Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns
BLOG: MENSCHEN-BILDER
Oder: Was sind eigentlich psychische Störungen?
Es hört sich an wie eine Pressemitteilung unter vielen: »Psychischen Störungen mit neuem Magnetresonanztomographen auf den Grund gehen«. Mit dieser Überschrift wies eine Mitarbeiterin für »Unternehmenskommunikation« der Uniklinik Hamburg-Eppendorf vor Kurzem darauf hin, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft auf Antrag von zwei Professoren rund vier Millionen Euro zur Verfügung stellt.
Mit dem Geld soll ein neuer Magnetresonanztomograph angeschafft und ein bestehendes Gerät aktualisiert werden. Herzlichen Glückwunsch also – und vier Millionen Euro zur Erforschung psychischer Störungen sind doch eine gute Sache, oder nicht?
In der Pressemitteilung des »Unternehmens« Uniklinik Hamburg-Eppendorf heißt es konkreter, beforscht sollten Ursachen von Schmerzen, Angst und die Plastizität des Gehirns werden. Wenn man bedenkt, dass laut Schätzungen des Dresdner Epidemiologen Hans-Ulrich Wittchen und seiner Kollegen jährlich 14% beziehungsweise 61,5 Millionen der Menschen in den EU-Ländern an einer Angststörung leiden, scheint die Förderung angemessen. Angststörungen sind dieser Forschung zufolge übrigens die häufigsten psychischen Störungen, gefolgt von Schlaflosigkeit und Depressionen (jeweils 7%).
Warum im Gehirn suchen?
Es soll hier nicht darum gehen, dass diese und ähnliche Schätzungen wahrscheinlich viel zu hohe Zahlen suggerieren, die wiederum eine wichtige Funktion in Forschungsanträgen erfüllen, nämlich deren gesellschaftliche und vor allem ökonomische Relevanz untermauern. Stattdessen soll es um die überraschende Frage gehen, warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überhaupt das
Gehirnuntersuchen, um Grundlagen psychischer Störungen zu entdecken.
»Ja, wo denn sonst?«, würde jetzt vielleicht ein alter Bekannter vom Typ karrierestrebender junger Psychiater aus dem Bürgertum und von der Eliteschule fragen. »Ja, wo denn sonst!«, würde es ein Ausrufungszeichen zutreffender beschreiben. Schließlich ginge es ihm um eine triviale Feststellung und keine Frage, auf die er allen Ernstes eine Antwort erwartete. Dass dies keineswegs so trivial ist, soll im Folgenden verdeutlicht werden.
Als Wissenschaftstheoretiker fallen mir nämlich eine Reihe anderer Möglichkeiten ein; als solcher kommt es mir vor, als folgten viele Forscherinnen und Forscher der Logik des Betrunkenen, der unter der Laterne seine verlorenen Schlüssel sucht, weil dort eben am meisten Licht ist. Den Schlüssel könnte man auch hochtrabend als »die Grundlagen zum Aufschließen der Haustüre« nennen.
Ein anderer Blickwinkel
Vielleicht fällt der Groschen oder findet sich der Schlüssel von selbst, wenn ich einen Absatz aus einer anderen Pressemitteilung zitiere, die in zeitlicher Nähe zur vorherigen erschienen ist. Die Überschrift lautete hier »Die psychische Gesundheit von Führungskräften auf dem Prüfstand«, geschrieben von einer Pressereferentin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim:
»Professor Zimber untersuchte in der nun vorgelegten Studie [die Entstehungsbedingungen psychischer Beeinträchtigungen von Führungskräften]. Dabei war der zentrale Analysegegenstand psychische Beeinträchtigungen wie beispielsweise Gereiztheit, Nicht-Abschalten-Können, Erschöpfung bis hin zu Angstsymptomen. Diese wurden weit überwiegend als Reaktionen auf die hohen beruflichen Anforderungen erklärt.« (Pressemitteilung vom 5.8.2016)
Umweltursachen
Natürlich haben auch Führungskräfte Körper, Nervensysteme und Gehirne; und natürlich werden sich in diesen auch Vorgänge messen lassen können, die mit den genannten »Beeinträchtigungen« einhergehen. Ebenso ließen sich (neuro-)physiologische Vorgänge des Dinierens von Führungskräften in Sternerestaurants messen. Die Ergebnisse wären in beiden Fällen wahrscheinlich ähnlich informativ.
Immerhin erwähnt die Mannheimer Mitteilung, dass die Ursachen der Beeinträchtigung überwiegend in der Umwelt liegen, nämlich in den hohen beruflichen Anforderungen. Schon mit dem Pionier auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie Emil Kraepelin (1856-1926) waren wir so weit, das Gehirn als eine Art Schnittstelle zwischen Umwelt auf der einen und Erleben und Verhalten der Menschen auf der anderen Seite zu sehen.
Das lässt sich systembiologisch so verstehen, dass weder die Grundlagen, noch die Ursachen psychischer Störungen allein oder vor allem im Gehirn dort zu suchen wären. Damit haben wir schon eine Antwort auf die Frage: »Wo denn sonst?«
Kämpferisch gegen Erkrankungen
Diese Erkenntnis möge man einer Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund mitteilen. Deren Pressereferintin schrieb nämlich erst vor Kurzem unter der Überschrift »Warum Stress krank macht – neue Forschungsgruppe am IfADo« Folgendes:
»Die Aktenordner stapeln sich, das Telefon klingelt pausenlos und die Deadline für das Projekt rückt gefährlich nah: Stress auf der Arbeit oder privat kann krank machen. Welche Mechanismen im Körper dazu führen, wird ab sofort am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) untersucht. Die Nachwuchsgruppe ›Neuroimmunologie‹ um Biologin Silvia Capellino will klären, wie das Gehirn unsere Gesundheit beeinflusst. Mit diesem Wissen könnten Erkrankungen zukünftig gezielt bekämpft werden.« (Pressemitteilung vom 15.9.2016)
Auf der einen Seite haben wir also sich stapelnde Aktenordner, pausenlos klingelnde Telefone, gefährlich nah heranrückende »Todesstreifen« (wortwörtlich: Deadlines); auf der anderen neuroimmunologische Mechanismen im Körper, die es gezielt zu bekämpfen gilt (Schießbefehl?). Die vermittelnde Variable ist das biopsychosoziale Konstrukt »Stress«. Zu diesem Sachverhalt möge die geneigte Leserin oder der geneigte Leser sich eigene Gedanken machen (und diese gerne im Telepolis-Forum diskutieren).
Eingebettet in die soziale Umwelt
Hier stattdessen eine vierte und letzte Pressemitteilung, diesmal von einer Referentin der Freien Universität Berlin (Nebenbemerkung für Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft: Diese Presseleute haben oft feste Stellen; 90% von euch aber nicht. Wessen Arbeit ist an den Unis eigentlich die Wichtigere?). Unter der Überschrift »Studie: Weniger Lebenszufriedenheit nach Jobverlust, emotionales Wohlbefinden erholt sich« hieß es:
»Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass mit dem Jobverlust die Lebenszufriedenheit nachhaltig abnimmt und Arbeitslose langfristig deutlich häufiger Traurigkeit und Freudlosigkeit empfinden. Der Verlust des Arbeitsplatzes geht jedoch nur kurzfristig mit einem häufigeren Erleben von Angst einher und steht in keinem bedeutenden Zusammenhang mit dem Empfinden von Ärger. Darüber hinaus zeigen die [Daten]: Die Veränderungen im emotionalen Wohlbefinden sind unabhängig von der Persönlichkeit der Betroffenen.« (Pressemitteilung vom 17.8.2016)
Kurzum, die Arbeitssituation eines Menschen wirkt sich auf seinen psychischen Zustand aus. Das ist nicht überraschend, scheint jedoch in so mancher Forscherstube in Vergessenheit geraten zu sein, etwa dort, wo, wie in Hamburg, die Grundlagen von Angst und Schmerz mit dem Gehirnscanner gesucht werden, vielleicht weil dorthin die Fördermillionen fließen, weil es also unter der Laterne am hellsten ist?
Ernste Folgen für die Betroffenen
Man könnte freilich schmunzeln, dass solche trivialen theoretischen wie menschlichen Einsichten aus der psychiatrischen Forschung verschwunden sind; man könnte es für naiv halten, dass sie vor allem Gehirne von Menschen und Nagetieren untersuchen, statt Menschen in ihrer Umwelt; man könnte sich schlicht darüber wundern, dass das Forschungsparadigma der biologischen Psychiatrie nicht als falsifiziert ad acta gelegt wurde, als nach jahrzehntelangen Bemühungen und Abermilliarden an Forschungsmitteln die führenden Psychiaterinnen und Psychiater der USA vor drei Jahren einräumen mussten, dass sich ihr Modell für keine einzige der drei- bis vierhundert zurzeit unterschiedenen Störungen bestätigen ließ.
All diese Reaktionen würden aber nicht der Tatsache gerecht, dass es einerseits (allein in den EU-Ländern) um das Leiden dutzender Millionen von Menschen geht und andererseits Forscherinnen und Forscher mit ihren alternativen Ideen und Ansätzen scheitern, weil diese der herrschenden Meinung und damit dem »State of the Art« widersprechen.
Von Psychologie zur politischen Ideologie
Dabei passt die Suche nach den Grundlagen oder Ursachen psychischer Störungen in den Genen, Gehirnen, Körpern und damit in jedem Falle im
Körper des Individuumshervorragend zur vorherrschenden politischen Ideologie, nämlich dem Neoliberalismus. Dieser macht durch Privatisierungen und Kürzungen der Sozialsysteme die Einzelnen auch dort für ihr Schicksal verantwortlich, wo sie es gar nicht sind. Die Gesundheitspolitik ist dafür ein beliebtes Anwendungsfeld (Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik).
Wie wir gesehen haben, können gemäß dieser Logik selbst bedrohliche Aktenordner und Deadlines nicht dort bekämpft werden, wo sie entstehen, nämlich in der Arbeitsumwelt, sondern als Korrelat im Nervensystem der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Von Menschen gemacht, also veränderbar
Wir dürfen aber nie vergessen, dass solche Bedingungen unseres psychischen Wohlbefindens oder Leidens auf sozialen Entscheidungen beruhen, die darum nicht naturgegeben sind, sondern immer revidiert werden können. Oder um es mit den treffenden Worten des Kritischen Psychologen Klaus Holzkamp (1927-1995) zu sagen:
»Vergegenwärtigen wir uns …, dass die sozial-gesellschaftliche Realität … nicht naturhaft geworden, sondern im Laufe des Geschichtsprozesses von Menschen gemacht ist, wenn sie sich dessen auch nicht bewusst zu sein brauchen. Demgemäß kann die sozial-gesellschaftliche Realität auch von Menschen verändert werden, wobei die Richtung dieser Veränderung von ihren Interessen abhängt.« (Aus: Das Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis, 1970, S. 32)
Milliarden für Intervention im Individuum
Vielleicht ist es bloß Zufall, dass mit dem Aufstieg des Neoliberalismus erst in den USA und Großbritannien, später dann auch in Kontinentaleuropa die Wissenschaftszweige der Genetik und der Neurowissenschaften über Initiativen wie dem Humangenomprojekt, der »Dekade des Gehirns« und bis heute dem Humangehirnprojekt durch politische Akteure mit Abermilliarden an Forschungsgeldern ausgestattet wurden und werden. Immerhin können diese, gemäß dem vorherrschenden Paradigma, Grundlagen und Ursachen nur im Individuum entdecken.
Durchgesetzt wurden und werden diese Änderungen von politisch bestellten Gutachterinnen und Gutachtern sowie von betriebswirtschaftlich geschulten Funktionären zur Qualitätssicherung, die nach und nach dafür sorgen, dass alternative Lehrstühle, Initiativen und Ansätze vom Förderradar verschwinden. Alternativen verschwinden dann mit oft der Begründung, dass diese nicht dem Forschungsstand oder der erforderlichen wissenschaftlichen Qualität entsprechen.
Ein Dank an dieser Stelle an alle, die trotz dieser widrigen Umstände in Sozialarbeit, Psychotherapie und Psychiatrie an einem umfassenden Modell wie dem biopsychosozialen Ansatz oder der Systembiologie (für ein Beispiel, siehe etwa das Memorandum »Reflexive Neurowissenschaft«) festhalten.
Hinweis: Dieser Beitrag erscheint parallel auf Telepolis – Magazin für Netzkultur.
Den Glauben an die erhellende Kraft von neuen bildgebenden Untersuchungsmethoden und Genassoziationsstudien als Auswüchse des neoliberalen Weltbildes darzustellen wie das hier gemacht wird grenzt an eine Verschwörungstheorie. Dies zu folgenden Sätzen von oben:
Hier muss man sich fragen: Was sind denn die Alternativen zu den neuen naturwissenschaftlichen Verfahren, die die Funktion des Hirns aufklären wollen? Klar: Es sind Fragebögen und das ganze Instrumentarium, welches die Geisteswissenschaftler schon seit Jahrhunderten zur Verfügung haben. Doch damit wird man nur Erkenntnisse gewinnen (oder vielmehr bestätigen), die man bereits hat.
Dass Stress krank machen kann ist nun wirklich keine neue Erkenntnis. Stress aber nur gerade mit der modernen Arbeitswelt in Zusammenhang zu bringen ist klar einseitig und wiederum nur erklärbar mit dem dem Feindbild
. Stress hat klar zugenommen. Heute sind viele Jugendliche mit der Konstruktion ihres sozialen Selbst- und Fremdbilds auf Facebook ebenso gestresst wie arbeitende Erwachsene. Das Aufkommen moderner Kommunikationsmittel und der sozialen Medien ebenfalls mit dem neoliberalen Weltbild in Zusammenhang zu bringen, würde ich Ihnen aber zutrauen. Alles was heute schlecht ist dem Neoliberalismus (und damit der Finanzelite vielleicht sogar den Juden) zuzuschieben, überzeugt mich aber nicht.
Den Neoliberalismus als treibende Kraft der Gegenwart verantwortlich zu machen, scheint mir sogar an wesentlichen Phänomen und Tendenzen vorbeizugehen. Sogar in den USA, wo man noch am ehesten ein neoliberales Denken ausmachen könnte, ist doch der zunehmende Erfolg der Demokraten mit Clinton, Obama und wieder Clinton und die zunehmende Marginalisierung der Republikaner, die als letztes Aufgebot einen extreme Figur wie Donald Trump (die ultimative Inkarnation des “White Trash”) in die Schlacht schicken, ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Politik nur für die Reichen eher ein Problem der Vergangenheit als der Gegenwart ist. In Europa ist das schon länger so, sind doch hier sozialdemokratische Regierungen (sogar die CDU zählt inzwischen dazu) und tendenziell Jahr für Jahr ausgebaute soziale Wohlfahtsprogramme inzwischen die Regel.
Warum also MRI und Genetik für die Aufklärung der Hirnfunktion? Ganz einfach: Weil sich dadurch eventuell neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Studien und Bücher dagegen, die lediglich am Schreibtisch und vielleicht noch in Interviews und Fallstudien entstehen, die werden kaum wirklich neue Resultate bringen, denn die dazu gehörigen Instrumentarium sind schon lange ausgeschöpft.
Ein Zugenständnis möchte ich noch machen: Wer daran glaubt, neue Technologien wie MRI, Genetik könnten psychische Probleme wie “Burn out”, Stress etc. beheben, der hat vielleicht tatsächlich ein Weltbild welches den Mensch funktionalisiert und instrumentalisisert und wie das – unter anderem – auch im neoliberalen Weltbild vorkommt. Doch auch das – eine extreme Zukunfts- und Technikgläubigkeit – gehört eher der Vergangenheit an als der Gegenwart und Zukunft.
