Zum Jahreswechsel: Rückschau, Vorschau
Was war 2013 am wichtigsten, was wird 2014 passieren? Vergangenheit und Zukunft des Blogs Menschen-Bilder und seines Autors.
An der Rijksuniversiteit Groningen haben wir – vorläufig noch – kollektiven Urlaub, das heißt einen Urlaubszwang zwischen den Jahren. Dieser Urlaub wird uns jedoch nur zur Hälfte vom eigentlichen Urlaubsanspruch abgezogen. Bevor morgen das universitäre Leben weitergeht, will ich jedoch noch ein paar Überlegungen zum Jahr 2013, zur Gegenwart und zur Zukunft anstellen.
2013 – Eine Rückschau
Wenn ich auf das Jahr 2013 zurückblicke, dann fallen mir vor allem die folgenden vier Stichworte ein, die sich auch in einigen Beiträgen hier bei Menschen-Bilder widerspiegelten: Die Zeit als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Visions for Neuro-Philosophy), die Verlagerung meines Lebensschwerpunkts ins niederländische Amersfoort (Amygdala und wer hat Angst vorm Osterhasen?), die Ankunft eines Teils der vielen Wissenschaftsskandale in der Öffentlichkeit (Kategorie: Wissenschaftskritik) sowie die breite Sexismus-Debatte, die zum großen Teil selbst sexistisch war (Kategorie: Gleichberechtigung).
Ob die Entscheidung für die kurzzeitige Professur in München eine gute war, wird sich wohl erst langfristig zeigen. Ich bin vor allem dankbar für die vielen interessanten und inspirierenden Kontakte in und um die Forschungsgruppe der Neurophilosophie am Munich Center for Neurosciences. Gleichzeitig hat aber auch die strukturelle Situation vor Ort, die vor allem damit zusammenhing, dass der Lehrstuhl noch nie von jemandem besetzt gewesen war, der Aufwand für die zwei internationalen Umzüge und die damit verbundenen Formalitäten sowie die Koordination zwischen den beiden Universitäten Groningen und München sehr viel Zeit und Arbeitskraft gekostet.
Wissenschaftskritik wird gesellschaftsfähig
Dass Berichte über Wissenschaftsskandale beziehungsweise Strukturprobleme der Wissenschaftswelt inzwischen die breite Öffentlichkeit erreicht haben, ist erst einmal ein Grund zur Freude, denn ohne Problembewusstsein werden sich verfestigte Strukturen kaum von selbst ändern. Einige dieser Themen, wie etwa die Reduktion wissenschaftlicher Arbeit gemäß der ökonomischen Logik auf die Größe Impact Factor, habe ich schon im Dezember 2008 berichtet (Die Größe der Wissenschaft).
Ernüchternderweise findet sich dieser Beitrag aber auf einem der allerletzten Plätze in Sachen Zugriffszahlen von ca. 150 meiner Beiträge; wie bezeichnend, dass sich für diese so zentrale wie absurde Kenngröße, die die Vergabe so manches Forschungsprojekts und Lehrstuhls auch in Deutschland entscheidend beeinflusst, kaum jemand interessiert. In jüngerer Zeit hat sich vor allem meine Bloggerkollegin Beatrice Lugger mit dem Thema ausführlicher auseinandergesetzt (Quantensprung: Metriken).
Rettet die Wissenschaft!
Neben der durch aufgedeckte Fälschungsskandale ausgelösten Diskussion um die Vertrauenswürdigkeit der Sozialpsychologie erhielt insbesondere die lange Zeit gehypte bildgebende Hirnforschung viel inhaltliche Kritik. Ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum ist das Buch über Neuromythologie (gerade schon in vierter Auflage erschienen) von Felix Hasler, der übrigens für den 21. und 22. November 2014 in Berlin die Tagung Mind the Brain! Neuroscience in Society organisiert.
Ein vergleichbares Buch aus dem englischsprachigen Raum ist das im Sommer 2013 erschienene Brainwashed: The Seductive Appeal of Mindless Neuroscience der Psychologen Sally Satel und Scott Lilienfeld, das hohe Wellen schlug. Anlässe genug, für den Braincaster Arvid Leyh, eine Folge über Neuroskeptizismus zu machen, die ich hier kommentiert habe (Die Leyhschen Thesen zum Neuroskeptizismus).
