann genauso gut falsch sein wie richtig.«

    Ein gewisses Restrisiko bleibt immer. Ist halt die Frage, welchen Art Fehler wir im Zweifel begehen möchten.

    Wenn wir eine Entwicklung als normgerecht und deshalb als nicht therapiebedürftig betrachten, sie aber in Wirklichkeit aberrant und darum therapiebedürftig ist, begehen wir einen Fehler der ersten Art.

    Wenn wir aber eine Entwicklung als aberrant und deshalb als therapiebedürftig betrachten, sie aber in Wirklichkeit normgerecht und darum auch nicht therapiebedürftig ist, begehen wir einen Fehler der zweiten Art.

    Welcher Fehler würde oder könnte dem Individuum wohl mehr Schaden zufügen, wenn der Grundsatz gilt: „Primum nil nocere“?

    »Vieles kommt ja von außen – selbst beim Herzinfarkt sind Stress oder Wut Hauptauslöser, und die kommen aus dem Umfeld.«

    Entscheidend ist, wie ein Organismus mit dem, was von außen kommt, umgeht, wie er darauf reagiert bzw. reagieren kann. Eine bestimmte Menge einer Substanz X kann für einen Organismus harmlos, allergen oder giftig sein.

    »Auch bei den Auswirkungen von Autismus auf die Kognition würde ich die Bezeichnung kognitive Differenzen vorziehen.«

    Das ist halt sehr allgemein, man will ja wissen, welche Differenzen es zum Nicht-Autismus gibt.

    Und klar gibt es kognitive Differenzen unter den Menschen, sogar erhebliche. Bevor hier etwas als defizitär oder als überentwickelt, also außerhalb der Norm, bezeichnet wird, muss in der Regel schon eine erhebliche, ja fast klinisch relevante Differenz vorliegen. Und ja, es ist eine Frage der Definition, die irgendwann auch mal an neuen Erkenntnissen angepasst werden kann.

    »…mit abwägenden Titeln wird man nicht mehr gelesen. Man muss übertreiben…«

    Nicht in Fachjournalen, dort ist es schlechter Stil (nun gut, bei PLoS ONE ist das vielleicht anders… wäre schade, wenn’s stimmte…)

  123. @Balanus

    Ein gewisses Restrisiko bleibt immer. Ist halt die Frage, welchen Art Fehler wir im Zweifel begehen möchten.

    Nein. Die Frage ist, ob wir unsere Sicht anderen aufdrängen oder ob wir uns mit der Sicht Anderer beschäftigen. Im letzten Falle gibt es keinen Fehler, denn wir nähern uns den Andersartigen wie der kleine Fuchs – und lernen voneinander wobei sich jeder jederzeit zurückziehen kann. Wir beobachten und verändern dann Beziehungen – nicht Personen, die Wir so leben lassen, wie sie möchten. Und wenn sich jemand ändern möchte, dann können und sollen wir helfen.

    Das ist halt sehr allgemein, man will ja wissen, welche Differenzen es zum Nicht-Autismus gibt.

    Ja, aber diese Differenzen kann man wertungsneutral untersuchen. Wissen wir denn, ob nicht die Narren eigentlich die wirklich Klugen sind?

  124. Gehirnforschung

    Also ich finde Gehirnforschung ein echt interessantes Gebiet. Da lern man so viel neues über den Menschen selbst hinzu.

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  127. Hallo Herr Blume,

    Ihr Zitat: “Eugenik, Sozialdarwinismen und die (pseudo-)wissenschaftlichen Lehren der Sozialisten wurden und werden zur Rechtfertigung unfassbarer Grausamkeiten heran gezogen.”

    Meiner Ansicht nach waren für den Sozialdarwinismus Haeckels Ideologie sowie mehrere Missverständnisse verantwortlich:

    Der biologische Rassismus ist vor allem Ernst Haeckel zuzuschreiben. Er setzte Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft gleich. Haeckel vertrat eine Ideologie der biologischen und zugleich intellektuellen Ungleichheit der Menschengruppen, aus der heraus er bestimmten Menschengruppen ihren Lebenswert absprach. Darwin hatte sich darauf beschränkt “Naturwissenschaftler” zu sein, während Haeckel Natur- und Kulturgeschichte als von den gleichen Prinzipien ausgehend betrachtete, die Demokratie ablehnte, den Imperialismus und die “germanische Rasse” verherrlichte, Euthanasie an geistig und körperlich behinderten Menschen forderte. Haeckels falsche Übertragung der Darwinschen Evolutionsbiologie auf gesellschaftliche Verhältnisse, nicht die Darwinsche Lehre selbst, bot den Nazis einen Anknüpfungspunkt. (Quelle: Darwin war kein Sozialdarwinist, Utz Anhalt)