Auch die Verunglimpfung der (Zitat):
finde ich unangebracht. Denn schwere Formen von Schizophrenie und Depression betreffen – zusammen – immerhin mehr als 2% der Bevölkerung. Dass bei Schizophrenie aber auch bei “endogenen” Depressionen biologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen, bezweifelt aber wohl niemand. Und das rechtfertigt neue Untersuchungsmethoden durchaus. Wenn die Kranheitsbilder des schizophrenen Formenkreises aufgeklärt und ihre biologischen Grundlagen erfolgreich erforscht werden, dann eröffnet das angesichts der Häufigkeit dieser Krankheiten allein schon in den westlichen Ländern vielen Millionen Patienten Aussichten auf ein besseres Leben. Schon heute sind diese Patienten auf Medikamente angewiesen während rein psychologische Interventionen während schizophrenen Schüben nichts bringen. Bessere Medikamente, neue Formen von Hirnschrittmachern oder andere physikalische Interventionen sind beim schizophrenen Formenkreis die Mittel, welche am ehesten Therapien ermöglichen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse welche die Grundlagen für neue Medikamente oder neue Interventionen bilden könnten, fehlen bis jetzt aber. Sie zu fördern und zu finanzieren ist aber angesichts der Dimensionen des Problems angezeigt.
Etwas ganz anderes sind die Störungen der Vielen, also das was beispielsweise Freud, als Neurosen therapiert hat oder was wir heute als Burn out bezeichnen. Auch die vielen Persönlichkeitsstörungen wie sie prominent etwa von Donald Trump in der Öffentlichkeit klinisch präsentiert, sind wohl nicht unbedingt biologischen, ja nicht einmal psychologischen Therapien zugänglich. Solche psychische Störungen der Vielen sind tatsächlich ein gesellschaftliches Problem. Doch über den Problemen der Vielen sollte man nicht die ernsthaften Problem der Wenigen vergessen. Der Wenigen nämlich, die an Schizophrenie oder Depression erkrankt ihr weiteres Leben nur noch unter Kontrolle von Supervisern zubringen können. Und wie gesagt. So wenige sind es gar nicht die an ernsthaften psychiatrischen Krankheiten erkrankt sind.
Dass die neuen bildgebenden Verfahren unser Bild von der Schizophrenie bereits deutlich erhellt haben zeigt exemplarisch die Stuide Structural neuroimaging in schizophrenia from methods to insights to treatments.
Hier liest man:
Das Hirn zu erforschen hat übrigens nicht nur für menschliche (psychische?) Krankheiten Bedeutung, sondern es hat auch eminente Bedeutung
– für das Verständnis des Menschen, denn der Mensch ist durch seine kognitiven Fähigkeiten, seine Instinkte, seine automatischen und erlernten Reaktionen auf Umwelteinwurkungen sehr stark bestimmt.
— für die Entwicklung besserer Lehr- und Lernmethoden, denn nicht alle didaktischen Verfahren passen gleichermassen zu unserer “Lernbiologie”
— für die Gestaltung von Stadt- und Lebenswelten, die im Einklang mit den Gegebenheiten sein sollten, welche durch unser neuronales System bestimmt sind
– für die Entwicklung von Systemen künstlicher Intelligenz. Denn Computerprogramme müssen nicht nur intelligent sondern sogar menschenähnlich sein, damit sie uns wirklich helfen können.
Hallo,
ich war Schizophren sowie div. andere sehr interessante Aspekte so genannter Psychischer Erkrankungen. Oder nennen wir es mal verschiedene Wahrnehmungen der Realität. Es hat mich 2 Jahre und viel gekostet mein Selbständiges denken zu erlernen und selbst während dessen wird man durchweg von Idioten “angegriffen” (wie mein Opa sagen würde). Sie nennen es Krankheit weil sie es nicht verstehen und nur ein gut gemeinter Rat, versuchen sie ihren Patienten zu helfen sich selbst zu verstehen. Sie (die Patienten) sollten lernen die richtigen Fragen zu stellen. Aber gut eben da hapert es ja zu meist schon an der Phantasie, da die meisten “Menschen” eben schon durchweg “Systemprogrammiert” sind und es schlichtweg aus Unwissenheit als Krankheit deklarieren.
Mit freundlichen Grüßen
Martin G.
Sehr geehrter Herr Holzherr, unser neuroyales System kann sich an so ziemlich alles anpassen (meine persönliche empirische Erfahrung) zumindest als Kind. Ich bin durch den Sozialismus gegangen und den Kapitalismus (viele würden sagen zu sensibel). Die Frage ist meiner Meinung nur auf welchem Fundament steht unser Denkparat und in wie weit sind wir tatsächlich noch selbständig. Es gibt eben Menschen die kommen in der Masse besser klar und es gibt Menschen und wird sie immer geben, die ausserhalb der Masse stehen. Zu meist die Masse sogar besser verstehen, als die Masse sich selbst versteht. Auf eben diese sollte viel mehr gehört werden. Doch werden eben diese sehr schlauen und auch sensiblen Menschen durch das rücksichtslose “Kapitalistische” System regelrecht zerstört. Welches durchaus der Natur entspricht, der Stärkere gewinnt, doch tatsächlich wird überhaupt keine Rücksicht auf die Natur genommen.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Graeber
Wenn das Thema hier der Neuro- und Brain-Hype ist, dann kann man dieses Thema auch anders einordnen als das hier gemacht wird. Stephan Schleim nimmt implizit an, es gehe beim Neuro- und Brain-Hype um ein Engineering-Projekt, wobei das was hier engineered wird, der Mensch selbst oder/und die menschliche Gesellschaft ist.
Mir scheint es naheliegender, den Neuro- und Brain-Hype in die Reihe der Forschungs-/Technologie-hypes überhaupt einzuordnen. Diese Tech- und Forschungs-Hypes lösen sich jeweils gegenseitig ab. Hinter den Forschungshypes steckt implizit die Annahme eines Zyklus. Am Anfang des Zyklus steht die Forschung, dann kommen die innovativen Anwendungen, schliesslich wird die Technologie breit angewendet und verliert ihre Exklusivität und ihr Herausstellungsmerkmal, weil sie zum Alltag gehört.
Forschungshypes werden heute von gewissen Kreisen bewusst moderiert und ins Szene gesetzt. Oft mit dem Hintergedanken, die lahmende Ökonomie (heute lahmt die Ökonomie ja in allen entwickelten Gesellschaften) anzustossen und ihr neue Anregungen zu geben. Es geht also letztlich um das Wirtschaftswachstum, das unsere Gesellschaft ja so dringend benötigt, damit all die gegebenen Versprechen (Renten, Schuldenabbau, etc) eingehalten werden können.
In der Wikipedia findet man jedenfalls einen Eintrag Hype Cycle mit den 5 Phasen: Technology Trigger, Peak of Inflated Expectations , Trough of, Disillusionment , Slope of Enlightenment, Plateau of Productivity
Forschungshypes werden in letzter Zeit häufig mit der angeblich gesellschaftsrelevanten Stossrichtung der neuen Technologie motiviert. Die weitverbreitete Kritik an der abgehobenen, dem Menschen nicht dienlichen Forschung und Wissenschaft (Weltraumforschung beispielsweise wird oft deswegen kritisiert) soll aufgefangen werden. Der Gesundheitsbereich bietet sich speziell an um einen Technologie- und Forschungshypes zu platzieren, denn an der Sinnhaftigkeit von Medizin und Gesundheit zweifeln nur wenige. Der Brain- und Neuro-Hype ist deswegen goldrichtig orientiert.
Ergänzung: Der Gartner Hype Cycle For Emerging Technologies, 2016 führt für etwa 30 Technologien ihren momentanen Ort im Hype-Zyklus auf. Rund um den “Peak of Inflated Expectations” findet man folgende Technologien: Blockchain-Technologie, Cognitive Expert Advisers, Machine Learning, Software Defined Security, Autonomous Vehicles, etc.
Der hier genannte Neuro- und Brain-Hype findet sich dagegen nicht. Wohl weil die Gartner-Hype-Technologien klar umrissene Forschungs- und Technologiefelder sind sind, während es sich bei Neuro- und Brain-Technologien um Kofferworte handelt, die vieles umfassen. Das Brain-Computer-Interface, welches im Gartner-Hype-Zyklus aufgeführt ist, gehört im weiteren Sinn auch zur Brain- und Neuro-Technologie.
forscht Hamburg Eppendorf nicht daran traumatisierte Soldaten wieder fit zu kriegen
was soll aus einer Gesellschaft werden die mit Egoshootern und Porno aufwächst
BTW: Eline-Beline-Deline, es gibt einen Grund warum der in unserem “Halbmondlager” gezüchtete “Affe Gottes” die Aleviten und Gülemisten wegbomt und in Säurebrunnen schmeißt
dafür braucht Mann eben “starke Nerven”
Von den in diesem Beitrag genannten Missständen hätte jeder einzelne schon einen eigenen Beitrag gerechtfertigt, die in dieser Zusammenschau aber erst deutlich machen, dass sich ins Gegenteil verkehrt hat, was ursprünglich beabsichtigt war – und vermeintlich noch ist -, nämlich eine Gesundheitspolitik zum Wohl des Einzelnen.
Es geht m E. nicht um die Fage, ob man mit dem Neuro-und Brain-Hype im Trend liegt, auch nicht darum, dass sich die technische Entwicklung nicht aufhalten lässt.
Es geht u.a. um Sinn und Zweck eines Magnetresonanztomographen, mit dem nach den Ursachen von psychischen Störungen geforscht werden soll. Man könnte meinen, dass über der Euphorie, über ein solches Gerät zu verfügen Ursache und Wirkung nicht mehr auseinandergehalten bzw. miteinander verwechselt werden; dass nicht der Verlust des Arbeitsplatzes, Stress in der Arbeit oder Mobbing Ursache psychischer Störungen sind – welche sich auch in Hirnprozessen niederschlagen -, sondern die neurologischen Abweichungen vom Normalen nun als Störungsursache behandlungsbedürftig werden.
Doch der eigentliche Zweck ist perfider, denn danach funktioniert “Mensch” offenbar nicht richtig, da er sonst fähig wäre, mit diesen Stressfaktoren angemessen umzugehen, statt psychische Störungen z entwickeln.
Eine solche Einstellung hat natürlich den Vorteil, dass mit ihr verhindert wird, sich mit den eigentlichen, der Stressursachen auseinanderzusetzen und Abhilfe dort zu schaffen, wo das Problem liegt, und stattdessen das Individuum als funktionstüchtigen Arbeitnehmer zu erhalten und in die Pflicht zu nehmen.
Willkommen in der schönen neuen postmodernen Welt.
Sehr guter Artikel , der die Ursachen beim Namen nennt.
Erinnert alles irgendwie an den Sozialdarwinismus des frühen 20.Jahrhunderts , inklusive des Gefühls , daß dieses Denken in Deutschland auch heute wieder besonders weit verbreitet ist.
@Trice: Sinn des MRT
Genau – und ich möchte eben aufzeigen, dass schon mit der Auswahl der Methode, die im Gehirn sucht, der Spielraum der Funde von vorne herein eingeschränkt ist.
Jede Methode ist mit Reduktionen (auch schlicht Vereinfachungen) verbunden. Wenn man das beim Interpretieren der Daten nicht vergisst, dann ist das kein Problem.
Interessant ist, dass rund 20 Jahre nach der Entwicklung der MRT Befunde aus der Gruppe um Andreas Meyer-Lindenberg plötzlich wieder ganz im Sinne der biopsychosozialen Modells interpretiert wurden: Weil die Mandelkerne von Städtern anders auf Stress reagierten als diejenigen von Menschen vom Land, dachte man plötzlich auch in neurowissenschaftlichen Kreisen an die Rolle der Umwelt.
Als ob man für diese Erkenntnis, erstens, einen teuren MRT bräuchte; und zweitens, als ob nicht so gut wie jedes MRT-Experiment auf einer Intervention in der Umwelt basierte!
Aber wem sage ich das?!
@DH: Sozialdarwinismus
So kann man es nennen.
Oder schlicht die Anpassung des Menschen an den (inzwischen globalen) Markt.
Oder schlicht die marktkonforme Demokratie (Zitat A. Merkel).
Anstelle eines demokratiekonformen Markts (wenn man denn ins Grundgesetz schaute).
Leider dauert es offenbar noch, bis das Bürgertum die Ernsthaftigkeit der Lage versteht.
Zitat:
Deutschlands Osten zeigt exemplarisch, dass ein zurückliegendes Leben im sogenannten “Sozialismus” zu Anpassungen führt, die noch mehrere Jahrzehnte nachwirken. Sich an so ziemlich alles anzupassen ist vielleicht für das Überleben gut, es führt aber aus der Sicht eines Menschenbilds, welches auf Entfaltung, Engagement und Solidarität abzielt, nicht unbedingt zu positiven Entwicklungen. Besser als sich an eine nach fragwürdigen Prinzipien operierende Gesellschaft anzupassen, ist es die Gesellschaft mitzugestalten. Das ist aber nur möglich, wenn man sich frei äussern kann.
Die Rede vom alles bestimmenden und formenden Neoliberalismus, die uns hier Stephan Schleim hält wäre im “realen Sozialismus” nicht möglich gewesen, falls das Wort Neoliberalismus durch Planwirtschaft oder gar Sozialismus ersetzt wäre. Stephan Schleim wäre in so einem Fall sofort von der Universität enfernt worden, seine Stimme also verstummt und er selbst unwirksam. Das wiederum würde die anderen “Stephan Schleims” Mores lehren und die Bereitschaft zur Anpassung erhöhen. Positiv wäre das nur aus der Sicht des Systems.
@Schleim: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!
Sie erheben schwere Vorwürfe gegen Gehirnforscher (Ideologie/Versagen, usw.) – nur weil Ihnen eine bestimmte Forschungsrichtung nicht passt. Dabei sind gerade Sie selbst ein großartiges Beispiel dafür – wie sich Forscher nicht verhalten sollten!
Sie waren hier bei SciLogs die erste Person, die ich ab 2008 darauf aufmerksam machte, dass im Rahmen der sogenannten ´Nahtod-Erfahrung´ (NTE) Arbeitsweisen des Gehirns der bewussten Wahrnehmung zugänglich sind. Statt diese Hinweise ernst zu nehmen und zu überprüfen, haben Sie meine Hinweise entweder ignoriert oder wurden pampig.
Für alle Leser, die mit der Problematik nicht vertraut sind: NTEs, wie sie seit 1975 im Buch von Dr. Moody ´Leben nach dem Tod/Life after Life´ beschrieben sind, laufen nach einer systematischen und nachvollziehbaren Struktur ab. D.h. diese Erlebnisse sind direkt der bewussten Wahrnehmung (Intraspektion) zugänglich:
Man kann dabei bewusst erleben, wie das Gehirn einen einzelnen Reiz systematisch und strukturiert verarbeitet. Dieser Zugang zur Arbeitsweise des Gehirns ist einzigartig. Aber er wird nicht erforscht, weil Psychologen dieses Thema systematisch ignorieren.
Kurz gesagt: Weil die Psychologie/Gehirnforschung das Thema NTE seit 4 Jahrzehnten ignoriert, hat man diesen Zeitraum als Forschungszeit verloren – und damit auch die Chance neue bzw. verbesserte Methoden zur Vorbeugung bzw. Behandlung von neuronalen Störungen zu entwickeln.
(Ich habe seit 2006 ein komplettes Erklärungsmodell für NTEs entwickelt, damit sind meine Behauptungen nachvollziehbar und nachprüfbar. Mein aktuelles Buch/e-Buch ´Kinseher Richard: Pfusch, Betrug, Nahtod-Erfahrung – oder: Regelwerk für Ablaufstrukturen des Denkens´ ist im Handel erhältlich. (Der Vorwurf im Titel bezieht sich auf die Qualität der bisherigen Forschung! Und – als Grundlage für mein Erklärungsmodell verwende ich fast ausschließlich das Buch ´Leben nach dem Tod´ – um zu belegen, wie die bisherige Forschung versagt hat. Wichtigste Grundlage meines Erklärungsmodells ist die Annahme, dass alle Menschen beim Erlebenszeitpunkt einer NTE – geistig klar bei Bewusstsein sind.))
Buchtipp: Die rororo-Ausgabe von ´Leben nach dem Tod´ ist für 8,99 Euro im Buchhandel erhältlich.