Nachdem die auch von einigen führenden niederländischen Medizinern getragene Initiative Science in Transition mit ihrer internationalen Tagung in der Königlichen Akademie der Künste und Wissenschaften in Amsterdam flankiert von dem Artikel How science goes wrong im Economist im November einen vorläufigen Höhepunkt erzielte (Nature: Sigmund Freud und Karl Marx beste Forscher aller Zeiten!) und seitdem ohne Unterbrechung in den wichtigsten Medien vertreten ist, widmete sich in der Ausgabe vom 27. Dezember dann auch die deutsche Zeit der Wissenschaftskritik. So riefen Stefan Schmitt und Stefanie Schramm alarmierend: Rettet die Wissenschaft!
Vor wem soll man denn die Wissenschaft retten? Vor den Wissenschaftlern, die blind das machen, was die Wissenschaftsmanager und -politiker ihnen seit Jahren vorschreiben? Genauso gut könnte man schreiben: Rettet die Gesellschaft vor den Menschen! Bevor ich in Pessimismus verfalle, bin ich geneigt, eher mit Demokrit aus Abdera (ca. 460-370 v. Chr.) über die Torheit der Welt zu lachen, als mit dem Eremiten Heraklit aus Ephesus (ca. 550-480 v. Chr.) darüber zu weinen.
Quo vadis Menschen-Bilder?
Damit stellt sich mir auch die Frage, ob und wenn ja in welcher Richtung sich Menschen-Bilder weiterentwickeln soll. Als mich 2007 Karsten Könneker, damals noch aktiver Chefredakteur von Gehirn&Geist, heute an höherer Stelle im Spektrum Verlag tätig und inzwischen sogar Professor und Direktor des Nationalen Instituts für Wissenschaftskommunikation am KIT, zum Mitmachen bei den BrainLogs einlud, hatte ich einen echten Hirnforschungsblog vor Augen. Immerhin steckte ich damals mitten in meiner Doktorarbeit im Bereich der Kognitionswissenschaft, in der ich selbst Experimente mit einem funktionellen Magnetresonanztomografen durchführte.
Der Titel Menschen-Bilder war bewusst breit und mehrdeutig gewählt: Es sollte nicht nur um diese Bilder vom Menschen gehen, die so eine Maschine im wörtlichen Sinne aufzeichnet, sondern auch um das Menschenbild, das Forscher dann daraus ableiten. Wie aktuell diese Frage auch Jahre später noch ist, wird nicht nur aus dem kürzlich erschienenen Tagungsband über den Homo Neurobiologicus (Homo Neurobiologicus: Ist der Mensch nur sein Gehirn?) ersichtlich, sondern auch daraus, dass der Deutsche Ethikrat seiner jüngsten Herbsttagung den Titel Neuroimaging – Bilder vom Gehirn und das Bild des Menschen (hier mein Vortrag) gab. Eine ähnlich schöne Wortspielerei hat die Darmstädter Technikphilosophin Petra Gehring schon vor Jahren mit dem Begriff „weltbildgebende Hirnforschung“ ins Leben gerufen.
Unerwartet in die Themenbreite
Selbst wenn Menschen-Bilder ursprünglich nicht so breit gedacht war, wie sich der Blog bis heute entwickelt hat, so lässt der Name doch diese Breite zu. Warum ich von dem ursprünglichen Plan abgewichen bin, wurde mir erst mit der Zeit klar. Über die Funde der bildgebenden Hirnforschung zu berichten, hätte gemäß meinen eigenen Standards für Wissenschaftskommunikation zu häufig zu Artikeln nach dem auf Dauer wenig erbaulichen Schema geführt: A schreibt, dass Forscher B C herausgefunden hat, Forscher B selbst sagt eigentlich D, und wenn man die Studie liest, dann muss man eigentlich denken, dass nur ein Teil D, eigentlich aber E herausgefunden wurde und auch dies im Kontext methodischer, wissenschaftspsychologischer und -sozialer Einflüsse zu sehen ist.
So blieb letztlich auch die Kategorie Aufgepatst!, die als Sammelbecken für unerträgliche Übertreibungen gedacht war und am Anfang einiges Lob erhielt, sicher nicht aufgrund mangelnder Beispiele, sondern aufgrund der Psychohygiene des Autors vergleichsweise leer (sechs Beiträge seit Mai 2009). Allem Gerede von der Wissensgesellschaft zum Trotz, danken es einem doch die meisten Forscher und Journalisten, allen voran die PR-Abteilung der Universität Bonn, herzlich wenig, wenn man sie auf Fehldarstellungen hinweist.
