Als Löten noch Widerstand war – Auch schon die DDR hatte Nerds
BLOG: Natur des Glaubens
Heute fand der Bundesparteitag der Piraten in Offenbach (bzw. auf Twitter unter dem Hashtag #bpt112) statt. Und langsam wird doch immer mehr Beobachtern klar, dass sie es hier nicht nur mit einem Modethema zu tun haben, sondern mit einem Ausdruck einer kulturellen Entwicklung, die durch neue (Computer-)Technologien ermöglicht und beflügelt wird. Und diese setzte auch in Deutschland keineswegs erst nach der Wiedervereinigung mit dem Internet ein, sondern hatte je eigene Vorläufer in West- und Ostdeutschland.
Von Informatikfreaks und “DDR-Nerds”…
…handelt zum Beispiel der Roman “Zur letzten Instanz” von Marc Schweska. Hier wird das Lebensgefühl der – auch hier fast ausschließlich männlichen – Technikbegeisterten geschildert, die sich eigene, lebensweltliche Nischen suchten.
Einerseits gab ihnen der sozialistische Materialismus theoretischen Rückenwind – der ja das Versprechen der Problemlösung durch Technologie(n) im Programm hatte und gerne an der Spitze der Computertechnologie marschiert wäre. Andererseits aber entdeckten insbesondere die jungen Generationen mit jeder technischen Neuerung neue Möglichkeiten, aber auch Sprachcodes, kleine Rituale und Träume, vor denen die grauen Parteibonzen zitterten. Mit einer lebendigen und also kaum kontrollierbaren Kultur konnten die real existierenden Regenten im Namen von Sozialismus und Humanismus nicht leben.
Aus dieser Nischenwelt zwischen technischer Faszination, Basteleien zwischen Anerkennung und Rebellion sowie der Angst vor Partei & Stasi berichtet Schweska detailreich, mit viel Wortwitz und einiger Melancholie, aber ohne große Handlungsstränge – realistisch, also. Sein Buch zielt kaum auf breiteste Leserschichten, aber wer sich für die heutige Nerd-Kultur(en) begeistern kann, wird auch an ihren ostdeutschen Vorläufern gefallen finden.
Während Cichy in der Küche klapperte, wurde Nick spirituell. “Weißt Du, warum das Leben ein Computerspiel ist?” – “Im Gegensatz zur Wurst hat es ein Ende. Und es kommt immer überraschend.” – “Weil es immer einen besseren Spieler gibt!”
Als die Tassen auf dem Tisch standen, fing Cichy an. “Lem, wegen deinem Vater. Ich kenn doch den Reger…” Cichy sagte immer “den X” oder “der Y”. Eine sprachliche Mode, die Brechtianer “vom” Brecht überlieferten. Der Namensartikel gehörte zum guten Ton der Intelligenz, signalisierte Gemeinschaftsbewusstsein und Kumpelhaftigkeit wie das “du” der Genossen, die Antithese zum bourgeoisen “Sie”. (S. 170)
Wahlerfolg der Piraten vor allem in Ostberlin
Und, nein, diese kulturellen Traditionen gingen nach der Wiedervereinigung nicht einfach unter. Bei ihrer ersten, erfolgreichen Landtagswahl in Berlin 2011 erzielten die Piraten in Westberlin 8,1% – in Ostberlin aber 10,1%. Bei den Unter-30-Jährigen in Ostberlin wurden die Piraten mit 20 Prozent sogar zweitstärkste Partei.
Ein Problem gab (und gibt) es jedoch bei den Frauen: Während 19% der U-30-Männer in Berlin die Piraten wählten, waren es nur 11% der gleichaltrigen Frauen – die dafür mit 24% den Grünen den Vorzug gaben.
Nicht nur politisch einen Blick wert
Wer immer noch glaubt, mit ein paar Facebook-Spielereien das politische Potential des Internets erschlossen zu haben, dürfte sich noch wundern. Zwar ist es durchaus möglich, dass die Piraten als Partei ihren Zauber wieder verlieren und sich so schnell zerlegen, wie sie aufgestiegen sind. Aber auch damit wäre die kulturelle Strömung, die sie hervorgebracht hat, nicht einfach verschwunden. Wie der Buchdruck, die Zeitung und das Fernsehen verändert auch das Internet die Regeln des politischen Spiels in jeder Gesellschaft und für jede Generation. Das ist interessant zu beobachten – und zu lesen.
Und wer noch weiter ins Thema einsteigen möchte, hier wieder eine Veröffentlichung zum freien Download:
Sehr interessanter Artikel, vielen Dank! Musste über manches auch schmunzeln 😉
@Ina
Gern geschehen! 🙂 Und vielen Dank für die freundliche Rückmeldung.