Sehr geehrter Herr Schleim,
mit Interesse habe ich den Beitrag gelesen. Es erstaunt mich aber, dass sie so ungeniert Kraepelin zitieren. Für mich ist der Herr der akademische Lehrer von Rüdin und einer der geistigen Väter von rassitisch-biologistischen Konzepten, die seine Schüler sehr engagiert erweitert und umgesetzt haben. Diese rassitisch-biologitischen Modelle in die Spähre der NSDAP zu schieben, halte ich für eine erfolgreiche Strategie der beteiligten Wissenschaftler, nicht mehr. Darüber hinaus folgen die modernen Neurophysiologen auch nur den altbekannten Trends der Leistungssteigerung. Mit dem MRT ist die Funktionsweise des Hirns erkennbar, nicht die Seele. Das wissen die beteiligten Forscher selbst. Stressforschung wiederspricht dem nicht, sondern zielt darauf, die Balance zu finden und zu entlasten. Die Führungskräfte sind ja nicht im Krieg, wo gezielt Drogen verabreicht werden. Leistungssteigerung ist aber soweit verbreitet, ist so stark gesellschaftlich akzeptiert, ihr Artikel greift da zu kurz. Vor allem bitte ich Sie, ihre eigenen Ansätze in bezug auf Kraepelin zu überdenken. Denn die Psychologie dieses Ansatzes geht in genau dieselbe Richtung. Leistungssteigerung in der Industriegesellschaft, Auslese der Stressresistenten, Steigerung der Stressresistenz. Psychologie ist ebenso eine tödliche Wissenschaft wie Hirnforschung, Physiologie, Molekularbiologie oder Biochemie. Dahinter steht der lenkbare Mensch. Der Cyborg im Körperpanzer.
Mir scheint, ihre Position deckt sich weitgehend mit der von Stefan Schleim, nur gehen sie noch einen Schritt weiter und sehen nicht nur die Medizin (wofür Kraepelin als Psychiater steht), sondern auch die Psychologie im Dienste einer inhumanen, ausbeuterischen Gesellschaft. Um Herrn Schleim wirklich zu beleidigen und sein Missfallen zu erwecken, müssten sie auch noch die Philosophie im Dienste der Industriegesellschaft sehen und damit ihre folgenden Sätze um das von mir Fettgedruckte ergänzt:
@Beate Winzer
“Die Führungskräfte sind ja nicht im Krieg, wo gezielt Drogen verabreicht werden.”
Die Droge, für den immernoch zeitgeistlich-reformistischen Krieg im nun “freiheitlichen” Wettbewerb um …, ist die gezielt-systemrationale Bildung zu einer “erfolgreichen” Karriere in Zeit- / Leistungsdruck von Kindesbeinen, usw. – Folge: Bewußtseinsbetäubung, Neurosen und Psychosen in gutbürgerlicher Suppenkaspermentalität auf Schuld- und Sündenbocksuche, wo längst geistig-heilendes Selbst- und Massenbewußtsein das teils logisch brutal-egoisierende “Individualbewußtsein” befrieden, fusionieren und zweifelsfrei-eindeutig gestalten könnte.
“Dahinter steht der lenkbare Mensch. Der Cyborg im Körperpanzer.”
Richtig, im nun “gesunden” Konkurrenzdenken des “freiheitlichen” Wettbewerbs um …, wo Symptomatik in “Wer soll das bezahlen?” und “Arbeit macht frei” das “Zusammenleben” konfusioniert, spaltet und systemrational entartet, wo eine Quote von 30% “Heilung” nur Funktionalität meint, da ist immer nur die Pflege der Hierarchie in Bewußtseinsschwäche seit der “Vertreibung aus dem Paradies” und somit der geistige Stillstand gefragt.
“die Suche nach den Grundlagen oder Ursachen psychischer Störungen in den Genen, Gehirnen, Körpern und damit in jedem Falle im
Körper des Individuums passt hervorragend zum Neoliberalismus.”
Hier werden also die ganz großen Geschosse ausgefahren, um ein (um Geldmittel) konkurrierendes Forschungsfeld – die Neurowissenschaft – zu verunglimpfen.
Zum Thema des Artikels: es kommt wie immer drauf an. Wer verstehen will, wie z.B. die sehr komplexen Verhaltensanomalien des Williams-Beuren-Syndroms oder des Lesch-Nyhan-Syndroms zustande kommen, tut gut daran, in Genen und Gehirn zu suchen (beide Syndrome sind 100% genetisch bedingt). Hier wäre es ein Fehler, die Umwelt für das merkwürdige Verhalten verantwortlich zu machen, bzw. dort nach Ursachen zu suchen. Auch Autismusforscher tun gut daran (auch) im Gehirn und in den Genen zu suchen (Zwillingsstudien finden, dass Autismus zu einem signifikanten Anteil vererblich ist). Bei anderen Syndromen mag das anders sein, doch selbst dann macht es Sinn, nachzuverfolgen, wie ein Reiz aus der Umwelt im Gehirn verarbeitet wird und zu einer (möglicherweise pathologischen) Reaktion führen kann.
In dem Artikel kommt es ja zu einigen bekannten Fehlschlüssen; für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem im Artikel vertretenen Standpunkt empfehle ich the blank slate von Steven Pinker. Ich weiß, Stephan Schleim wird sich wohl kaum von dessen Argumenten überzeugen lassen, aber jeder Leser kann sich ja selbst ein Urteil bilden.
Vely clever beigetragen, journalistisch und in Form eines WebLog-Artikels – zur womöglich reißerischen Überschrift konnte ergänzt werden, dass es (erst einmal) um vier Millionen Euro ging, aber immerhin!
Ohne also besonders gegenrednerisch werden zu wollen, Sie haben ja recht, werter Herr Schleim, generiert das Soziale, auch besondere Sozialbezüge sind gemeint, bei einigen Angst, bspw. wenn sie überfordert oder unterfordert sind oder in der Kollegenschaft auf Grund von eigenem Talent oder eigene Minderleistung / Überforderung leiden, was normal ist.
Angst ist sozusagen normal und es wäre womöglich schlimm, wenn einige keine Angst hätten, in ihrer gesellschaftlichen Position.
In anderen Gesellschaftssystemen ist die Furcht ohnehin ein wichtiger, vielleicht auch: zentraler: Lenkungsfaktor, insofern:
…haben Sie ja recht und Dr. W wäre der Letzte, der Ihnen hier nicht zustimmen könnte, aber, abär, ein wenig amüsiert bis beömmelt worden ist sich hier schon.
Denn es war der Liberalismus, das Sapere Aude, das gesellschaftlich mühsam durchgesetzt werden konnte, kein wie immer gearteter ‘Neoliberalismus’ (oder ‘Ordoliberalismus’ – ‘Neoliberalismus’, der besonders das Soziale meint und insofern eine, wie einige finden, positive Neuerung des Liberalismus’ darstellt), der ‘Stress’ und ‘Angst’ bei einigen Individuen generiert, aber bei wenigen – und bei viel weniger Individuen als zuvor (und in anderen Gesellschaftssystemen, in gesellschaftlichen Vorgängersystemen) generiert worden ist.
Worauf Sie wohl hinaus wollen, ist eine Dekadenz, die sich in modernen Gesellschaftssystemen zu ergeben scheint, die dann bspw. “mal eben so an das Hirn” ranwollen, wenn es doch erst die Kultur zu bearbeiten gälte.
Woll?
So ein “Gehen wir auch mal diesbezüglich ans Hirn ran” wäre zu verwerfen.
MFG
Dr. Webbaer (der sich ohnehin über die Hirn-Zentriertheit einiger Hirnforscher besorgt zu zeigen, bei Herrn Schleim natürlich, auch qua Ausbildung, eine Ausnahme zu machen hat)
@ Beate Winzer :
Sehr lustig Ihre Nachricht hierzu:
Insbesondere Einschätzung wie diese meinend und intonierte Auswirkung:
Auch Satan höchstpersönlich mag gelegentlich recht haben.
Ihr Kommentatorenkollege kann Ihnen also nicht ganz folgen, hat ansonsten zudem an der ‘Schnittstelle’ (Stephan Schleim) zu nagen, findet abär Ihre Nachricht nicht so-o gut, im Moment.
Das Hirn des hier gemeinten Primaten ist keine ‘Schnittstelle’.
Schnittstellen meinen Geräte oder virtuelle Geräte, die über Vereinbarungen, auch sogenannte Kodierungsvorschriften sind gemeint, dem Datenaustausch beihelfen, letztlich die Information. [1]
Das hier gemeinte Hirn, des Primaten, bei anderem Getier wäre der Schreiber dieser Zeilen ein wenig sparsamer, ist eine CPU, eine Verarbeitungseinheit, der -im üblichen Sinne- Geist zugesprochen wird.
Das hier gemeinte Hirn ist keine Schnittstelle, sondern eine Verarbeitungseinheit, die eigene Welten schafft.
Unter anderem auch die Geisteswissenschaften zehren von dieser (dann: zugegebenermaßen: rekursiven) Erkenntnis.
>:->
MFG
Dr. Webbaer
[1]
“Keine Sau weiß, was Information eigentlich ist.”
Gemeint ist, dass sich in unterschiedlich erkennenden Subjekten bestimmte Sicht (auf Daten – oder metaphysische Sicht) zumindest ähnlich aufbauen lässt nachdem sie transportiert * worden ist.
*
Shannon-Weaver sozusagen, wobei einige, der Schreiber dieser Zeilen rechnet sich hier hinzu, nicht “ganz so” mitgehen, aber als Skizze wohl genügt.
Nachricht (was immer dies auch genau sein mag), wird kodiert und versandt und in der Hoffnung, dass bei der Rezipienz ähnlich aufgebaut werden kann, nämlich die ursprüngliche Nachricht, wie einst versandt.
Die Rezipienz dekodiert und abstrahiert dann zu Nachricht.
Alles sehr vage und lustig, funktioniert aber, grob.
Wer sich als Wissenschaftler, Wissenschaftstheoretiker oder Wissenschaftsjournalist bezeichnen möchte, sollte drei Fehler rigoros vermeiden:
1. sich von Schlagworten und Schlagzeilen ohne Kontext leiten zu lassen;
2. Zweifel und Misstrauen mit Skepsis zu verwechseln;
3. eigene Vorurteile für die Wahrheit zu halten.
Skepsis gegenüber jeder Wissenschaft ist legitim und bedarf keiner Begründung, schon aus wissenschaftstheoretischen Überlegungen. Misstrauen aber, das man heute sehr häufig vorfindet, sich selbst aber als Skepsis verstehen will, braucht gute und sachliche Gründe. Solche Gründe werden gerne ersetzt eben mit inhaltsleeren Schlagworten wie “Neoliberalismus”.
Dass der Mensch von seiner Umwelt geprägt wird, das war schon Gegenstand und Philosophie des Behaviorismus, der vom Kognitivismus abgelöst wurde, weil er ungenügend war, weil er das Gehirn ausklammerte. Dass andererseits die Bildgebungsverfahren nicht genügend sind, um die Psyche zu erklären, das weiß heute auch jeder Neurowissenschaftler und jeder Psychologe. Neue Technologien erzeugen zunächst Euphorien, hauptsächlich bei den Randfiguren der Wissenschaft, die sich davon zuviel versprechen, bevor wieder Ernüchterung eintritt.
Forschungsmittel werden nicht blind vergeben. Man muss den Antrag begründen, dann wird er in aller Regel von neutralen Fachleuten begutachtet. Niemand kann aber die Zukunft und den Erfolg oder Misserfolg eines Forschungsprojekts vorhersehen. Selbstverständlich wird der Antragsteller sein Vorhaben sowie sich selber im besten Licht darstellen. Auch das ist Marktwirtschaft und Konkurrenz, die Ingredienzen des “Neoliberalismus” oder des “Kapitalismus”. Beides sind tiefliegende lebenswichtige Eigenschaften des Menschen. Sogar die biologische Evolution funktioniert nach diesen Gesetzen, sei es die Nahrungssuche oder die Partnerwahl. Was ist Eifersucht anderes als Karrieresucht oder kriminelle Habgier? Um sie zu verstehen, braucht man die bildgebenden Verfahren, als Steinchen im biologisch-neurologisch-psychologisch-ökologischen Mosaik.
@Stephan Schleim und DH: marktkonforme Demokratie
Der Begriff “marktkonforme Demokratie” trifft besser, worum es geht:
In letzter Zeit begegnet man mir häufig mit dem Argument, dass wir (wer immer auch damit gemeint sein mag) es geschafft haben, eine kapitalistische Wirtschaftsordnung mit einer ethischen d.h., die Menschenrechte und die Menschenwürde achtenden, Gesellschaftsordnung in Einklang zu bringen.
Oberflächlich betrachtet mag das stimmen, denn es fällt ja kaum auf, dass eben diese Gesellschaftsordnung zum Manipulationsmittel geworden ist, der Wirtschaft und nicht primär (wenn überhaupt) dem Wohl des Einzelnen dient. In einer massenhaft produzierenden und massenhaft konsumierenden Massendemokratie wird das Individuum sowohl als Produzierender in der Wirtschaft als auch als Konsument benötigt, um sie am Laufen zu halten. Arbeitsausfälle aufgrund von Stress, Überforderung, Mobbing, Burnout usw. schaden der Wirtschaft. Da es wirtschaftlichen Interessen nicht dient, wenn Arbeitsbedingungen und Arbeitsumfeld geändert und den Menschen und ihren Bedürfnissen angepasst werden, muss der Mensch optimiert und an die Bedingungen der Arbeitswelt angepasst werden – womit man zudem der Wirtschaft ein weiteres Arbeitsfeld erschließt.
Nach außen hin hat es zwar den Anschein, als würde hier etwas zum Wohle des Einzelnen getan, und wer fragt schon nach, wenn es heißt, man würde die Ängste der Menschen ernst nehmen und sie wissenschaftlich untersuchen. Zumal, wenn zu diesem Zweck ein ganz neuer MR-Tomograph eingesetzt wird.
Möglicherweise ist den Leuten der Ernst der Lage nicht bewusst, weil die Folgen dieser Verkehrung ins Gegenteil noch nicht erfahren wurden bzw. nicht antizipiert werden können …
Fürcht ich auch , viele Bürgerliche glauben immer noch , ihre Position halten zu können , indem sie sich nach oben hin anbiedern.
@Trice
Schön beschrieben . Man kann das auch gut beobachten an der Fixierung therapeutischer Ansätze auf die (Wieder-)Herstellung von Arbeitsfähigkeit , ob das zum Menschen paßt , interessiert dann nicht mehr , wer arbeitet , gilt als geheilt , auch dann , wenn er seinen Job nur ertragen kann , indem er sich pfundweise Fremdstoffe reinpfeift.
Muß natürlich scheitern , hohe Rückfallquoten werden dann aber dem Versagen des Einzelnen zugerechnet.
Auch beten sie in den Medien gebetsmühlenartig die Mär rauf und runter , daß nur glücklich sein könne , wer teilhaben kann , was nichts anderes ist als ein Euphemismus für die “Teilhabe” am täglichen Hamsterrad.
@ (wundervolle) Trice :
Aufklärerische Gesellschaftssysteme meinen das Sapere Aude und jeden Einzelnen, zu beachten gilt es in diesem Zusammenhang die Einschätzung und Rede des hiesigen werten Inhaltegebers zur Kenntnis zu nehmen, wer Kapitalismus sagt, meint Marx und mit ihm kollektivistisches Trötentum.
Begriffe wie ‘Stress, Überforderung, Mobbing, Burnout’ und so weiter sind zuvörderst Gedanken-Produkte des weißen Mannes, wobei dies metaphorisch gemeint ist, aber nicht gänzlich, und selbstverständlich auch das feminine Personal einschließt, wie auch Immigranten oder Nicht-Immigrierte.
Anderswo, dies darf vielleicht auch bemerkt bleiben, sind derartige Diskussionen kaum möglich.
Insofern darf sich bei dbzgl. Begrifflichkeit auf eine Gesellschaft zurückgezogen werden, die es bei einer anhaltenden Fertilitätsrate von ca. 1,4 bald nicht mehr geben wird.
Dies natürlich nur am Rande notiert, Debatten über Geist und Hirn werden in Bälde selten werden.
MFG
Dr. Webbaer
@ KRichard: Nahtoderlebnisse
Wie ich Ihnen, glaube ich, seit Jahren erwidere, ging es in diesem Blog (jedenfalls meiner Erinnerung nach) noch nie um Nahtoderlebnisse. Daher finde ich Ihre wiederholten Verweise auf das Thema, die gerne im moralisierenden beziehungsweise vorwurfsvollen Ton daherkommen, nach wie vor unpassend.