Die Online-Diskussionskultur
Menschen-Bilder ging also in die Breite, was sich am deutlichsten in meinen Kommentaren zur Sexismusdebatte äußern dürfte (Kategorie: Gleichberechtigung). Dass es manchen Medien zufolge inzwischen die Mehrheitsmeinung ist, per gesetzlicher Geschlechtsdiskriminierung die negativen Folgen von Geschlechtsdiskriminierung zu beseitigen, könnte man als gesellschaftliche Fallstudie dafür verwenden, wie weit fortgeschritten die Propaganda schon ist.
Seriöse Medien hätten wenigstens den Versuch gewagt, ihre Adressaten über die Mechanismen der Diskriminierung und im Zuge dessen die Spielregeln der Macht aufzuklären; diese Chance wurde aber verpasst. Sehr schön auf den Punkt gebracht hat dies die österreichische Psychotherapeutin und Karriereberaterin Christine Bauer-Jelinek in ihrem Interview vom Januar 2013: Eindeutig ein Stellvertreterkrieg.
Als zweite Fallstudie könnte man das deutsche Bildungssystem heranziehen. Dem sozialdemokratischen Bonmot „Aufstieg durch Bildung“ zum Trotz ist es nämlich seit Jahrzehnten ein System der Ausgrenzung von Menschen und Verfestigung von Machtstrukturen, wie in diesem animierten Vortragsausschnitt Changing Education Paradigms des international renommierten Bildungsforschers Ken Robinson sehr einleuchtend erklärt wird.
Die Diskriminierung gemäß dem Bildungsstand der Eltern wurde reihenweise von den Sozialerhebungen im Auftrag des Deutschen Studentenwerks belegt (und nicht nur von diesen; Zusammenfassung des jüngsten Berichts, PDF). Parallel zu deren Veröffentlichung schrieb dann aber das doppelt promovierte Arbeiterkind Peter Riedlberger nicht etwa über diese Ausgrenzungstendenzen, sondern machte sich im Gegenteil über Versuche der Integration lustig (Wie man als Dozent Arbeiterkinder behandeln solle). Kritischen Anmerkungen unter anderem durch mich stellte sich der Doppeldoktor nicht etwa im öffentlichen Diskussionsforum auf Augenhöhe, sondern in einem den empirischen Belegen widersprechenden Folgeartikel (Wovon Arbeiterkinder wirklich profitieren würden).
Virtueller Hooliganismus
Überraschend war für mich nicht nur, wie man vom Diskutanten in einem Diskussionsforum, wo man als Gleicher unter Gleichen seine Meinung austauscht, plötzlich auf der Titelseite zum Seppel gemacht wird (meine Replik darauf: Wie sich ein Akademiker ein ungerechtes System zurechtbiegt). Überraschend war vor allem, wie parallel dazu diffamierende Aussagen in meinem Wikipedia-Beitrag gestreut wurden, in der sich eine verstaubte Akademikerdenke äußerte, jedoch wenig Sachverstand. Selbstverständlich alles im Schutz einer anonymen IP-Adresse. Experten, die ich darauf ansprach, kommentierten dies ernüchternd mit dem Hinweis, das sei doch noch harmlos.
Wenn mich nicht meine Einblicke in die Wissenschaftswelt, Talkshows oder parlamentarische Debatten nicht schon davon überzeugt hätten, dass wir nicht in einer aufgeklärten Welt leben, meine Erfahrungen mit Online-Diskussionen hätten es sicher getan. Rudolf Maresch sprach im Zusammenhang mit seinen Erlebnissen vor vielen Jahren einmal vom „virtuellen Hooliganismus“, um sich dann aus der Welt der Online-Foren zu verabschieden (Die Bühnen des Mobs und der Wichtigtuer):
Was vor Jahren mal als “basisdemokratische” Einrichtung gefeiert worden ist, als direkter Kontakt zum Leser oder Hörer, hat sich mittlerweile in sein Gegenteil verkehrt. Von einer Kultur des Streitens und Debattierens ist kaum noch etwas übrig geblieben. Der Umgangston ist rüde, der Stil verroht und versaut. (Rudolf Maresch, 2007)
Auch nach mehr als zwanzig Jahren der Online-Erfahrungen – wer weiß hier noch, wofür die Abkürzung DFÜ steht, ohne es zu googlen? – versuche ich, eher den Wert der Perlen als den Schmutz der Säue zu sehen. Natürlich beeinflussen mich aber bei der Entscheidung, wo man als Nächstes seine Prioritäten setzt, die schlechten Erfahrungen.
