Anatoliy Shapiro – der das KZ Auschwitz befreiende Sowjet-Offizier war ukrainischer Jude

Wann immer ich wie zum Volkstrauertag in Ellwangen 2023 oder im Podcast-Interview mit Rob Ogman über US-amerikanische und auch jüdische Soldaten spreche, bewirkt das bei vielen Deutschen Unbehagen. Viele wollen sich noch immer nicht damit auseinandersetzen, dass das Hitler-Regime nicht durch Feigheit und Appeasement, sondern durch überwiegend christliche, aber auch jüdische und muslimische Soldaten und Soldatinnen verschiedenster Nationen besiegt wurde. Auch als ich neulich über den antisemitischen und antideutschen Hass gegen eine Kirchengemeinde in Langenau berichtete, wurde dazu wieder ein Putin-verharmlosender und Ukraine-feindlicher Kommentar gepostet. Daher entschloss ich mich, zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz an Anatoliy Shapiro (1913 – 2005) zu erinnern. Hier ist sein Grabstein auf dem jüdischen Beth Moses-Friedhof in New York, Long Island.

Der Grabstein des ersten sowjetischen Offiziers, der das KZ Auschwitz erreichte: Anatoliy Shapiro. Unter einem Magen David und der englischen Aufschrift "Hero of Ukraine" finden wir das Geburtsdatum 18. Januar 1913 und das Sterbedatum 8. Oktober 2005. Die Ehrung lautet: Soldier, Hard Working Man, Poet. Darunter steht: We love you very much and mourn without measure. Your Wife and Children.

Foto des Grabsteines von Anatoliy Shapiro (1913 – 2005): GB77, Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 erfolgte durch die 60. Armee der 1. Ukrainischen Front. Major Anatoliy Shapiro, Kommandeur einer Spezialeinheit des 106. Infanteriekorps, gilt als jener Soldat und Offizier, der das Tor zum Stammlager Auschwitz I öffnete. Noch im Januar 2005 erzählte er von dem Grauen, das seine Männer und er dann erwartete.

Shapiro war 1913 in eine jüdische Familie im russischen Zarenreich in Konstantinograd im Gouvernement Poltawa in der Ukraine geboren worden. Er war später sogar Abgeordneter in einem Stadtsowjet und Offizier der sowjetischen Armee – aber eben kein Russe. Seine ukrainische und jüdische Identität hatte er tunlichst hintan zu stellen. Schon der späte Stalin (1878 – 1953) schürte mörderischen Antisemitismus. 

Und doch steht heute unter dem Davidstern (hebr. Magen David) auf Shapiros Grabstein auch “Hero of Ukraine – Held der Ukraine”. Dies war möglich, weil er 1992 in die USA auswandern und dort endlich seine religiöse wie auch ethnische Identität ohne Furcht leben konnte. Denn wenn es Tyrannophile auch nicht wahrhaben wollen – es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Demokratien und Diktaturen. Er besteht aus Freiheit und also Würde.

Wenn Sie also zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz nicht in den üblichen “Nie wieder Krieg”-Gedenkroutinen verharren, sondern wirklich über die Art, wie Antisemiten besiegt und Menschenrechte verteidigt werden, nachdenken wollen – dann kann die Geschichte dieses sowjetisch-ukrainisch-jüdischen Offiziers dafür ein guter Ausgangspunkt sein.

Danke für Ihren Dienst und Ihr Streben nach Freiheit und Würde, Major Shapiro.

Avatar-Foto

Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Lehrbeauftragter am KIT Karlsruhe, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus und für jüdisches Leben. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren für das Fediversum, Wissenschaft und Demokratie, gegen antisoziale Medien, Verschwörungsmythen und den Niedergang Europas.

8 Kommentare

    • @Waltraud Kochhan

      Vielleicht ist der Hinweis ja gut gemeint, aber was meinen Sie mit „falsches Wort“?