@Beate Winzer: Nachfragen
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Ihre Gedanken bezüglich Kraepelins noch etwas ausformulieren. Mir scheint das sehr wichtig, doch kann ich Ihnen nicht ganz folgen.
Wussten Sie, dass sich selbst die Schülerinnen und Schüler des (jüdischen) Freuds bei den Nazis anbiederten, etwa um Menschen auf ihre Wehrtüchtigkeit hin zu kontrollieren beziehungsweise zu optimieren?
Nunja, wenn man sich die Sprache mancher Führungskräfte anschaut – wo etwa von “Angriffen” die Rede ist, von “feindlichen Übernahmen” oder auch Marc Zuckerberg mit Blick auf den Konkurrenten Google Cato zitiert: Carthago delenda est –, weiß ich nicht, ob das so stimmt.
Zum Stichpunkt “Leistungssteigerung” lade ich Sie ein, sich einmal meine Artikel aus der Rubrik Cognitive Enhancement anzuschauen.
Und dass, wie Sie am Ende selbst schreiben, die Psychologie nicht besser sein muss, diskutierte ich schon einmal in diesem Artikel:
Wie viel Schlechtes können wir der Seele zumuten? (2013)
Und wenn Sie jetzt immer noch nicht genug haben, dann noch diesen:
Kapitalismus und psychische Gesundheit (2015)
Es ist hier bei MENSCHEN-BILDER unüblich, diese Antworten-Funktion zu verwenden, weil das die Diskussionen unübersichtlich macht.
Da Sie hier neu sind, möchte ich Sie auf meine Antwort am Ende der Kommentarchronik hinweisen.
@Diana: Thema verfehlt
Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie mir hier inhaltlich widersprechen.
Ich finde aber, dass Sie das Thema verfehlen, wenn Sie hier Beispiele neurologischer Erkrankungen anführen. Wurde im Text nicht deutlich, dass es mir um psychische Störungen geht? Angststörungen, Stress… das steht doch alles im Text.
Nur am Rande: Selbst bei diesen Erkrankungen, die Sie als 100% genetisch bezeichnen (wenn es so etwas überhaupt gibt), sind diese Gene in einen Körper eingebunden, findet epigenetische Regulation statt und leben die Patientinnen und Patienten oft jahrelang mit diesen Genen, ohne dass die Erkrankung ausbricht.
Ich habe im Übrigen überhaupt nichts gegen die Neurowissenschaften, sondern folge im Gegenteil deren Erkenntnisse mit großem Interesse.
Meine Kritik richtet sich allein gegen eine bestimmte reduktionistische, philosophische und ideologische Ausrichtung der Neurowissenschaften.
Jetzt sind Sie aber ganz schön voreingenommen.
Erstens habe ich nie behauptet und bin ich auch nicht der Meinung, dass Menschen als “blank slate”, um Ihr Buch Pinkers zu zitieren, auf die Welt kommen.
Zweitens habe ich mich hier jahrelang argumentativ mit Leserinnen und Lesern, darunter aktiven Molekularbiologen oder sogar ein MPI-Direktor, inhaltlich auseinandergesetzt. Für ein frappantes Beispiel mit beinahe 500 Kommentaren, siehe
Warum der Neurodeterminist irrt
@ Webbaer: Millionen? Milliarden!
Ja, in der einen Pressemitteilung ging es um vier Millionen.
Insgesamt, und die Großprojekte sind ja auch im Artikel erwähnt, geht es um Milliarden.
Die NIMH in den USA bekommen jährlich rund 1,5 Milliarden vom Steuerzahler, wovon 2/3 in die (überwiegend biologische) Forschung fließen.
Dagegen ist selbst das Human Brain Project ein Witz.
@Reutlinger: Voreingenommenheit
Wenn Sie Ihre drei Vorwürfe auch an meinem Text festmachen, statt sie so in den Raum zu stellen, dann reagiere ich gerne noch darauf.
Offenbar sind zehn-fünfzehn Jahre wissenschaftlicher wie öffentlicher Diskussion spurlos an Ihnen vorbeigezogen. Ich verweise für den Einstieg noch einmal auf das berühmte Manifest sogenannter führender Hirnforscher aus Gehirn&Geist im Jahre 2004.
Wie kommen Sie denn darauf, Gutachterinnen und Gutachter seien neutral?
In den Fällen der Großprojekte werden sie von politischen Funktionären beziehungsweise Angestellten des Staates ausgewählt. Das steht so im Text.
In anderen Fällen von Editors, die Angestellte eines profitorientierten Unternehmens (man denke an die Nature Publishing Group, Springer, Elsevier…) sind. Auch ohne finanziellen Profit spielen meistens Aufmerksamkeitsinteressen mit.
In wieder anderen Fällen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die alle eigene Meinungen darüber haben, was “gute Wissenschaft” ist.
Nein, ich kann Ihnen aus dem Stegreif fünf Entscheidungen nennen, die ich am eigenen Leib erlebt habe, von denen vier ideologisch motiviert sind und eine durch Unwissen und Schlampigkeit.
Einen extremen Fall habe ich vor Gericht gebracht, in drei Instanzen Recht bekommen, am Ende EUR 250.000 zugesprochen bekommen (zuzüglich Verfahrenskosten und Zwangsgeld) und mit der Schadensersatzklage fangen wir jetzt erst an.
Und warum lebt so ein System weiter? Weil die meisten Kolleginnen und Kollegen eben Opportunisten in einem konkurrenzbasierten, durch Fördermittel und korrumpierende Indikatoren wie dem “Impact Factor” bestimmten System sind.
Psychologisch ist das nachvollziehbar; kritische gesehen ist es eine Schande!
Das alles wollen die Reutlingers dieser Welt aber nicht sehen.
@Trice: marktkonforme Demokratie
Danke, treffender hätte ich es nicht formulieren können.
Ich möchte jedoch ergänzen, dass dieses Modell nur kurzfristig wirtschaftlich ist.
Langfristig ist es unwirtschaftlich, da es die Ressource Mensch verschwendet und so das System destabilisiert.
Durch die Krisenherde um Europa herum, zum Teil schon darin, und auch den großen Zulauf bei radikalen Parteien (AfD, PVV in den Niederlanden, Front National in Frankreich) macht sich das meiner Meinung nach heute schon bemerkbar.
Wie reagiert das Bürgertum? Es witzelt darüber, dass die Ängste der Massen ja “objektiv” unzutreffend seien. Hervorragend, Problem gelöst! Oder jedenfalls ignoriert.
@ Stephan Schleim :
Vermutung:
Die Gründe, dass moderne aufklärerische Gesellschaftssysteme – die auch das freie Handeln Einzelner und im Verbund erlauben, als Leistungsmerkmal, das sie erst hat durchsetzungsfähig werden lassen – bestehen darin, dass die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren und supranationale Interessen, die nicht nur die “marktkonformer Demokratien” meinen, ungünstig an Bedeutung gewinnen.
Deshalb will Mme Merkel auch nicht zuvörderst die Probleme Deutschlands lösen, sondern, sozusagen: zuerst, die Probleme der ganzen Welt.
Und Hillary kann über die Clinton Foundation sozusagen gebucht werden.
Es liegt ungünstiger Internationalismus vor, der keine Spur ungefährlicher ist als übertriebener Nationalismus.
Wenn jetzt in der BRD welche auf der Straße herumrennen, um zu bekunden Merkel und bestimmte Entwicklung nicht gut zu finden, liegt dies nicht an einer ‘Kurzfristigkeit der Wirtschaftlichkeit’ dieses Gesellschaftssystems, sondern an dessen sukzessive Zerstörung durch internationalistische Kräfte.
HTH
Dr. Webbaer
*
– leiden, bestehen darin
PS hierzu:
Das Bürgertum ist über die Entwicklung zutiefst besorgt und “rennt gar auf der Straße herum”.
Es sind progressive politisch linke Kräfte, die witzigerweise linksliberal (ein Oxymoron) genannt werden, die über diese Besorgnis lächelt.
Segregation wird die Folge sein, ist Ihnen auch klar, Herr Schleim, oder?, die witzigerweise von großen Städten in Europa ausgehen wird, Balkanisierung, gar Gazaisierung und Kalifats-Bildung demnächst…
Wer noch einige Zeit zu leben hat, wird Webbaers Prophezeiung, und Webbaeren sind gut i.p. Prädiktion, noch voll miterleben.
@Trice
” … Oberflächlich betrachtet mag das stimmen, denn …”
Nee, nee, das stimmt NICHT IM GERINGSTEN, so sehr wie es AUCH NUR den “Einzelnen” gibt 🙂
In dieser Welt- und “Werteordnung” des geistigen Stillstandes für den nun “freiheitlichen” Wettbewerb um …, stimmt nichts wirklich-wahrhaftig mit Menschenwürde und zweifelsfrei-eindeutiger Menschlichkeit überein – KOMMUNIKATIONSMÜLL in systemrational-konfusionierender Überproduktion!!!
@DH: teilhaben
“Auch beten sie in den Medien gebetsmühlenartig die Mär rauf und runter , daß nur glücklich sein könne , wer teilhaben kann , was nichts anderes ist als ein Euphemismus für die „Teilhabe“ am täglichen Hamsterrad.”
Eben deshalb spielen die Leute aber auch mit. Denn wer teilhat am täglichen Hamsterrad, gehört dazu, ist Teil der Gesellschaft. Wer nicht mehr teilhat, ist außen vor, gehört nicht mehr dazu, lebt am Rande der Gesellschaft. Für uns als soziale Wesen ist aber die Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander extrem wichtig – und genau da setzt unsere marktkonforme Massendemokratie den Hebel an: entweder man spurt, oder man ist draußen.
Bei der Angst um den Arbeitsplatz kommt die Bedrohung der Existenz hinzu. Die Vernichtungsangst trägt entscheidend zur Bereitschaft der Menschen bei, selbst wenn man ihnen klarmacht, dass sie zu wirtschaftlichen Zwecken optimiert werden sollen, sich behandeln zu lassen.
Das würde ich etwas anders ausdrücken: jede Sau hat eine eigene Vorstellung von Information. Rein spaßeshalber verweise ich mal auf einen alten Aufsatz von mir selber <a href="http://www.system-kybernetik.de/ssii.pdf" rel="nofollow" Logik der Information .
Shanonn und Weaver haben sich auf die technologischen Belange der Darstellung, Repräsentation und Quantifizierung von Information auf physischen Substraten und Signalen (elektrisch/elektronische Realisierung) fokussiert. Dagegen fällt die Bedeutung, oder Semantik und Pragmatik, von Information in die Fakultäten der Psychologie, Soziologie und Philosophie und umfasst alle Bereiche des täglichen Lebens. Das ist der Grund für das diffuse Verständnis von Information als Allerweltsbegriff. Dazwischen liegen die Informatik und Linguistik mit Semiotik und Syntaktik der Information. Nebenbei, den Logos aus der Bibel würde ich mit Information übersetzen.
@Stephan Schleim: marktkonforme Demokratie
“dass dieses Modell [marktkonforme Demokratie]nur kurzfristig wirtschaftlich ist.
Langfristig ist es unwirtschaftlich, da es die Ressource Mensch verschwendet und so das System destabilisiert.”
Da bin ich mir nicht so sicher. Zum einen zählt ja für diejenigen, die an den Hebeln der (Wirtschafts-)Macht sitzen, der aktuelle wirtschaftliche Erfolg – und der einzelne mensch ist ersetzbar. Zum anderen wird jede Regierung und jede Partei – gleich welcher couleur – , wenn sie nicht scheitern will, die Belange und Forderungen der Wirtschaft im Blick haben.
Hinzu kommt – Menschenwürde hin oder her -, dass es mit dem Menschen ist wie mit jeder “Ware”: gibt es davon zuviel, verliert sie ihren Wert. Dass dies nicht laut gesagt, und auch vehement bestritten wird, ändert nichts daran, dass wir letztlich genau so ‘gehandelt’ werden. Nur wird, was menschenunwürdig ist, positiv verkauft, damit man nicht oder zu spät merkt, wemh ier eigentlich das Feld bereitet wird.
Was die Ressource Mensch betrifft, so hätte man den Rückgang der Geburtenrate eigentlich auch als ein Gesundschrumpfen der Gesellschaft sehen können, womit der ‘Wert’ des Einzelnen – marktwirtschaftlich gesehen – gestiegen wäre.
“Wie reagiert das Bürgertum? Es witzelt darüber, dass die Ängste der Massen ja „objektiv“ unzutreffend seien. Hervorragend, Problem gelöst! Oder jedenfalls ignoriert.”
Das gehört doch zur Strategie: Gerade dann, wenn man die Ängste als unzutreffend bezeichnet, macht es doch Sinn, sie u.a. per MRT zu untersuchen, um sie bzw. die einzelnen Menschen zu behandeln und diesen wieder marktkonform zu machen.
Da war leider ein Häkchen verloren gegangen, also nochmal: Logik der Information.
@Dr. Webbaer: Gesellschafts(un)ordnungen
“wer Kapitalismus sagt, meint Marx und mit ihm kollektivistisches Trötentum.”
Die kapitalistische Marktwirtschaft meint eine Wirtschaftsordnung, die die Kriterien erfüllt, dass das Eigentum an Produktionsmitteln grundsätzlich privat ist und dass es Koordinierungsmechanismen geben muss, also Angebot und Nachfrage. Auch wenn beim ersten Kriterium noch etwas vom Marx’schen Kapitalismusbegriff anklingt, hat es mit Marx nicht mehr viel zu tun.
“Begriffe wie ‚Stress, Überforderung, Mobbing, Burnout‘ und so weiter sind zuvörderst Gedanken-Produkte des weißen Mannes,”
Ich widerspreche hier nicht ungern ;-), denn es handelt sich nicht um Gedankenprodukte, sondern um Begriffe für Symptome, die insbesondere – hier stimme ich zu: in einer massendemokratischen (ich liebe diesen Begriff, 🙂 ) Gesellschaft auftreten.
Insofern darf sich bei dbzgl. Begrifflichkeit auf eine Gesellschaft zurückgezogen werden, die es bei einer anhaltenden Fertilitätsrate von ca. 1,4 bald nicht mehr geben wird.
Da habe ich Zweifel. Diese jetzige Gesellschaft wird es in absehbarer Zeit so nicht mehr geben, das sehe ich auch so. Aber ich denke, wir können einmal davon ausgehen, dass auch eine veränderte zukünftige Gesellschaft, wenn sie ökonomisch orientiert ist, die gleichen Symptome zeitigen wird.
Möglich ist natürlich auch ein Zusammenbruch des gesellschaftlichen Systems und seine Konsolidierung auf niedrigerem Niveau. Dann sind die Ängste und die mit ihnen einhergehenden Symptome anderer Art.
Debatten über Geist und Hirn werden in Bälde selten werden.
Das fürchte ich allerdings auch, 🙁
Treotzdem: ein schönes Wochenende, 🙂
@Dr. Webbaer:
“Wer noch einige Zeit zu leben hat, wird Webbaers Prophezeiung, und Webbaeren sind gut i.p. Prädiktion, noch voll miterleben.”
Nicht nur Webbaeren, wie ich bemerken möchte!!!
(nd im letzten Kommentar muss es natürlich “Trotzdem” heißen – also trotz der trüben Aussichten (nicht aufs Wetter bezogen)
@Trice: Menschenmassen
Nunja, die bald rund 7,5 Milliarden Menschen sind ja nicht gleichmäßig über die Erde verteilt (was natürlich wieder zu anderen Problemen führt…).
Bleiben wir aber einmal innerhalb der Grenzen der EU-Kernländer, dann wird die gesunkene Geburtenrate im Zusammenhang mit den älter werdenden Menschen schon die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer stärken…
…wenn 1) diese sich wieder stärker als Gruppe identifizieren und 2) die Künstliche Intelligenz uns nicht vorher alle überflüssig macht.
Danke, @Stephan, für den anregenden Beitrag!
Es geht also mal wieder um die „überraschende“ Frage, warum Wissenschaftler/innen ausgerechnet das Gehirn untersuchen, wenn sie die „Grundlagen psychischer Störungen“ erforschen wollen.
Auf die Frage »Ja, wo denn sonst?«, fallen dem Wissenschaftstheoretiker nämlich „eine Reihe anderer Möglichkeiten“ ein. Und zwar vor allem die jeweiligen Bedingungen des soziokulturellen Umfeldes.