Quo vadis Stephan Schleim?
Was, apropos Prioritätensetzung, natürlich die perfekte Überleitung dazu wäre, seine Neujahrsvorsätze aufzuschreiben. Doch keine Sorge, auch wenn Sie bis hierher gelesen haben, werde ich Sie am Ende nicht mit einer Liste mit Gegenständen wie „Mit dem Rauchen aufhören“ (das habe ich Anno 1999 getan) oder „Einen Ultra-Marathon laufen“ (2001) konfrontieren. Allerdings können Sie davon ausgehen, dass ich abgesehen von der seit dem Umstieg der SciLogs auf die neue WordPress-Plattform fehlfunktionierenden Struktur, über die ich bei anderer Gelegenheit noch einmal schreiben werde, aufgrund der folgenden Aktivitäten meine Blogaktivitäten bei Menschen-Bilder zurückstellen werde:
- Nach dem eineinhalbjährigen Wahn, im Zusammenhang mit Forschungsbesuchen und Professuren an fünf Orten in drei Ländern zu wohnen, werde ich mich auf die Bedingungen meiner Beförderung zum Associate Professor im Jahr 2015 konzentrieren (Stichwort: Tenure Track, siehe diese Sonderausgabe der Zeitschrift Forschung und Lehre, PDF). Zwar könnte ich mich mit Verweis auf das bisher Erreichte zurücklehnen und schlicht machen, worauf ich Lust habe, im Vertrauen darauf, dass man es im Zweifelsfalle schon durch strategisches Taktieren hinbiegen wird. Doch um dem Fakultätsrat, meinen Vorgesetzten und mir Mühen und Peinlichkeiten zu ersparen, produziere ich einfach noch ein paar dieser standardisierten Wissenschaftshäppchen, wie sie sich die Wissenschaftsmanager wünschen.
- Die große Leidenschaft, die wenigstens etwas (man könnte gemäß meinem offiziellen Tätigkeitsprofil eigentlich meinen: mindestens die Hälfte) mit meiner Anstellung als Assistant Professor zu tun hat, ist die Entwicklung meiner Lehre. Entweder ich hatte einfach nur Glück mit den Studierenden meiner Vorlesung „Philosophy of Psychology“ oder meine Versuche, sie zum kritischen Nach- und Mitdenken anzuregen, tragen erste Früchte. In einem freiwilligen Minikurs über Gender-Theory (Spielregeln: keine Prüfung, keine Credits, nur akademisches Lernen), den ich zusammen mit einer fortgeschrittenen Doktorandin anbieten werde, oder einer „Open Class“ (freiwillige Seminarzusammenkunft ohne Vorgabe alle zwei Wochen) werde ich neue Ideen ausprobieren. Ich versuche es also erst noch einmal klassisch, verweise aber die Enthusiasten des eLearnings auf diese Liste mit Vorschlägen meines Lesers Stephan Goldammer.
- Am Institut für Psychologie der Rijksuniversiteit Groningen bauen wir gerade einen eigenen, englischsprachigen Blog auf, den ich redaktionell begleite. Zwar wird die Themenauswahl dort aufgrund des offiziellen Rahmens etwas eingeschränkter sein, doch bin ich gespannt, wie sich dies mit meinen sonstigen Lehre- und Forschungstätigkeiten verknüpfen lassen wird. Im Übrigen werde ich über den Verteilungsschlüssel meiner Tätigkeiten dafür fortan sogar mit sechs Prozent meines Gehalts bezahlt.
- Falls dies alles neben meiner Integration in Amersfoort gelingen und noch etwas Raum lassen wird, möchte ich mich im Sommer/Herbst dieses Jahres an ein neues Buch setzen, diesmal jedoch ohne vorher einen Vertrag zu unterschreiben (Stichwort: Psychohygiene). Zum Thema werde ich vorab jedoch nichts Näheres verraten. Erscheinungsdatum: When it’s done.