Aus meinem Leben – Die Autobiografie von Meinhard Tenné
BLOG: Natur des Glaubens
Letzten Sonntag habe ich vor Freude ein paar Tränen verdrückt. Der Grund dafür war eine besondere Veranstaltung eines lieben Freundes: Meinhard Tenné (90 J.) stellte seine Autobiografie “Aus meinem Leben” vor, die er – der langjährige Vorstand der jüdischen Gemeinde in Württemberg – dem evangelischen Pfarrer Dr. Reiner Strunk erzählt hatte. Und die Vorstellung fand im “Stuttgarter Lehrhaus” statt, das sich – in der Tradition Martin Bubers – dem Dialog zwischen Juden, Christen, Muslimen und allen Menschen guten Willens verschrieben hat. Entsprechend groß und bunt war die Gästeschar bei diesem ganz und gar nicht gewöhnlichen Termin.
Das hervorragend geschriebene Buch schildert das Leben eines “echten Menschen”, der am 26. Mai 1923 in Berlin als Meinhard Teschner geboren wurde.
Seine Eltern betrieben eine erfolgreiche Schneiderei und hatten auch während der Wirtschaftskrise ihre Angestellten in Lohn und Brot halten können. Der fromme Großvater hatte ein koscheres Restaurant eröffnet und Meinhard zur Bar Mitzwa (dem jüdischen Vorbild der Konfirmation) einen Tenach (hebräische Bibel) vermacht, die dieser bis heute mit sich führt. Die Teschners waren deutsche Juden und selbstverständlich hatte auch Meinhards Vater Heinrich im ersten Weltkrieg treu für das Kaiserreich gekämpft. Entsprechend hatte sich die Familie – trotz zunehmender Schikanen und dem dringenden Warnungen der Mutter, die nach Palästina auszuwandern drängte – nicht vorstellen können, dass sich die Nazis mit ihrem mörderischen Hass durchsetzen würden. Ein ehemaliger Kriegskamerad, der inzwischen bei der SA war, warnte die Teschners am Tag der Reichspogromnacht vor der drohenden Verfolgung. So entkamen Vater Heinrich und Sohn Meinhard (15 J.) mit zwei Visas und dem Willen, den Rest der Familie nachzuholen, in die Schweiz – während der braune Mob auch ihre Wohnung und Existenz verwüstete. Doch die Schweiz schloss nun ihre Grenzen und verweigerte Mutter und Tochter die Ausreise, die also nach Holland flohen. Dort wurden sie von den vorrückenden NS-Truppen aufgegriffen – und im KZ Auschwitz ermordet.
Wer hätte dem Jungen lebenslange Bitterkeit und Hass verübeln können? Doch Meinhard beschritt einen anderen Weg: Über Frankreich und Belgien gelangte er ins neu gegründete Israel und diente in dessen Armee bis hinauf in den Rang eines Hauptmanns. Den deutschen Namen Teschner änderte er ins hebräische Tenné, verwahrte sich jedoch gegen jede Form des pauschalen Hasses – sei es gegen Deutsche oder Araber, gegen Muslime oder sonstwen. “Wir sind alle Menschen” – dieser Linie ist er bis heute, auch aufgrund seiner religiösen Wurzeln, treu geblieben. Der legendäre Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek holte ihn in die Stadtverwaltung – und bat ihn schließlich, von Zürich aus den Aufbau des israelischen Tourismusamtes mitzugestalten. Als schließlich nach der Aufnahme deutsch-israelischer Beziehungen auch ein Büro in Frankfurt eröffnet werden sollte, willigte Meinhard ein, diese Aufgabe zu übernehmen. 1970 zog er mit seiner engagierten Frau Inge nach Stuttgart und stieg dort um 1990 zum Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) auf.
1998 setzte sich Meinhard mit zwei jungen Vorsitzenden der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG) Region Stuttgart zusammen – mit Murat Aslanoglu und mir. Wir drei verstanden uns sofort und engagierten uns fortan gemeinsam für den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen, etwa mit der Ausrichtung von “Abrahamsfesten” und der Konzeption eines “Haus Abraham”. Der Vater von drei Söhnen war auch bei jeder Segnung meiner drei Kinder dabei und bis heute treffen wir drei uns ein paar Mal im Jahr zu einem gepflegten Stammtisch der besonderen Art. Mein erstes sciebook “Religionen der Menschheit” habe ich daher nicht zufällig den beiden gewidmet. Und nun in seiner Autobiografie Erwähnung zu finden empfinde ich als große Ehre.