Nun ist ja unbestritten, dass uns die Umwelt krank machen kann. Das gilt sowohl für ganz konkrete Dinge (Tabakrauch, Radioaktivität) als auch für sogenannte „psychische“ Faktoren (Stress etc.).
Aber es geht den Neurowissenschaftler/innen ja nicht um Umweltfragen, sondern um die Frage, warum und auf welche Weise die genannten Dinge zu Störungen des Normalbetriebs führen (können). Da sich psychische Störungen, soweit wir wissen, primär im Gehirn manifestieren, liegt es nahe, zunächst das Gehirn zu durchleuchten. Und später vielleicht, wie sich ein „erkranktes“ Gehirn auf den restlichen Körper auswirkt.
Nun könnte man zwar sagen, nicht das Gehirn erleidet eine psychische Störung, sondern der Mensch, aber was würde eine solche Redeweise bringen? Wenn ein Mensch z. B. an Krebs erkrankt, dann gibt man sich ja auch nicht mit dieser Diagnose zufrieden, sondern schaut nach, welche Organe betroffen sind.
Eine ganz andere Sache ist, dass man dafür sorgen sollte, gar nicht erst zu erkranken, also die Dinge tunlichst meidet, die krank machen können, sei es nun seelische oder organische (wobei die Unterscheidung ‚seelisch oder organisch‘ nur dem üblichen Sprachgebrauch geschuldet ist, denn bei einer seelischen Erkrankung ist zweifelsfrei die Funktion des Gehirnorgans betroffen—und wer das heute noch bestreitet, der hat wohl den Schuss nicht gehört).
Was das alles, also die Erforschung der organischen Grundlagen und Ursachen diverser Störungen, mit dem Neoliberalismus zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht (nebenbei, „Ursache“ ist hier eh nicht der passende Begriff. So wie niemand, der bei Sinnen ist, die Ursache von Lungenkrebs in der Lunge sucht, so wird auch niemand die Ursache einer psychischen Störung im Gehirn suchen).
Was zur „vorherrschenden politischen Ideologie, nämlich dem Neoliberalismus“, passt, ist wohl eher die Tendenz, dem Individuum für seine Störungen und sein Leiden die alleinige Verantwortung zuzuschieben. Aber das ist eben ganz was anderes als z. B. die Erforschung der Entstehung von chronischen Schmerzen mittels eines MRT.
@Balanus;
Genau das ist der springende Punkt. Die Umwelt tut selber nichts, der Mensch nimmt die Umwelt wahr und reagiert darauf. Das war früher das Feld des Behaviorismus, der sich jedoch als unzulänglich erwiesen hat, wie weiter oben schon erwähnt. Es ist das Gehirn, das aus den Wahrnehmungen der Umwelt und des eigenen Körpers, den bewussten Erinnerungen und den unbewussten, auch biologisch bedingten Dispositionen die Reaktionen hervorbringt und gedanklich verarbeitet sowie sprachlich, emotional oder durch Handeln zum Ausdruck bringt.
Die physiologischen Vorgänge im Gehirn sind bekanntlich nicht direkt zugänglich, sondern nur indirekt über die in der Hirnforschung angewandten Verfahren und Instrumente. Die Krux der Hirnforschung ist die Zuordnung psychischer und mentaler Phänomene der Ersteperson- und der Dritteperson-Perspektive zu neurophysiologischen Vorgängen. Hier scheiden sich die Geister der Philosophie und auch mancher Hirnforscher. Die Schwierigkeiten liegen in der Komplexität, den Zufällen der Evolution sowie der Redundanz der neuronalen Strukturen, so dass 1:1-Zuordnungen so gut wie ausgeschlossen sind. Schwierigkeiten liegen auch in den unterschiedlichen Aggregations- oder Bedeutungsebenen (auch unterschiedlicher Disziplinen) und der unterschiedlichen Auslegung von Fachbegriffen.
Das Huma Brain Project ist ein gigantisches und sehr ambitioniertes Projekt. Es hat deshalb viel Kritik einstecken müssen. Selbstverständlich ist die Einwerbung von Fördermitteln auch ein Konkurrenzkampf, der oftmals mit harten Bandagen geführt wird. Das Problem ist jedoch nicht das System selber, sondern die Menschen im System, die sich nicht kooperativ, nicht sozial, nicht empathisch, nicht kompetent usw. zeigen. Menschen sind nun mal keine Maschinen. Die Lösung liegt jedenfalls nicht in der Ablehnung des ganzen Systems oder in seiner Denunziation.
@trice
Sehe ich auch so , aber ich glaub schon auch , daß das auf den Zusammenbruch rausläuft , der Druck wird nicht mehr lange aufrecht erhalten werden können.
Das ist zu sehr wider die Natur des Menschen, außerdem hat es immer auch Leute gegeben , die sich ausdrücklich über die Häresie definiert haben .
Die niedrigen Geburtenraten sind ganz endeutig ein Zeichen des Fortschritts , auch wenn sie in den Medien fast immer negativ gesehen werden.
Gerade die jetzige Friedhofsruhe dürfte eher die Ruhe vor dem Sturm sein als eine echte Befriedung.
@Stephan:
Zum Vorwurf “Thema verfehlt”: Stimmt, Sie beziehen sich im Artikel auf psychische Störungen, die man auf einer plakativen nature-nurture Skala eher rechts ansiedeln würde. Meinen Einwand, dass es sich meiner Einschätzung nach auch bei nicht genetisch determinierten Störungen lohnt, einen Blick ins Gehirn zu werfen, um zu verstehen, wie ein Reiz (z.B. Stress) neuronal verarbeitet wird und zu einer bestimmten Reaktion führt, haben Sie damit damit aber noch nicht entkräftet.
Ich habe mit dem Williams- und dem Lesch-Nyhan-Syndrom tatsächlich (und natürlich bewusst) sehr markante Beispiele gewählt – aus zwei Gründen:
1. sind die Ursachen beider Störungen tatsächlich auf den Genabschnitt/Basenpaar genau identifiziert – was nicht heißt, dass man damit die genauen Ursachen der Verhaltensänderungen genau verstanden hat. Aber hier hat man Beispiele, an denen man viel über den langen (und sonst so gut wie nie vergleichsweise “univariaten”) Weg vom Gen, Stoffwechsel, neuronale Reizmuster, etc, bis zur Reaktion lernen kann. Die Syndrome sind hochkomplex und es ist für mich unbeschreiblich faszinierend, wie hochspezifisch (bei selbstverständlich einer gewissen Variabilität) die Verhaltensmuster sind. Ich finde, das wäre ein wirklich spannendes Thema für einen ganz eigenen Blogbeitrag. Ihren Einwand, dass epigenetische Regulation statfindet und die Patientinnen und Patienten oft jahrelang mit diesen Genen leben, ohne dass die Erkrankung ausbricht, habe ich allerdings nicht nachvollziehen können. Das ändert doch nichts an der Tatsache, dass dies Beispiele sind, wie genetische Variation mit Verhalten zusammenhängt.
2. Zu den Zeitpunkten der Entdeckung der Syndrome in den 60ern wusste man noch nichts von möglichen genetischen Ursachen der Störungen. Aufgrund der Komplexität der Verhaltensanomalien insbesondere beim Lesch-Nyhan-Syndrom hat man die Syndrome tatsächlich auch mit “psychischen” Störungen in Verbindung gebracht. Was psychische und was neurologische Erkrankung ist, ist häufig gar nicht so einfach zu sagen und wird ja tatsächlich debattiert. Das lässt Ihren Rückzug – “ich beziehe mich ja nur auf psychische und nicht auf neurologische Störungen!” – möglicherweise etwas in einem anderen Licht erscheinen. Tatsächlich erinnert mich das etwas an Colthearts Trickfrage “what has neuroimaging told us about the mind?” Anwort: nichts, wenn man “mind” entsprechend definiert.
@Stephan:
Zum Vorwurf “Thema verfehlt”: Stimmt, Sie beziehen sich im Artikel auf psychische Störungen, die man auf einer plakativen nature-nurture Skala eher rechts ansiedeln würde. Meinen Einwand, dass es sich meiner Einschätzung nach auch bei nicht genetisch determinierten Störungen lohnt, einen Blick ins Gehirn zu werfen, um zu verstehen, wie ein Reiz (z.B. Stress) neuronal verarbeitet wird und zu einer bestimmten Reaktion führt, haben Sie damit damit aber noch nicht entkräftet.
Ich habe mit dem Williams- und dem Lesch-Nyhan-Syndrom tatsächlich (und natürlich bewusst) sehr markante Beispiele gewählt – aus zwei Gründen:
1. sind die Ursachen beider Störungen tatsächlich auf den Genabschnitt/Basenpaar genau identifiziert – was nicht heißt, dass man damit die genauen Ursachen der Verhaltensänderungen genau verstanden hat. Aber hier hat man Beispiele, an denen man viel über den langen (und sonst so gut wie nie vergleichsweise “univariaten”) Weg vom Gen, Stoffwechsel, neuronale Reizmuster, etc, bis zur Reaktion lernen kann. Die Syndrome sind hochkomplex und es ist für mich unbeschreiblich faszinierend, wie hochspezifisch (bei selbstverständlich einer gewissen Variabilität) die Verhaltensmuster sind. Ich finde, das wäre ein wirklich spannendes Thema für einen ganz eigenen Blogbeitrag. Ihren Einwand, dass epigenetische Regulation statfindet und die Patientinnen und Patienten oft jahrelang mit diesen Genen leben, ohne dass die Erkrankung ausbricht, habe ich allerdings nicht nachvollziehen können. Das ändert doch nichts an der Tatsache, dass dies Beispiele sind, wie genetische Variation mit Verhalten zusammenhängt.
2. Zu den Zeitpunkten der Entdeckung der Syndrome in den 60ern wusste man noch nichts von möglichen genetischen Ursachen der Störungen. Aufgrund der Komplexität der Verhaltensanomalien insbesondere beim Lesch-Nyhan-Syndrom hat man die Syndrome tatsächlich auch mit “psychischen” Störungen in Verbindung gebracht. Was psychische und was neurologische Erkrankung ist, ist häufig gar nicht so einfach zu sagen und wird ja tatsächlich debattiert. Das lässt Ihren Rückzug – “ich beziehe mich ja nur auf psychische und nicht auf neurologische Störungen!” – möglicherweise etwas in einem anderen Licht erscheinen. Tatsächlich erinnert mich das etwas an Colthearts Trickfrage “what has neuroimaging told us about the mind?” Anwort: nichts, wenn man “mind” entsprechend definiert.
@Balanus, danke für den aregenden Kommentar.
Das ist in all den Jahren nicht oft passiert, dass ich dir in fast allem zustimme.
Die beiden tendenziell strittigen Punkte scheinen noch zu sein:
Erstens, ist die Erforschung psychischer Störungen im Gehirn ideologisch geprägt? Nicht notwendigerweise – aber es besteht eben das Risiko. Natürlich gehört zum biopsychosozialen Modell/dem systemischen/kybernetischen Ansatz auch die Erforschung des Gehirns. Dann gehören solche Gehirnbefunde aber auch mit Blick auf die anderen Ebenen diskutiert.
Wenn man das unterschlägt, anders als du in deinem Kommentar, dann spielt man wohl oder übel dem Neoliberalismus in die Hände. Die Pressemitteilung zur Bekämpfung des Arbeitsstresses im Gehirn war doch mehr als deutlich.
Zweitens zu den Ursachen der Störungen. Da muss ich dir widersprechen: Natürlich werden in der biologischen Psychiatrie permanent genetische und neuronale Faktoren als Ursachen psychischer Störungen diskutiert. Google bloß einmal “causes of depression”. Ein frappierendes Beispiel auch: Thomas Insel 2010 im Scientific American, “Faulty Circuits” (hier schrieb der NIMH-Direktor für das breite Volk):
Das ist nur der erste Absatz – der ganze Artikel diskutiert schließlich diese vermeintlichen Ursachen. Das alles ist natürlich nach wenigen Jahren schon wieder überholt und Insel hat seinen Direktorenposten beim NIMH, also als wohl wichtigster Psychiater in den USA, an den Nagel gehängt und arbeitet jetzt bei Google.
Aus der Zusammenfassung:
So oder so – dieser ganze Neuro-Sprech suggeriert natürlich, dass nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung im Individuum zu verorten ist. Willkommen im Neuroliberalismus!
@Diana: interdisziplinär
Vielleicht kann ich es anders formulieren: Es ist nicht verkehrt, bei der Erforschung psychischer Störungen ins Gehirn zu schauen; es ist aber verkehrt, darum die bereits seit Jahrzehnten wieder und wieder bestätigten Befunde aus den Verhaltens- und Sozialwissenschaften zu ignorieren.
Was wir hier diskutieren (auch @Balanus) entspricht eher dem biopsychosozialen Modell (ein Klassiker: Engel, 1977, Science: The Need for a New Medical Model: A Challenge for Biomedicine). Und dieses ist gerade von der reduktionistisch-biologischen Psychiatrie verdrängt worden (ein schönes Manifest, siehe den Artikel von Thomas Insel, den ich gerade @Balanus zitiert habe; hier scheint es ihn gratis zu geben).
Noch konkret zu zwei Punkten von Ihnen:
Der Gedanke dabei ist, dass auch die Gene allein die Krankheit nicht verursachen. Es müssen weitere Prozesse stattfinden, damit es zum Ausbruch kommt. Das ist doch auch für Prävention und Therapie von besonderem Interesse. Das heißt: Auch bei solchen, genischen Erkrankungen, gibt es Umwelteffekte; man muss Genom, Zelle, Organ, Körper und Umwelt zusammen untersuchen.
Das ist ein guter Einwand und ein besseres Beispiel wäre hier die Epilepsie, die durch die Entdeckung der EEG-Muster tatsächlich von der Psychiatrie in die Neurologie “abgewandert” ist.
Dazu aber: Erstens sind diese Beispiele die extremen Ausnahmen; würde man dies, zweitens, dennoch verallgemeinern, begibt man sich nicht nur auf spekulativem Feld, sondern stellt man die Existenzberechtigung der Psychiatrie überhaupt infrage (dazu schrieb ich vor Jahren schon einmal einen Artikel “The risk that neurogenetic approaches may inflate the psychiatric concept of disease and how to cope with it”, 2009, Poiesis Praxis 6:79-91).
Dann ist es dennoch ein Rätsel, warum man Millionen von Menschen, die von psychischen Störungen betroffen sind, vorzugsweise im Gehirn behandelt, wo doch noch gar nicht klar ist, um was für eine Gehirnstörung es sich handeln soll. Natürlich schwingen hier politische Erwägungen mit (Effizienz, Kosten, Verfügbarkeit…).
Die größere Frage, was denn nun psychische Störungen überhaupt sind, hebe ich mir lieber für mein nächstes Buch auf. Ich würde mich freuen, wenn Sie dann wieder in die Diskussion einsteigen.
Und falls Sie einmal einen Gastbeitrag schreiben wollen, nur zu! Dann wären Sie in der Gesellschaft von u.a. einem MPI-Direktor und einem Biologieprofessor.
@Stephan Schleim: Masse Mensch und Arbeitnehmerpositionen
“…die bald rund 7,5 Milliarden Menschen sind ja nicht gleichmäßig über die Erde verteilt …”
… nehmen aber früher oder später an der globalen Völkerwanderung teil.
“…dann wird die gesunkene Geburtenrate im Zusammenhang mit den älter werdenden Menschen..”
“…dazu führen, dass vermehrt Arbeitnehmer von außerhalb die Lücken schließen. Dass die Adhoc-Maßnahme vom Herbst letzten Jahres so nicht wiederholt werden wird, heißt nicht, dass solche Maßnahmen nicht weiterhin, nur eben subtiler, ergriffen werden, um diese Lücken zu schließen.
“…schon die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer stärken…
…wenn 1) diese sich wieder stärker als Gruppe identifizieren …”
… das hat auch schon vorher nicht zum Erfolg geführt. Und in einer Gesellschaft, die auf Individualität (und nicht auf das Kollektiv )setzt, auf Gleichheit, Freiheit und Rechte des einzelnen Menschen, ist die Identifikation mit einer Gruppe gerade nicht erwünscht, da sie dazu (ver-)führt, Angehörige anderer Gruppen ab- und die eigene Gruppe aufzuwerten.