    Beim Irrtum des biologischen Rassismus handelt es sich um für genetisch bedingt gehaltene, tatsächliche oder nur angenommene Differenzen zwischen Menschen als Anlass zu sozialer Trennung und Zurücksetzung bzw. Bevorzugung von Menschengruppen. Kulturelles und Geschichtliches wird ins Genetische umgemünzt. „Rasse“ ist im rassistischen Zusammenhang als sozialpsychologische Kategorie aufzufassen. Wo immer sog. „Rassenkonflikte“ zwischen Bevölkerungsgruppen aufbrechen, sind nicht Haut- oder Haarfarbe oder „Wesensverschiedenheit“ der Gruppen die Ursachen, sondern soziale Gegensätze und widerstreitende politische Interessen. Äußere Kennzeichen, sog. „Rassenmerkmale“, dienen dann als Erkennungsmarken, mit denen die Menschen der rassisch diskriminierten Gruppe ausgesondert werden. Für die Aussonderung sind aber nicht die Eigenschaften der betroffenen Gruppe ursächlich. Die der Fremdgruppe zugeschriebenen Merkmale werden vielmehr durch die Selbsteinschätzung bestimmt, welche die diskriminierende Gruppe von sich selbst hat. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild. (Quelle: http://www.spektrum.de/lexikon/biologie/rassismus/55707)

    Warum es sich bei dem von Spencer geprägten “Survival of the Fittest” bzw. in der Redensart vom Recht des Stärkeren um eine Fehldeutung bzw. um Missverständnisse handelt:
    1. Missverständnis: Macht als Recht zu definieren. Zum Glück gibt es noch andere Definitionen von Recht. In einem Rechtsstaat schützt es gerade die in der Durchsetzungsfähigkeit Schwachen vor den ausufernden Ansprüchen der Mächtigen. Ob die Justiz immer diesem Anspruch gerecht werden kann, steht auf einem anderen Blatt.
    2. Missverständnis: Biologische Fitness wird gleichgesetzt mit physischer Stärke und körperlicher Größe. Was die Fittesten sind, wird unter den jeweiligen ökologischen und sozialen Verhältnissen immer wieder neu getestet. Bei Nahrungsknappheit können das z. B. die Kleinsten und Genügsamsten sein. Sogar eine genetische Krankheit kann fitnessfördernd sein (Sichelzellenanämie).
    3. Missverständnis: Die Annahme, alles, was die Natur produziert, sei auch gut (naturalistischer Fehlschluss).
    (Quelle: Die Wurzeln der Kriege, Bernd Verbeek, vgl. S. 34 f.)

    Wie sehen Sie das?

  128. Ich möchte anmerken, einem Menschen wirft man krankhafte Ichbezogenheit(Atheist) vor und man denke mal, wenn der eifersüchtige Gott allein angebetet werden möge, ist dann auch er krankhaft ichbezogen? Man soll schließlich auch nach seinen Anweisungen handeln. Die Gottesfrage(im christlichen Sinne) stellt sich für mich ohnehin nicht. Man lese in der Bibel über das göttliche Wirken und Ei der daus gibt es kein göttliches Wirken mehr. Es sei denn, der Gläubige abstrahiert ins Blaue hinein Vorgänge, die er dann seinem Gotte zuschreibt, nur weil er keine rationale Erklärung hat.

    • Vielen Dank für Ihre Überlegungen, @Renatus. Mir scheint, dass diese Diskussionen vor allem um das Thema der Beziehungen kreisen. Und echte Beziehungen brauchen ja tatsächlich einerseits ein beziehungsfähiges Ich, andererseits auch ein beziehungsfähiges Gegenüber – wären also immer auch eine Frage der Balance. Dieses Spannungsverhältnis findet sich m.E. auch im sogenannten “Doppelgebot der Liebe” ausformuliert, in dem die Liebe zur Gottheit und die Liebe “zum Nächsten wie Dich selbst” (!) verknüpft werden.

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