Aber auch nachdem Murat und ich beruflich, familiär und wissenschaftlich immer stärker gebunden waren, stellte der über 80jährige sein bewundernswertes, interreligiöses Engagement keineswegs ein! Gemeinsam mit dem christlichen Unternehmerpaar Lisbeth und Karl-Hermann Blickle sowie Reiner Strunk und vielen weiteren stellten sie das “Stuttgarter Lehrhaus. Stiftung für den interreligiösen Dialog” in der Paul-Gerhardt-Gemeinde auf die Beine. Hier können Sie auch ein Exemplar der eindrucksvollen Autobiografie für €19,90 bestellen – ich kann es wirklich nur empfehlen (und konnte hier selbstverständlich kaum einen Bruchteil des bewegten Lebens zusammen fassen).
Im Laufe der Jahre hatte Meinhard immer mal wieder das Eine oder Andere aus seinem Leben erzählt – aber es nun in so gesammelter Form zu hören und zu lesen, war dann doch etwas anderes. Ich schämte mich der Rührung nicht, als ich seine Schlusssätze las; weil es Sätze sind, die er nicht nur sagt, sondern lebt.
Da keiner von uns Menschen etwas dafür kann, wo er geboren wird, wie er aussieht, welche Augen- oder Haarfarbe er hat, welcher Religion oder Nationalität er angehört und in welcher Gesellschaftsschicht er hineingeboren wurde, sollten wir uns nicht gegenseitig bekämpfen, sondern besser kennen und verstehen lernen. Und ganz besonders sollten wir lernen, uns zu akzeptieren, wie wir sind, ohne den Versuch zu machen, andere unseren Glauben über zu stülpen. Wir sollten auf gleicher Augenhöhe umgehen miteinander und brauchen keinen Underdog. All dies im Wissen, dass wir mehr Gemeinsamkeiten haben, als uns bewusst ist, und auch im Glauben, dass wir alle die Geschöpfe des EINEN sind, im Sinne der Bibelübersetzung von Martin Buber, dem großen Förderer des christlich-jüdischen Gesprächs im Lehrhaus Stuttgart ab dem Jahre 1928.
In Bubers Übersetzung lautet Vers 18, Kapitel 19 aus dem dritten Buch der Thora, aus Wajikra – Leviticus: “Liebe Deinen Nächsten, denn er ist wie Du.”
Nach der Buchvorstellung fuhr ich mit meiner Familie zum Rosenstein-Naturkundemuseum. Wir bestaunten das Leben in seiner Vielfalt und die Kinder hatten viele Fragen etwa zur Evolution der Wale, der Schneckenhäuser und nicht zuletzt zur Evolution des Menschen. Während mich meine Tochter (11 J.) mit aufgeweckten Fragen löcherte, wurde mir bewusst, dass es ein sehr großes, jüdisches Lob ist, wenn jemand “ein echter Mensch” genannt wird. Denn damit ist – ganz im Sinne des biblischen Bildungsbegriffes – gemeint, dass sie oder er eben nicht nur vor sich hin lebt, sondern viele der guten Potentiale des Menschseins verwirklicht und zum Ausdruck gebracht hat.
Die Welt ist auch heute noch voller Dunkelheit, Angst und Hass, die sich gerne in immer neuen Verkleidungen präsentieren und gegen immer neue “Andere” richten. Doch wenn wir nicht aufgeben, kann – wird – das Licht immer wieder stärker sein. Das habe ich von einem echten Menschen gelernt.
Danke dafür, Meinhard.
Kritisch und ergänzend angemerkt die Meinung von Serap Çileli zu bestimmter Preisverleihung:
-> http://www.cileli.de/2013/11/fethullah-guelen-netzwerk-verleiht-deutschen-dialogpreis/
MFG
Dr. W (der allgemein einen schönen Mai wünscht!)