“und 2) die Künstliche Intelligenz uns nicht vorher alle überflüssig macht.”
Wird sie nicht, jedenfalls nicht alle, 🙂
@Trice: Veränderung
Höre ich da eine große Portion Pessimismus, gar Fatalismus heraus?
Aber es sind doch wahrscheinlich zyklische Bewegungen: Viele Menschen arbeiten hart an sich selbst, ihrem Lebenslauf usw. usf. Irgendwann merken sie, dass jeder nicht seines eigenen Glückes Schmied ist, sondern auch die Gemeinschaft sehr wichtig ist. Und dann merken sie, dass sie gemeinsam Ziele erreichen können. Man braucht sich ja momentan nur einmal die feministische Lobby anzuschauen.
Die psychischen Störungen (und damit die Verantwortung) im Individuum zu verorten, stabilisiert dieses System. Daher ist mir die Aufklärung darüber ja so wichtig, siehe z.B. diesen Blogbeitrag.
Und was die Dortmunder Pressemitteilung angeht, da will man eben der Frage nachgehen, „warum Stress krank macht“, mit dem Fernziel, irgendwann einmal eine bessere Therapie für stressbedingte Erkrankungen anbieten zu können.
Klar kann man sagen, die beste Therapie gegen Stresserkrankungen ist die Vermeidung von Stress. Dem würde wohl auch Silvia Capellino nicht widersprechen wollen. Aber erstens ist die Frage, wie der Körper physiologisch auf Stress reagiert, wissenschaftlich spannend, und zweitens gehört es gewissermaßen „zum guten Ton“, bessere Medikamente und Therapien in Aussicht zu stellen. Der Normalbürger will halt sein Steuergeld gut angelegt wissen, reine Forschung nur um des bloßen Wissens willen kommt in der breiten Öffentlichkeit nicht so gut an.
Du schreibst, dass dieser ganze Neuro-Sprech suggeriert, dass nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung im Individuum zu verorten ist.
Das ist doch so falsch nicht: Wenn in einem Büro 10 von 11 Leuten keinen Stress empfinden und nur einer bei gleicher Arbeit über Stresssymptome klagt, dann liegt es doch nahe, die Ursache hierfür zunächst einmal Individuum zu suchen (Mobbing und dergleichen sei ausgeschlossen).
Jedes Individuum erlebt die Situation am Arbeitsplatz anders, eben aus seiner eigenen Perspektive. Das ist im Sozialismus oder Kommunismus nicht anders als im Neoliberalismus (was ist eigentlich die gegenteilige Ideologie?).
@Stephan Schleim / Grundlagen und Ursachen
(das hier ist der erste Teil meines Postings, der oben fehlt … )
Ich habe in meinem Kommentar versucht, diese beiden Begriffe zu trennen, sie also nicht synonym zu gebrauchen.
Der Ursachen-Begriff hat ja eine gewisse Nähe zum Begriff ‚Verursachung‘, und da wird es m. E. eben schwierig.
Nehmen wir z. B. das von @Diana erwähnte Lesch-Nyhan-Syndrom, das auf einer bestimmten Genmutation beruht. Vielleicht kann man auch sagen, dass es von diesem veränderten Gen „verursacht“ wird, aber da bin ich eben im Zweifel. Mir scheint, dass hier die Kausalkette (zwischen Gen und Syndrom) zu lang bzw. der Kausalnexus nicht eng genug ist, um von einer Verursachung sprechen zu können.
Und was die Dortmunder Pressemitteilung angeht, … [siehe oben]
@Stephan Schleim: richtige Entscheidungen
“Höre ich da eine große Portion Pessimismus, gar Fatalismus heraus?”
Wder, noch, :-). Das sollte erst einmal so etwas wie eine Bestandsaufnahme sein, inklusive der Lösungsversuche, die in früheren, ähnlichen Situationen bereits nicht zum Erfolg geführt haben.
Es sind zyklische Bewegungen und die Menschen haben auch immer gemeinsam nach Lösungen gesucht, aber nicht immer die richtigen gefunden. Sie müssen nicht einmal wissen, dass die Gemeinschaft mit anderen stark macht, denn sich Verbündete zu suchen, wenn man etwas erreichen möchte, liegt in der menschlichen Natur.
Die Schwierigkeiten, etwas zu verändern, liegen u.a.
a) in der Zielvorstellung
b) in der Art der Zielsetzung
c) in der Ausblendung der Widerstände, mit denen man es zu tun bekommt
d) in den Gründen, die zur (unangenehmen, unhaltbaren usw.) Situation geführt haben
Wenn es also darum geht, nicht generell die Verantwortung für psychische Störungen im Individuum zu verorten, dann sind das die Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen muss.
“Die psychischen Störungen (und damit die Verantwortung) im Individuum zu verorten, stabilisiert dieses System. Daher ist mir die Aufklärung darüber ja so wichtig, siehe z.B. diesen Blogbeitrag.”
Mir auch – und deshalb ist mir wichtig, dass zur Aufklärung hinzukommt, wie man sich unter den gegebenen Voraussetzungen die Lösung vorstellt und ob und wie sie erreicht werden kann.
“Man braucht sich ja momentan nur einmal die feministische Lobby anzuschauen.”
Das ist insofern kein passendes Beispiel, weil psychische Störungen nicht zu vergleichen sind mit der Forderung nach Gleichberechtigung. Die Positionen, aus denen heraus “gekämpft” wird, sind ganz andere. Und Feministinnen haben insofern ein “positives” Ziel , als sie sagen können: ich will das! erreichen. Dagegen haben die Menschen, die dagegen angehen wollen, dass man ihnen die Verantwortung für etwas aufbürdet, das sie leiden macht, was sie nicht ändern können und sie zusätzlich auch noch dafür verantwortlich sein sollen, dass sie leiden, ein “negatives” Ziel: sie wollen etwas nicht!
Die Zielvorstellungen und Art der Zielsetzung sind also ganz andere. Und ein positives Ziel ist wesentlich leichter zu erreichen, als ein negatives – und trotzdem hat es Jahrzehnte gedauert, bis auch den Frauen die gleichen Rechte zuerkannt wurden, wie sie die Männer haben. Wobei alles, was man an Positivem erreicht, auch eine negative Seite hat (mit der man meist nicht gerechnet hat).
@Balanus: Ursachen, Verursachung, Grundlagen…
Man kann es ganz sauber machen und dann interessiert es kaum einen (etwa: Uwe Meixner, Theorien der Kausalität); oder man arbeitet schlampig mit einem eher pragmatisch-instrumentellen Kausalitätsbegriff, in dem fast alles Ursache ist, wenn es ein Ereignis nur irgendwie wahrscheinlicher macht.
Zur konkreten Frage hier ist nach wie vor der zeitlose Aufsatz Kendlers (2005, American Journal of Psychiatry, “‘A Gene for…’: The Nature of Gene Action in Psychiatric Disorders”) relevant, in dem er erklärt, warum es keine Gene für eine psychische Störung gibt, u.a. auch mit dem Argument, das du jetzt anführst, dass nämlich zwischen Genen und Symptomen eine zu lange Kette von Ursachen und Wirkungen ist.
@Balanus: noch zum Stress und zur Individualisierung
Und dann sind wir gerade bei der Wahlkampfrhetorik angekommen, die ich in diesem Beitrag kritisiere.
Das ist das typische Denkmuster, ja.
Dennoch:
Erstens hat diese Person wahrscheinlich auch lange Zeit gut funktioniert und jetzt nicht mehr. Dafür sind viele Möglichkeiten denkbar. Von vorne herein nur Möglichkeiten im Individuum zu betrachten, das ist schlicht voreingenommen.
Beispiel:
Wenn eine Person auf einem öffentlichen Platz eine Bleikugel durch den Kopf bekommt, wird man wohl kaum sagen, die Person hätte da halt nicht stehen sollen; geschieht dies aber auf einem Schießplatz im gesperrten Sicherheitsbereich, dann mag man darüber anders denken. Das zeigt doch sehr schön, wei normativ unser Umgang mit Verantwortlichkeit ist.
Zweitens ist es ja nicht nur diese eine Person. Während uns Epidemiologen weismachen wollen, die Anzahl der Störungen steige nicht (kurz oben im Text angesprochen), suchen faktisch aber immer mehr und mehr Menschen psychologische Hilfe. Exponentiell steigen auch die Verschreibungszahlen. Warum bloß? (Achtung: rhetorische Frage!)
Es ist jedenfalls kein rein individuelles Problem; oft geht es, mehr oder weniger sichtbar, um die Anpassung an “die Globalisierung”.
@Trice: Ziele
Irgendwie typisch Deutsch, so viel über Schwierigkeite nachzudenken… 😉
Ein Zwischenziel ist ja erst einmal der Blick aufs biopsychosoziale Modell. Was danach kommen muss, das weiß ich auch noch nicht. Das wäre aber schon einmal ein großer Schritt in der Mainstreamwissenschaft.
P.S. Den historischen Feminismus in allen Ehren, was zurzeit unter diesem Begriff verhandelt wird, hat damit doch wenig zu tun (selbst manche Feministinnen sprechen ja vom Postfeminismus). Ich schrieb dazu schon einmal unter dem Titel “Karrierefeminismus” auf Telepolis.
@Stephan Schleim / Verantwortung
»Erstens hat diese Person wahrscheinlich auch lange Zeit gut funktioniert und jetzt nicht mehr. Dafür sind viele Möglichkeiten denkbar.«
Keine Frage. Aber was auch immer der Auslöser für die Veränderung gewesen sein mag, es ist und bleibt das Individuum, das nun nicht mehr „gut funktioniert“. Es wäre jedoch falsch zu meinen, dass die betroffene Person selbst „verantwortlich“ für ihre „Dysfunktion“ wäre. Verantwortlich kann man nur für willentliche Handlungen sein, nicht für erlittene Traumen (oder was auch immer) und den dadurch evozierten Störungen.
Dass die Bewertung einer Handlung vom jeweiligen Kontext abhängt, wie in Deinem Beispiel dargestellt, stimmt zwar, aber das hat mit der individuellen Verfasstheit (Leistungsfähigkeit, Stressanfälligkeit) eines Menschen rein gar nichts zu tun.
» …suchen faktisch aber immer mehr und mehr Menschen psychologische Hilfe.«
Das dürfte an der verbreiteten Wettbewerbs-Mentalität vieler Menschen liegen. Höher, schneller, weiter, besser, das ist es, was zählt, was Anerkennung bringt, auch in monetärer Hinsicht. Und zwar gerade auch dann, wenn es um mentale Leistungen geht. Körperliche Schwäche wird allgemein eher akzeptiert als geistige Schwäche (vulgo: Dummheit).
Biopsychosoziales Modell der Krankheit
Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstanden habe, was dieses Modell besagt.
Wenn es bedeuten soll, dass das, was als Krankheit gilt, durch biologische, psychologische und soziologische Faktoren beeinflusst und bestimmt wird, dann wäre aus meiner Sicht nichts dagegen einzuwenden. Das erscheint ja fast trivial.
Wenn es allerdings bedeuten soll, dass der individuelle Krankheitsprozess durch biologische, psychologische (oder psychische) und soziologische (oder soziale) Faktoren beeinflusst und bestimmt wird, dann wäre zu fragen, was genau mit psychisch und sozial im Zusammenhang mit Krankheit gemeint ist.
Denn daran, dass jede Krankheit biologisch basiert ist, führt kein Weg vorbei. Ohne bestimmte Abweichungen in den Abläufen im biologischen Substrat oder in der Organisation kann es keine Krankheiten geben. Das ist sozusagen das „bio-medizinische Dogma“, von dem Engel (1977) in seinem Science-Aufsatz spricht (Danke für den Hinweis, Stephan!). Diese Abweichungen können zwar durch Einwirkungen von außen verursacht werden, z. B. durch eine Gewehrkugel, aber dieses Faktum macht eine Schussverletzung keineswegs zu einer psychosozialen Erkrankung.
Wenn aber bestimmte Arbeitsbedingungen einen Menschen krank machen, dann ist die Sache komplizierter. Dann liegt es an der mangelnden Angepasstheit des Individuums an die gegebenen Umweltbedingungen, die krank macht. Da hilft nur, sich eine andere Umgebung zu suchen, in der man besser existieren kann. Oder man versucht, die Umwelt den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Letzteres dürfte aber sehr viel schwieriger sein, zumal, wenn andere Personen davon betroffen sind
@Stephan Schleim: psychsiche Störungen / Lösungen
“Irgendwie typisch Deutsch, so viel über Schwierigkeite nachzudenken..”
Stimmt, deshalb denke ich lieber über Lösungen nach – was allerdings impliziert, dass man sich mit den Schwierigkeiten befasst, die die Lösungen konterkarieren (können) und den Schwierigkeiten, die zum Problem geführt haben.
Und ja, den Blick auf das biopsychosoziale Modell kenne ich aus Fortbildungen, Seminaren, insbesondere wenn es um ADHS ging, und die zirkulären Verursachungszusammenhänge visualisiert, diskutiert, beleuchtet usw. wurden – womit wir wieder beim Thema wären: wie optimiert man denn nun – zum Wohle der Betroffenen – am besten: therapeutisch oder multimodal?
Wenn man an diesem Punkt angekommen ist, hat man den Zeitpunkt verpasst, an dem man vielleicht noch hätte ansetzen und fragen können: Sehen wir noch den Menschen, dem wir helfen wollen, oder ist er zum Problemfall geworden, der eine Lösung erfordert? Sehe ich ihn als jemanden, der in und mit seinem Leben bisher mehr oder minder gut zurecht kam, oder als jemanden, der bisher gut funktioniert hat.
Das ist nicht dasselbe. Momentan liegt mir bei dieser Diskussion der Fokus zu sehr auf den Menschen, die nicht “funktionieren” und den Fragen, inwieweit sie verantwortlich für ihre psychsichen Störungen sind und wie man ihnen am besten hilft, wieder “marktkonform” zu werden. Und er liegt mir zu wenig auf den Absichten und Zielen derjenigen, die helfen wollen.
(Nur nebenher: Die Frage, wann und unter welchen Umständen wir, die Helfer, bereit wären, Hilfsangebote anzunehmen oder abzulehnen, hat zu der erkenntnis geführt, dass ADHS weder eine Krankheit noch eine psychische Störung ist – trotz SPECT, MRT und EEG)
Und mit ein Grund, weshalb immer mehr Menschen psychologische Hilfe suchen ist, dass sie sich dem Druck unserer Leistungs- und Erwartungsgesellschaft nicht mehr gewachsen sehen und mit jemandem reden wollen, der ihnen (empathisch) zuhört.
Was den Feminismus betrifft, meine ich den klassischen, nicht die Butler’sche Fassung einer Geburt der Anatomie aus dem Geiste der Diskurstheorie. “Karrierefeminismus” gefällt mir aber auch, 🙂
@Balanus: aufs Individuum
Aus (1) spricht meines Erachtens Voreingenommenheit. Wer definiert denn Maßstäbe fürs gute Funktionieren? Darf das nur der Arbeitgeber?
Gegenbeispiele:
(A) Wenn du einen Benziner mit Diesel betankst, dann wird der Motor (oder was auch immer) kaputt gehen. Wenn du jetzt nur auf den Motor schaust, dann kannst du freilich sagen: Dysfunktion im Motor. Damit lenkst du aber davon ab, dass das Auto nicht bestimmungsgerecht verwendet wurde. Du dämpfst das über die Frage der Verantwortung (also unter (2)) ab. Wenn man aber aufs ganze Auto schaut, also holistisch denkt, dann kann man auch von einer Störung der Verwendung des Benziners sprechen.
Nehmen wir an, du reparierst den Motor. Wenn du aber die “Verwendungsstörung” nicht behebst, wird er gleich nach dem nächsten Tanken mit Diesel wieder kaputt gehen. Wieder eine Dysfunktion des Motors? Wieder eine Reparatur des Motors? Und so weiter ad infinitum? Dein Modell funktioniert nicht.
