Neoflabellina reticulata – Fossil des Jahres 2022

Auch in diesem Jahr gibt es natürlich wieder ein Fossil des Jahres. Diesmal ist es aber so, dass man zumindest eine Lupe benötigt, um es zu sehen. Denn in diesem Jahr ging der Titel des Fossils des Jahres zum ersten Mal an ein Mikrofossil.

Mikrofossilien

Mikrofossilien sind mit einer Größe unter einem Millimeter vielleicht nicht so groß wie die Fossilien, die wir gewöhnlich in unseren Museen und Sammlungen sehen. Aber auch wenn sie sich nicht gerade mit den eindrucksvollen Dinosauriern vergleichen lassen, sind gerade sie es, die uns sehr viel über die Vergangenheit zu erzählen haben.

Sie stammen meist von Lebewesen, die eine recht kurze Generationenfolge haben. Diese Lebewesen unterliegen einer raschen Evolution. Dadurch sind sie sehr oft hervorragende und vor allem hochauflösende Helfer bei der relativen Altersbestimmung von Sedimentgesteine seit dem Kambrium. Sie können auch bei der Rekonstruktion längst vergangener Klimabedingungen und Lebensräume helfen. Sie sind auch wichtige Hilfsmittel bei der Suche nach Lagerstätten von Öl und Gas.

Ihre geringe Größe hat dabei noch einen weiteren Vorteil. Man kann sie auch meist in größerer Zahl aus vergleichsweise kleinen Proben, wie zum Beispiel einer Bohrung, gewinnen.

REM-Aufnahme der kalkschaligen Foraminifere Neoflabellina reticulata aus der Rügener Schreibkreide (Maastricht). Jonas Börje Lundin (scale bar added by uploader, width was derived from scale bar given in fig. 11 a of source work) (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Neoflabellina_reticulata_Säureaufschluss_Lundin_2018_mit_Maßstab.png), „Neoflabellina reticulata Säureaufschluss Lundin 2018 mit Maßstab“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode

Wer oder was ist Neoflabellina reticulata?

Neoflabellina reticulata gehört zu den Foraminiferen, die manchmal auch als Kammerlinge bezeichnet werden. Es handelt sich um einzellige Lebewesen, die meist ein Gehäuse aufweisen. Die meisten sind knapp einen halben Zentimeter groß, es gibt aber auch Arten, die problemlos mehrere Zentimeter groß werden können.

Heute leben rund 10 000 Arten, aus dem Fossilbericht sind gut 40 000 Arten bekannt, die Ersten traten vor 560 Mio. Jahren im Kambrium auf. Sie leben meist in marinen Lebensräumen, nur eine Minderheit kommt im Süßwasser vor.

Ihre Schalen sind im Fossilbericht gut erhaltungsfähig und können stellenweise sogar gesteinsbildend werden. Foraminiferen dienen besonders in der Kreide sowie im Paläogen und Neogen als Leitfossilien.

Wie sah Neoflabellina aus?

Neoflabellina reticulata ist mit knapp 2 mm Länge bereits eines der größeren Mikrofossilien. Das Gehäuse ist stark abgeflacht, lanzettförmig und weist die für Foraminiferen typischen und namensgebenden zahlreichen Kammern auf. Im ersten Entwicklungsstadium sind diese Kammern noch spiralförmig angeordnet, später entsprechen sie dem Typ der „Reitenden Kammern“. Dabei umgreifen die Kammern ca. 180° des Gehäuses und folgen aufeinander. Dies spiegelt sich auch durch die Ornamentierung der Rippen wider. Die Kammern sind untereinander verbunden, ihre Mündung sitzt an der Spitze des Gehäuses.

Das Gehäuse besteht aus Kalzit und ist gut erhaltungsfähig. Das macht Neoflabellina wie viele andere Foraminiferen für die Paläontologie sehr wertvoll.

Wo und wann lebte Neoflabellina?

Neoflabellina war weltweit verbreitet und lebte zur Zeit der obersten Stufe der Kreidezeit, des Maastrichtiums. Das ist der allerletzte Abschnitt der Kreidezeit, das mit dem großen Einschlag des Chicxulub-Impakts und dem darauf folgenden Aussterben der Dinosaurier und vieler anderer Lebewesen endete.

Da das Gehäuse von Neoflabellina recht fragil ist, kam die Foraminifere nur unterhalb der Sturmwellenbasis auf den Schelfbereichen vor. Was die Wassertemperaturen angeht, scheint sie recht tolerant gewesen zu sein.

Zuerst beschrieben wurde Neoflabellina reticulata von dem österreichischen Arzt und Paläontologen August Emanuel Reuss in den Kreidemergeln von Lemberg in Galizien, dem heutigen Lwiw in der Westukraine.

Welche Bedeutung hat Neoflabellina?

Das diesjährige Fossil des Jahres ist ein Leitfossil für das Maastrichtium und damit für die oberste Stufe der Kreidezeit. Zugleich ist sie ein Indikator für den Schelfbereich unterhalb der Sturmwellenbasis. Als eine der ersten aus der Schreibkreide beschriebenen Foraminiferenarten steht damit auch für die Gründungszeit der Mikropaläontologie als Wissenschaft. Auch wenn sie selber sehr klein ist, so hat ihr Gehäuse auch einen ästhetischen Wert, der sich auch darin zeigt, dass das Paläontologische Museum in Paris vergrößerte Modelle der Foraminifere als Schmuck verkauft.

Ansonsten sind Mikrofossilien wie Neoflabellina meist zu klein, um in Museen in den Ausstellungen gezeigt zu werden. Sie sind aber in verschiedenen Sammlungen zu finden. So ist das Material von Reuss im Naturhistorischen Museum in Wien hinterlegt. Eine sehr schöne virtuelle Ausstellung von Foraminiferen nicht nur der Schreibkeide findet sich unter www.foraminifera.eu. Dort ist auch Neoflabellina reticulata mit guten Abbildungen zu finden.

Avatar-Foto

Gunnar Ries studierte in Hamburg Mineralogie und promovierte dort am Geologisch-Paläontologischen Institut und Museum über das Verwitterungsverhalten ostafrikanischer Karbonatite. Er arbeitet bei der CRB Analyse Service GmbH in Hardegsen. Hier geäußerte Meinungen sind meine eigenen

4 Kommentare

  1. Die meisten sind knapp einen halben Zentimeter groß, es gibt aber auch Arten, die problemlos mehrere Zentimeter groß werden können.

    Das sollte “Millimeter” heißen, oder?

    • Das stimmt, Forams sind zwar Einzeller, aber dadurch, dass sie ihr Zellplasma in Kammern einteilen, können sie sich beinahe wie Mehrzeller organisieren. Die größten werden mehrer Zentimeter groß. Angemerkt sei, dass versteinerte Forams in den Kalksteinen der ägyptischen Pyramiden von altgriechischen Philosophen für versteinerte Linsen und für die ehemalige Nahrung der Pyramidenarbeiter gehalten wurden.

  2. Man muss sich das verinnerlichen. Wir haben hier ein Lebewesen! , das gesteinsbildend ist. Welcher Mensch kann das von sich behaupten.
    Wahrscheinlich hat es nicht nur Licht gesehen , sondern auch Schmerzen gehabt ??
    Respekt, Herr Ries, die Welt ist voller Wunder.

Schreibe einen Kommentar