@Webbär
Aus eigener Erfahrung weiß ich nur zu gut, dass jedes Engagement für Dialog und Frieden immer auch Feinde und Hater auf den Plan ruft. Und natürlich Juden- und Islamverächter, die selbst zur Lebensleistung eines bedeutenden Menschen nicht einmal einen freundlichen Satz zu schreiben vermögen…
“Tagebücher” der Wissenschaft liefern ja nicht nur Sachinformation, sondern auch durchaus emotionale Erlebnisinhalte. Das betrifft gleichfalls Naturwissenschaften, wie man ja gelegentlich auf den entsprechenden Nachbarblogs lesen kann. Dass hier ein für Sie bewegendes Highlight stattfand, kann man schön nachvollziehen. Die prägnanten Hintergründe der Biografie von Meinhard Tenné fand ich nicht nur bemerkenswert, sondern – na ja “unbegreiflich”: Dass jemand, der ein solches Unrecht an den nächsten Angehörigen erlebte, als Konsequenz die Leitidee seines weiteren Lebens – “Wir sind a l l e Menschen” – verfolgte, hat mich ebenfalls emotional berührt. Dass er dabei ausdrücklich auch Deutsche einbezieht und für diese Leitidee jahrzehntelang aktiv war, zeigt eine erstaunlich lebenbejahende Resilienz.
Eine anderes Thema ist der von @webbär “unempathisch” vorgetragene Hinweis auf die dunkle Seite der Religionen – in diesem Falle Islam. Auch wenn ich wenig persönliche Kontakte zu Anhängern dieser Religion hatte, sind menschenverachtende Ereignisse mit Berufung auf islamische Dogmen auch hierzulande wohl kein Mythos, sondern Realität. Obwohl aus dem christlich-fundamentalist. Bereich, liefert die Betroffene pakistanischstämmige “Sabatina James”
m.E. glaubwürdige Veröffentlichungen – sie setzt sich ja auch für benachteiligte, verfolgte Christen in Pakistan ein
Nun, vielleicht ist es ja keine Illusion, dass innerhalb des Islam eine große Vielfalt besteht. Dann wäre die Hoffnung, das durch den von Meinhard Tenne angestoßenen und gelebten Dialog sich liberale Anschauungen des Islam in der “religiösen Evolution” durchsetzen.
Nachtrag: Ich glaube aus dem christl.-fundamentalistischent kommt der Islamwissenschaftler Th. Schirrmacher, der zwar einen kritischen, aber m.W. auch konstruktiven Dialog mit Muslimen führt.
– In diesem Sinne – noch einen schönen Brückentag –
Lieben Dank, @BetaPlus, für Ihre Gedanken.
Heute ist auch ein Artikel in der Jüdischen Allgemeinen zu diesem Anlass erschienen, der ggf. für die eine oder den anderen interessant sein könnte:
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/19000
Hier wird auch ausdrücklich gewürdigt, dass M.T. mit dem Dialogpreis ausgezeichnet wurde.
Die Frage was es heißt “Mensch” zu sein, ist untrennbar verbunden mit der Frage was es heißt ein “echter Mensch” zu sein. Danke für diesen (für mich neuen) Begriff am berührenden Beispiel Biografie gewordener Potenzialität von Herrn Tenne beschrieben.
Was mich (im Herzen) bewegt, verändert mich. Die (Lebens-)Kunst unmittelbarer Konfrontation und Begegnung mit “echtem” leben- und menschenverachtendem Hass durch “Fremde”, in sich und für sich zu transformieren und so wider zu spiegeln, dass sich “Teufelskreise” auflösen, “Neues” möglich wird, und der Hass selbst sich “leerläuft”, berührt mich tief.
Ich fühle mich dieser Art und Weise des Menschsein, im innersten Kern meines Herzens und des äußersten, was ich auszudrücken vermag verbunden. Diese Einübung von “echt-werden” bringe ich ohne weiteres in Verbindung mit dem was ich (und mit mir viele Menschen) schon immer als “heil” und “heilig” wahrnehmen.
An dieser Stelle finde ich es passend Dir Michael einmal ganz herzlich für diesen Blog, und die vielen wertvollen Impulse zu danken. Sie ermutigen zum “echt sein” und “echt werden”! 🙂
Vielen Dank, lieber Ingo, für diesen Kommentar und diese Rückmeldung! 🙂 #Berührt
Pingback:Trauer um Meinhard Mordechai Tenne (26.05.1923 – 29.09.2015) › Natur des Glaubens › SciLogs - Wissenschaftsblogs