(B) Bei der Umsetzung des Dopingprogramms in der BRD gingen Trainer so vor, dass Athleten, die nicht dopen wollten, neben psychischem Druck, der auf sie aufgebaut wurde, auch verschärfte Trainingsprogramme bekamen, die teilweise zum Ziel hatten, einen Zusammenbruch herbeizuführen, damit die Athleten dann in dieser geschwächten Position in die Einnahme von Dopingmitteln einwilligten. Und wenn man diesen Schritt einmal getan hatte…
Ist der Zusammenbruch wieder eine “Dysfunktion” des Athleten? Der hat nach einem optimalen Training aber doch hervorragend funktioniert. Das lässt du unter den Tisch fallen.
Oder, wie ich hier schon einmal vor Jahren schrieb: Verhalten = Organismus x Umwelt.
Und nebenbei macht das deutlich, dass nicht nur das Reden über Verantwortung, also (2), sondern auch über Dysfunktionen, also (1) normativ konstruiert ist.
Das stützt erstens meinen Standpunkt, nicht deinen; zweitens ist das jetzt sehr bürgerlich gedacht. Viele Menschen in dieser Gesellschaft müssen inzwischen die ganze Zeit schuften, um gerade so über die Runden zu kommen.
Aus Japan wurden übrigens gerade neue Zahlen über Karoshi, Tod durch Überarbeitung, und damit zusammenhängende Selbstmorde veröffentlicht.
@Balanus: BPSM (nein, nicht BDSM)
Ganz kurz noch:
Tja, sag das mal den tausenden Forschern in der Psychiatrie, die am biopsychosozialen Modell vorbei forschen…
Das ist wieder so eine wunderbar unpräzise Formulierung, die hier seit Jahren die Kommentarzähler in die Höhe treibt… Dass in dieser Welt alles mit materiellen und/oder energetischen Prozessen einhergeht, das ist geschenkt.
Warum sollte diese Ebene aber die realste, bestimmendste usw. usf. sein?! Nein, das ist nicht einleuchtend.
Und, zurück zum Text, von den hunderten psychischen Störungen wurde doch noch für keine einzige die biologische Basis gefunden.
Das können wir jetzt hier nicht ausdiskutieren. Ich verweise auf mein nächstes Buch, das ich schreiben könnte, würde ich hier nicht so viel diskutieren. 😉
Womit wir wieder beim Zitat Holzkamps wären, mit dem mein Artikel endet.
In einem demokratischen Rechtsstaat und nach der Aufklärung, die die Autonomie der Menschen in den Vordergrund stellte, sollte man aber doch davon ausgehen, dass die Gruppen der Betroffenen zumindest darüber mitbestimmen, wie ihre Umgebung eingerichtet ist.
@Trice: dieses und jenes
Ich kann Ihnen wieder nur zu 99% zustimmen. An einem Punkt muss ich aber nachhaken:
Das hört sich sehr interessant an, verstehe ich aber nicht. Was ist die kausale Beziehung zwischen (1) und (2)?
Wessen Erkenntnis ist (2)? Wer teilt sie? Warum wird dann ADHS immer noch so oft diagnostiziert?
Ich hoffe im Übrigen, dass Sie vielleicht für Anregungen zur Verfügung stehen, wenn ich endlich dazu komme, mein nächstes Buch zu schreiben.
P.S. Zum Feminismus, der ja nur ein Nebenschauplatz ist: Die Karrierefeministinnen kamen meiner Meinung nach nach Butler. Butler hat sich ja vor allem über die Sprache dem Phänomen genähert.
Ihre Analyse der Gender Performances ist doch auch psychologisch interessant: Wieso soll es nicht plausibel sein, dass Geschlechtsrollen durch Inzidenzen von Verhalten geprägt werden – und zwar die ganze Zeit?! Das verdient aber alles ein paar eigene Beiträge.
Der Tanz um den heißen Brei, nämlich / systemrational ausgedrückt: Der “Tanz um das goldene Kalb”, ist hier wirklich-wahrhaftig mal wieder SYMPTOMATISCH / geradezu fachidiotisch, im Sinne des geistigen Stillstandes seit der “Vertreibung aus dem Paradies” und der stumpf-, blöd-, wahn- und schwachsinnigen Bildung zu Suppenkaspermentalität auf Schuld- und Sündenbocksuche 🙂
Wenn Mensch sich endlich entschließen könnte seine Vernunftbegabung nicht mehr in Hierarchie, Intellekt und egozentriertem / “individualbewußtem” Materialismus zu verdingsbumsen, sondern in fusionierenden Möglichkeiten zu geistig-heilendem Selbst- und Massenbewußtsein OHNE …, wie es RICHTIGGESTELLT schon Jesus vergleichsWEISE sozialistisch zu Bedenken gegeben hat, dann …, und wir würden mit dem höchstwahrscheinlich kommenden nächsten GEISTIGEN Evolutionssprung sicher einfacher / mit weniger zu erwartender Probleme zurechtkommen 😉
@Stephan Schleim: dieses und jenes
“Was ist die kausale Beziehung zwischen (1) [Frage] und (2) [Erkenntnis]?”
Entschuldigung, ich meinte, es irgendwo schon erwähnt zu haben. Die Frage war der Einstieg in das Thema einer Fortbildung in der Familienhilfe. Am nächsten Tag wurde uns (den Teilnehmerinnen) zu Beginn eine Abbildung (Kanizsa-Dreieck) mit der Frage präsentiert, was wir spontan auf den ersten Blick sehen, und was auf den zweiten. Meine Kolleginnen antworteten alle auf die Frage; ich hatte in dieser Aktion einen Zusammenhang mit dem Thema gesehen und angenommen, dass es bei dieser Frage um das Thema des Vortages ging – und auf diesen Zweck hin geantwortet. Daraufhin habe ich den Eltern meiner Selbsthilfegruppe und den Teilnehmern meines Arbeitskreises die Abbildung samt Frage vorgelegt, und als Ergebnis erhalten, dass alle nicht betroffenen Elternteile bzw. Teilnehmer nur auf die Frage geantwortet hatten und alle von ADHS Betroffenen ausnahmslos wie ich entweder auf den vermuteten Zweck geantwortet oder nach ihm gefragt hatten.
Einen Zweck mitzudenken ist keine Störung und keine Krankheit – aber auch noch keine Erkenntnis.
Vor mir war aber schon eine Mathematikdidaktikerin zur selben Entdeckung gekommen und hatte sie zu einer tragfähigen Theorie entwickelt. In einem gemeinsamen Projekt haben wir untersucht, ob wir von derselben Sache reden, und das Ergebnis bestätigte unsere Annahme, dass es zwei eigenständige, in sich homogene Arten menschlichen Denkens geben müsse – die beide normal sind.
“Wessen Erkenntnis ist (2)? Wer teilt sie? ”
Zu 2: Meine und die von Frau Schwank (die Mathematikdidaktikerin: http://www.mathedidaktik.uni-koeln.de/11354.html?&L=0)
Frau Schwank teilt sie, außerdem Dr. Tim Tisdale, Uni Bamberg. Und es kennen sie Prof. Dietrich Dörner, Prof. Rainer Mausfeld, Prof. Joachim Hoffmann – und sehr viele andere, aber …
“Warum wird dann ADHS immer noch so oft diagnostiziert?”
Weil es zu viele Hindernisse gibt.
Das größte ist: Wir (Schwank und ich) können zeigen, *dass* es zwei Arten gibt und worin und wie sie sich unterscheiden. Was wir derzeit nicht können, ist: zeigen, was zwei eigenständige Arten konstituiert. Denn wenn es weder Krankheit noch Störung sein soll, was genau ist es dann? Die einfachste Lösung wäre: zwei verschiedene Denkstile. Das schließen sowohl Frau Schwank als auch ich kategorisch aus. Denn Denkstile kann man wechseln – wovon wir ausgehen, das kann man nicht wechseln, denn es hat mit der menschlichen Informationsverarbeitung zu tun.
Da Sie am Memorandum “Reflexive Neurowissenschaften” beteiligt waren, kennen Sie das Dilemma, in dem die Hirnforscher stecken: sie verfügen über keine differenzierte und übergreifende Gehirntheorie. Eben die, bzw. den theoretischen Rahmen für eine solche Theorie brauchen wir für eine Erklärung (deshalb arbeite ich am theoretischen Rahmen)
Ein weiteres Hindernis:
ADHS ist fest in der Hand der Psychiatrie, klinischen Psychologie, usw. Auch wenn Psychologen andere Teilgebiete Menschen mit ADHS untersuchen, geschieht das grundsätzlich unter der Annahme, die Personen litten an ADHS. Stellen Sie sich vor, man würde all denen, die sich in der ADHS-Forschung einen Namen gemacht haben, erklären, sie hätten sich geirrt – wie würden die reagieren? Ich habe damals, als meine Idee noch eine Vermutung war, mit Frau Dr. Krause darüber gesprochen – sie gehört zum Team, das vor einigen Jahren Untersuchungen zur Reduktion der Dopamintransporter unter MPH durchgeführt hat und international einen entsprechenden Ruf erworben hat : ihre erste Reaktion war, dann könne ihre Arbeit immer noch als nachweis dienen; ihre zweite war: gottseidank, dass Sie darauf gekommen sind und kein Großkopferter.
Und ein drittes Hindernis – womit wir fast wieder beim Thema des Beitrags sind: Seit 2002 gilt ADHS in Deutschland offiziell als Krankheit was heißt: die Krankenkassen müssen die Kosten für die Medikamente übernehmen. Eltern, deren Kinder dank Ritalin, Medikinet etc. (MPH) keine Schulprobleme mehr haben und medikamentös behandelte Erwachsene müssten, wenn sich herausstellt, es ist keine Krankheit, die Kosten selbst tragen. Denn in diesem Fall werden die Kassen nicht mehr zahlen müssen, aber eine Änderung des Schulsystems und eine Änderung unseres Menschenbildes wird es noch eine lange Zeit danach nicht geben – zum Nachteil der Kinder und Erwachsenen.
“Ich hoffe im Übrigen, dass Sie vielleicht für Anregungen zur Verfügung stehen, wenn ich endlich dazu komme, mein nächstes Buch zu schreiben.”
Ja natürlich, gern.
Und zum Nebenschauplatz: eben weil Butler sich dem Phänomen über die Sprache nähert, habe ich von “aus dem Geiste der Diskurstheorie” gesprochen, ;-). Karrierefeminismus ist eine weitere Spielart dieser Bewegung, und einige entwickeln sich parallel – übrigens wird Schwanks Theorie auch von einigen Feministinnen vereinnahmt – , aber wie Sie sagen: das wäre ein Thema für eigene Beiträge.
@Trice: Dingen einen Namen geben
Spätestens seit Carl von Linné (1707-1778; an meiner Universität haben sie übrigens vor wenigen Jahren das Biologiegebäude nach ihm benannt; Dawkins kam zur Eröffnung) fetischisieren so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Benennung der Dinge. Nietzsche formulierte so schön in der Fröhlichen Wissenschaft, dass die Namen irgendwann wichtiger zu werden scheinen als die Dinge, die sie beschreiben.
Ich weiß natürlich, in was für einer Gesellschaft wir leben, aber frage doch einmal als Philosoph: Warum alles benennen müssen? Warum nicht einfach erleben? Und warum nicht zum Beispiel die Kinder in Ruhe lassen? (Letzteres in Anlehnung an den berühmten Song von Pink Floyd: Another Brick in the Wall.)
Davon abgesehen sind natürlich sowohl Störung als auch Krankheit tiefgreifend normative Begriffe.
@Stephan / Selbstverantwortung
»Wer definiert denn Maßstäbe fürs gute Funktionieren? Darf das nur der Arbeitgeber?«
Wie wär’s mit der Stellenbeschreibung und dem Arbeitsvertrag, den beide, Arbeitgeber und -nehmer, unterzeichnen?
Wenn ich einen Benziner mit Diesel betanke, dann verhalte ich mich wie ein Arbeitgeber, der einen Buchhalter als Servicetechniker einsetzt. Das hat mit der „Dysfunktion“, von der die Rede war, nichts zu tun. Es geht darum, dass der Buchhalter an seinem angestammten Arbeitsplatz plötzlich nicht mehr die versprochene und erwartete Leistung bringt, weil er z. B. gerade eine Scheidung durchlebt oder irgendein anderes Trauma verarbeiten muss.
Es sind also durchaus Dinge, die außerhalb der Einflusssphäre des Buchhalters liegen, die seine „Dysfunktion“ und sein Leiden „verursachen“. Und dennoch liegt es letztlich an ihm selbst, also an seiner Konstitution, auf die er keinen willentlichen Einfluss hat, wie er auf erlittene Erfahrungen reagieren und sie verarbeiten kann. Denn der Buchhalter im Büro nebenan hat praktisch das Gleiche durchgemacht und „funktioniert“ (aus Sicht des Arbeitgebers) dennoch großartig.
Das eben Gesagte gilt auch für die Athletin, die dopt, um hoch gesteckte Ziele zu erreichen. Ich finde, es liegt schon in der Verantwortung der Athleten, ob sie zu Dopingmitteln greifen oder nicht. Der eine beugt sich dem psychischen Druck, die andere nicht. Und wieder ist es die jeweilige Konstitution, die psychische Verfasstheit, für die man nichts kann, die darüber entscheidet, wie sich ein Mensch in einer gegebenen Situation verhält.
Oder, wie ich schon vor Jahren schrieb, der Organismus entscheidet darüber, wie er sich verhält, um den spezifischen Umweltanforderungen gerecht zu werden.
@Stephan Schleim: Warum alles benennen müssen?
“…aber frage doch einmal als Philosoph: Warum alles benennen müssen?”
Das fragte sich wohl auch Rainer Maria Rilke, als er das Gedicht schrieb:
“Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort”,
http://rainer-maria-rilke.de/020088fuerchtemichso.html
…und da ich meist nicht in Sprache denke, geht es mir häufig genauso.
Andererseits weiß ich von vielen Eltern, von Menschen mit ADHS, welche Erleichterung es für sie bedeutet, ihrem “Rumpelstilzchen” – dem Verhalten – einen Namen geben zu können. Es benennen zu können, nimmt ihnen die Angst, und Angst macht eben auch das Un(be)nennbare.
“Warum nicht einfach erleben?”
Weil wir in eben dieser Gesellschaft leben und …
“Und warum nicht zum Beispiel die Kinder in Ruhe lassen?”
… weil jede Gesellschaft (und jedes System) sich Regeln für ein gedeihliches Miteinander gibt, und weil wir, diese Kinder und Erwachsenen, Störenfriede sind, die sich nicht an die Normen und die Regeln der Gesellschaft halten, sondern die mit ihrem Verhalten die Anderen infrage stellen. Aber weil wir trotzdem in dieser Gesellschaft überleben wollen und müssen, die uns nicht so will und so akzeptiert, wie wir sind, werden wir bzw. unsere Kinder nicht in Ruhe gelassen.
Eltern, Lehrer, Kollegen, Menschen in unserer Umgebung empfinden, wenn sie sich permanent infrage gestellt sehen, Wut, Hass, aber auch Angst und Verzweiflung. Und sie reagieren entsprechend: Die Kinder werden gedemütigt und misshandelt, es wird ständig mit ihnen geschimpft, sie werden geprügelt und gequält, werden lächerlich gemacht, ausgegrenzt, bloßgestellt. Erwachsene werden schikaniert, gemobbt, nicht für voll genommen, übergangen. Eltern werden verdächtigt, ihre Kinder zu misshandeln, sie zu missbrauchen, sie verwahrlosen zu lassen…
Was glauben Sie, wie oft ich den Spruch von Pastors Kindern und Küsters Vieh zu hören bekommen habe? Oder ob ich schon mal daran gedacht hätte, mir mein Lehrgeld zurückgeben zu lassen? Oder was bei uns daheim wohl für Zustände herrschen müssen …
…was glauben Sie, wie sehr Eltern die Angst, die Sorge und die Verzweiflung um die Zukunft des Kindes umtreibt, Ängste, die bei den Kindern wiederum tiefgreifende Ängste und Verhaltensstörungen auslösen? Kinder, die sich ungeliebt fühlen die sich wünschen, so zu sein wie alle und doch bei aller Anstrengung nicht anders sein können als sie sind? Die deshalb an Angststörungen leiden, zusätzlich verhaltensauffällig werden.
Was ich erreichen will, aber nicht erreichen werde, ist, dass das aufhört. Dass die Menschen begreifen, dass unsere Art zu sein genauso wertvoll, wichtig und richtig ist wie die vermeintlich allein seligmachende normale. Dass es zwei Arten gibt, in der man mit den Dingen in dieser Welt umgehen kann, zwei Arten, diese Welt zu sehen und zu beschreiben – und nicht nur eine!