      Hebräisch „Magen David“ entspricht auf Deutsch Davidstern. ✡️ Ich habe das im obigen Text nun noch einmal ergänzt. Weitere Informationen zum Magen David auch gerne auf dem Portal, das der Rechtsdualist Elon Musk gerne aus dem Weg schaffen würde:

      https://de.m.wikipedia.org/wiki/Davidstern

      Ihnen auf jeden Fall Dank für den Hinweis, der ja auch eine Lernchance enthält. ✡️📚🙌

  1. Vielen Dank für den Hinweis. Mir war diese Information nicht bekannt.

    Er war später sogar Abgeordneter in einem Stadtsowjet und Offizier der sowjetischen Armee – aber eben kein Russe. Seine ukrainische und jüdische Identität hatte er tunlichst hintan zu stellen. Schon der späte Stalin (1878 – 1953) schürte mörderischen Antisemitismus.

    Ich möchte darauf hinweisen, dass auch die heutige russische Regierung unter der Führung von Putin sowie die russisch-orthodoxer Krirche gezielt antisemtische Vorurteile schüren, um Expansionismus und den grausamen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

    https://laender-analysen.de/russland-analysen/448/antisemitismus-in-russland/

  2. “… dass das Hitler-Regime nicht durch Feigheit und Appeasement, sondern durch überwiegend christliche, aber auch jüdische und muslimische Soldaten und Soldatinnen verschiedenster Nationen besiegt wurde.”

    Sehr geehrter Herr Blume,
    habe in der Vergangenheit viele – nicht alle – Ihrer Beiträge mit Vergnügen gelesen. Dieser Aussage aber muss widersprochen werden. Denn argumentatorisch begeben Sie sich auf das Niveau von Wehrmachtsausstellungskritikern der falschen Couleur: Die Charakterisierung aller Nicht-militärischen Widerstandsformen als “Feigheit und Appeasement” lässt sich auch mit dem 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz nicht begründen bzw. rechtfertigen. Auf dem Weg würden Sie u.a. den Mut und Einsatz der Deserteure und ihrer Unterstützer:innen ebenso diskreditieren, wie den all derer, die sich verweigert haben, nicht mitgemacht haben, öffentlich und/oder privat aktiven Widerstand geleistet haben.

    Relevant ist und bleibt, dass Menschenrechte engagiert verteidigt und alle Formen des Antisemitismus ebenso engagiert bekämpft werden müssen.

  3. Als jemand, die Anfang der 1960er Jahre geboren ist und damit in der Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen ist, frage ich mich, ob dieses Unbehagen, das Sie beschreiben, auch damit zu tun haben könnte.

    Die Sowjetunion wurde im Westen von vielen Menschen mit Mißtrauen und Angst betrachtet. Der Gegensatz zwischen Ost und West prägte m.E. das, was wir Erinnerungskultur nennen. Das würde Ihrer Analyse nicht widersprechen.

    Ich erinnere mich zum Beispiel noch daran, dass zwar in Bezug auf den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zwar auch die sowjetische Beteiligung erwähnt wurde, aber der Fokus doch eher auf die Amerikaner ausgerichtet war.

    Auch in der filmischen Gestaltung der Prozesse überwog die US-amerikanische Sichtweise. “Das Urteil von Nürnberg” aus dem Jahr 1961 hatte den Juristenprozess von 1947 zum Inhalt, an dem die Sowjetunion m.W. nicht beteiligt war.

    Noch 2000 sah es im Zweiteiler “Nuremberg” mit Alec Baldwin als Robert H. Jackson nicht viel besser aus.

    • Ja, @Marie H. – auch meine Eltern berichteten, dass es früher die Angst gab, dass „die Russen kommen“. Die US-amerikanische Siegermacht war auch kulturell prägend, gegen sie lehnten sich viele rechts oder links auf. Im „Russen“ wurde dagegen die Sowjetunion auf Kosten der anderen Ethnien mystifiziert und zum Bedrohlichen, aber auch Natürlich-Nahen Anderen. In dieser Sicht war etwa eine eigenständige, demokratische Ukraine 🇺🇦 erst gar nicht vorgesehen, jüdische Soldaten oder sogar Präsidenten schon gar nicht.

Schreibe einen Kommentar