Und dass Meinesgleichen deshalb nicht mit Methylphenidat optimiert und angepasst werden muss.
Aber es scheitert, wie könnte es auch anders sein, an den Spielregeln der menschlichen Gesellschaft – die Wissenschaften eingeschlossen -, die der Art des Seins der Mehrheit als der vermeintlich apriorisch richtigen und normalen entsprechen.
@Stephan / Korrelation oder Kausation?
»Denn daran, dass jede Krankheit biologisch basiert ist…
… Dass in dieser Welt alles mit materiellen und/oder energetischen Prozessen einhergeht, das ist geschenkt.«
Fein, dann sind wir uns also darin einig, dass alle beobachtbaren Phänomene mit materiellen und/oder energetischen Prozessen einhergehen. ‚Einhergehen‘ in dem Sinne, dass z. B. ein Ton mit dem Streichen einer Saite einhergeht oder mit den Schwingungen einer Lautsprechermembran. Und was schließen wir daraus?
Du fragst, „Warum sollte diese Ebene aber die realste, bestimmendste usw. usf. sein?!“
Nun, ohne diese materiellen und/oder energetischen Prozesse gäbe es keine Phänomene wie Krankheiten, psychische Störungen oder Verhaltensäußerungen, die wir beobachten und bewerten könnten. Diese Prozesse sind im Grund das einzig Objektive bei unseren subjektiven und normativen Bewertungen.
Ob aber diese basalen Prozesse relevant für klinische oder andere Interventionen sind, das ist eine ganz andere Frage.
Im Falle der ADHS sind sie vielleicht irrelevant, auch wenn derzeit, bei entsprechender Indikation, häufig noch auf molekularer Ebene eingegriffen wird (z. B. mit Ritalin). Wenn es aber um die Erklärung dieser Verhaltensform geht, dann dürfte diese basale Ebene die entscheidende Rolle spielen (wenn ich @Trice richtig verstanden habe).
»Und, zurück zum Text, von den hunderten psychischen Störungen wurde doch noch für keine einzige die biologische Basis gefunden.«
Wenn Lernprozesse biologisch basiert sind, und alles weist darauf hin, dass sie es sind, dann sind auch psychische Störungen biologisch basiert. Mehr habe ich nicht behauptet. Dass es diese physische Grundlage gibt, impliziert ja nicht, dass man jede Störung mittels eines operativen Eingriffs oder Medikaments einfach beseitigen könnte. Dazu bräuchte man so etwas wie einen Laplace‘schen Neurodämon, der über ein umfassendes Wissen über die Verknüpfung von Strukturen und Prozessen mit subjektiv erlebten Phänomenen verfügt.
@Balanus: Selbstwiderspruch
Du widersprichst dir selbst: Einerseits kann man nichts dafür, andererseits ist man dafür in der Verantwortung.
Diejenigen, die Druck auf einen ausüben, oder sogar zu perfiden Psychotricks greifen, die nimmst du aus der Verantwortung heraus – warum nur?
Und am Rande: Jeder von uns hat seine Sollbruchstellen. Gerade Leute, die einen so gut kennen, wie ein Trainer, der jahrelang mit einem Zusammenarbeitet, kennen die natürlich am besten.
Das ist doch oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Aus eigener Erfahrungen sind solche Beschreibungen mitunter sehr vage.
Davon abgesehen geht es ja gerade auch um Fälle, bei denen sich im Laufe der Zeit die Anforderungen ändern, oft stillschweigend.
Die Fälle von Karoshi, also Tod durch Überarbeitung in Japan, sind häufig solche, in denen die gleiche oder sogar mehr Arbeit wegen Stellenabbaus auf immer weniger Leute verteilt wird.
Und wieder siehst du aber die Verantwortung nur im Individuum, das dann eben eine “Dysfunktion” hat. Sorry, ich finde deinen Standpunkt sehr voreingenommen, ja gar sozial gefährlich; er hat für mich einen gewissen sozialdarwinistischen Beiklang.
@Balanus @Trice
Gerade ist ein neuer Artikel von mir über sexuelle Gewalt erschienen, früher als gedacht, auf den ich mich jetzt konzentrieren muss. Daher steige ich hier aus.
@Trice noch dieses Zitat Hesses, der eher zu mir spricht als Rilke, aus einem früheren Post (Bloggewitter: Das Ende des Individuums):
P.S. Warum statt eines (begrifflichen) Monismus unbedingt einen Dualismus und keinen Pluralismus?
“Krankheit oder Störung, einfach mal in Ruhe lassen”
– Wir “leben” in einer Welt- und “Werteordnung”, wo es immer zwingender wird, eine in Zeit-/Leistungsdruck gepresste Karriere von Kindesbeinen zu bestimmen, verfolgen, bzw. zu verdingsbumsen. Die Ignoranz, gegenüber derer die aus dem Raster fallen, bzw. erst garnicht in die Nähe dieses auch “sozialen” Netzes kommen, ist schon an Gleichgültigkeit von systemrational-gelassener Ruhe kaum mehr zu …!?
Die URSACHE aller Probleme unseres “Zusammenlebens” im “gesunden” Konkurrenzdenken, liegt im nun “freiheitlichen” WETTBEWERB um KOMMUNIKATIONSMÜLL.
@Stephan / Denn sie wissen, was sie tun…
»Du widersprichst dir selbst: Einerseits kann man nichts dafür, andererseits ist man dafür in der Verantwortung.«
Man ist nicht verantwortlich für seine Persönlichkeit, seinen Charakter und seine physische/psychische Konstitution (auch wenn daran arbeiten kann), wohl aber für seine Handlungen—sofern man weiß, was man tut und was für Konsequenzen das haben kann.
Der Athlet ist verantwortlich für das, was er schluckt, und der Trainer ist verantwortlich dafür, dass er seinen Athleten so unter Druck setzt, dass dieser keinen anderen Ausweg mehr sieht, als zu unerlaubten Mitteln zu greifen. Und der Trainer kann sich auch nicht mit dem Argument der Verantwortung entziehen, dass er selbst Versagensängste hat oder um seine Stelle fürchtet.
»Und wieder siehst du aber die Verantwortung nur im Individuum, das dann eben eine „Dysfunktion“ hat.«
Nein, die sich ändernden Arbeitsbedingungen hat der Arbeitnehmer nicht zu verantworten, ich dachte, das wäre deutlich geworden. Ich kann einen ausgewachsenen Retriever nicht in einen Fuchsbau schicken. Für die Fuchsjagd ist der Retriever „dysfunktional“.
Aber an wem oder was sollte es denn sonst liegen, wenn der Arbeitnehmer den neuen (höheren?) Anforderungen gewachsen ist oder eben nicht?
Wer eine tolle Leistung vollbringt, der klopft sich schon mal gerne stolz auf die Brust, aber wer bei irgendetwas „versagt“, der schiebt dann gerne die „Schuld“ dafür anderen zu.
Dass Du „einen gewissen sozialdarwinistischen Beiklang“ bei meinen Ausführungen vernimmst, dafür kann ich nichts, dafür bin ich nicht verantwortlich. Ich habe auch nichts geschrieben, was sozialdarwinistisches Denken nahelegen würde. Ich bin sehr dafür, von den Menschen nur das an Leistung zu verlangen, was sie dank ihrer Konstitution auch zu leisten im Stande sind. Denn für mich steht das Individuum, der Mensch im Mittelpunkt.
Danke für die Diskussion, bis auf ein andermal!
“Gerade ist ein neuer Artikel von mir über sexuelle Gewalt erschienen”
Der Link zum Artikel fehlte noch im Kommentar (nur der Text war hervorgehoben): http://www.heise.de/tp/artikel/49/49666/1.html
Viel Spaß mit den Diskutanten dort.
@Stephan Schleim: Geschlechter
“P.S. Warum statt eines (begrifflichen) Monismus unbedingt einen Dualismus und keinen Pluralismus?”
Aus dem gleichen Grund, weshalb ich auch keine Feministin bin (obwohl die ja noch etwas anderes wollen). Ich halte nichts von einer Nivellierung der Unterschiede der Geschlechter, weder beim physischen noch beim psychisch-geistigen.
Und Hermann Hesse ist ebenfalls Meinesgleichen, 🙂
http://www.fr-online.de/wissenschaft/adhs-bei-erwachsenen-das-zappeln-geht-vorueber—,1472788,8497144.html
Im besagten Artikel geht es insbesondere um sexuelle Gewalt gegen Männer. Wer (als Mann) bislang nur fürchtete, im entscheidenden Moment eine erektile Dysfunktion zu erleiden, wird nun eines Besseren belehrt: er muss auch fürchten, irgendwann gewaltsam zu einer Penetration gezwungen zu werden.
@Trice // „Leon hat ADHS, Lea nicht“
Ja, vielleicht hätte man heute bei Hermann Hesse ADHS diagnostiziert. Und vielleicht wäre das eine der vielen Fehldiagnosen gewesen, von denen in einer Pressemitteilung der RUB berichtet wurde.
@Balanus: ADHS gibt es nicht
Wahrscheinlich, wenn man den Unterschied zwischen der prädikativen und der funktionalen Art kennen würde, gäbe es diese Fehldiagnosen nicht. Denn die Kriterien, anhand derer ADHS diagnostiziert wird, sind zu vage, um nicht zu sagen beliebig. Was nicht verwunderlich ist, weil sie am Verhalten festgemacht werden und nicht am Denken, und weil sie dazu an der Norm orientiert sind.
Da aber niemand die Begriffe prädikativ und funktional kennt (von Ausnahmen abgesehen), den Begriff ADHS aber sehr wohl, bleibt es halt einstweilen bei ADHS. Und da Schwank und ich davon ausgehen, dass der Anteil der funktional “denkenden” Menschen sehr viel höher ist als der, die als von ADHS betroffen diagnostiziert werden (ca 8%), kann es schon vorkommen, dass die Diagnose etwas höher ausfällt.
Ich hatte in meinen Untersuchungen ein Kind dabei, das eigentlich zur Kontrollgruppe gehören sollte, aber sich dann verhielt wie ein ADHS-Kind. Dagegen hatte ich zwei Kinder dabei, die als betroffen diagnostiziert waren, in den Untersuchungen aber abschnitten, wie nicht betroffene Kinder. In den beiden Fällen hatten die Verhaltensauffälligkeiten andere Ursachen.
Man muss halt wissen, wonach man sucht und man muss wissen, was genau man denn eigentlich untersuchen will.
Und ob Hesse, Mozart, Edison als ADHsler identifiziert worden wären oder nicht spielt keine Rolle sie gehör(t)en zur funktionalen Gruppe (ein Denken in Prozessen und Wirkungsweisen drückt sich in der Sprache aus).
@Stephan Schleim
Ein hervorragender und mutiger Artikel zur sexuellen Gewalt (auf heise).
@Trice // ADHS gibt es (nicht?)
Auch wenn ich ADH nicht als eine „Störung“ begreife, so gibt es dennoch diese Eigenart oder das Verhalten, welches außerhalb einer gesetzten Norm liegt. Und es hilft auch nichts, die Normgrenzen anders zu definieren, das in Frage stehende Verhalten ist, wie es ist. Wobei mir aber auch nicht klar ist, wo genau die Grenze zu ziehen wäre zwischen normal „unbeschreiblich lebhaft“ (wie z. B. im Falle „Hermännle“ Hesse) und abnormal „hyperaktiv“.
Unabhängig davon, ob man ADHS als eine Störung sieht oder nicht, derzeit gilt, dass nur dann eine ADHS diagnostiziert werden kann, wenn alle ICD-10- bzw. DSM-IV-Kriterien erfüllt sind.
Nun mag es ja sein, dass »der Anteil der funktional „denkenden“ Menschen sehr viel höher ist als der, die als von ADHS betroffen diagnostiziert werden«. Aber daraus kann ja wohl nicht folgen, dass ADHS im Grunde zu selten diagnostiziert wird, dass also für eine solche Diagnose gar nicht alle ICD-10- bzw. DSM-IV-Kriterien erfüllt sein müssen.
Denn das ist doch gerade der Witz bei der Sache, dass nur dann von einer „Störung“ gesprochen werden kann, wenn ganz bestimmte Kriterien erfüllt sind.
@ Balanus: ADHS gibt es nicht!
“Auch wenn ich ADH nicht als eine „Störung“ begreife, so gibt es dennoch diese Eigenart oder das Verhalten, welches außerhalb einer gesetzten Norm liegt. ”
Dass es diese eigene Art gibt, steht außer Frage. Und außer Frage steht auch, dass das Verhalten der Mehrheit der Maßstab ist, an dem das Verhalten der Minderheit gemessen wird. Was nicht heißt, dass die Mehrheit deshalb Recht hat, ganz abgesehen davon, dass die Diagnose mehr als oberflächlich ist.
“Und es hilft auch nichts, die Normgrenzen anders zu definieren”
Tja, was soll ich sagen … genau das möchten Feministinnen doch auch, nur dass sie die Unterschiede zwischen den (physischen) Geschlechtern nivellieren möchten, während ich den Unterschied zwischen den (psychischen) Geschlechtern etabliert sehen möchte.
” Wobei mir aber auch nicht klar ist, wo genau die Grenze zu ziehen wäre zwischen normal „unbeschreiblich lebhaft“ (wie z. B. im Falle „Hermännle“ Hesse) und abnormal „hyperaktiv“.
Wenn Sie den Unterschied unbedingt am Verhalten festmachen wollen, werden Sie auch keine Grenze ziehen können. Es dürfte ähnlich schwierig sein, wollte man versuchen, die Unterschiede zwischen Mann und Frau bzw. Jungen und Mädchen am Verhalten festzumachen, um dann das eine als normal und das andere als gestört zu bezeichnen …
“.. derzeit gilt, dass nur dann eine ADHS diagnostiziert werden kann, wenn alle ICD-10- bzw. DSM-IV-Kriterien erfüllt sind.”
Vom DSM gibt es inzwischen die fünfte Version, an der u.a. neu ist, dass eingeteilt wird in leichte, mittlere und schwere Ausprägung und die Diagnose nun auch für Erwachsene ab dem 17. Lebensjahr gilt. Wo die Hypoaktiven abgeblieben sind, weiß ich momentan nicht, muss ich mich noch mal kundig machen.
Unabhängig davon: Haben Sie sich die Diagnosekriterien einmal genau angeschaut? Beim Leitkriterium Unaufmerksamkeit werden z. B. als Symptome genannt:
…beachtet häufig Einzelheiten nicht und macht Flüchtigkeitsfehler
…hält häufig Anweisungen nicht durch oder kann Arbeiten nicht zu Ende bringen, usw.
Erst einmal: Laut Joachim Hoffmann gibt es noch keine allgemein akzeptierte Definition von Aufmerksamkeit und auch noch keine Kriterien, um sie zu bestimmen. Ich habe ihm damals mein erstes Buch zugesandt, in dem ich behauptet habe, die „normale“ Art der Aufmerksamkeit richte sich auf (statische) Details und Beziehungen, die funktionale (ADHS-)Art auf Prozesse und Wirkungsweisen. Woraufhin er mir zurückschrieb, er stimme mir insbesondere in meiner Betonung der Funktion der Aufmerksamkeit zu.
Also: Meinesgleichen beachtet häufig statische Einzelheiten nicht, und macht deshalb auch häufiger Flüchtigkeitsfehler, wenn es um solche geht (ich hab schließlich die Punkte in Schwanks Aufgabe auch nicht gesehen – sie waren für den Prozess, der zur Lösung führte, irrelevant trotzdem: schwerer Flüchtigkeitsfehler!)
Und dann: hält häufig Anweisungen nicht durch – stimmt: wenn man den Zweck der Anweisung nicht kennt, kann man sie auch nicht durchführen – oder muss raten, mit etwas Glück sogar richtig….
Lege ich dagegen Dörners* Fazit zum das Denken der „normalen“ Menschen beim Lösen komplexer Probleme zugrunde, dann lauten die Diagnosekriterien für normales gestörtes Verhalten:
…beobachtet häufig Prozesse nicht und macht Fehler bei der Einschätzung künftiger Ereignisse.
..führt Anweisungen durch ohne sie zu hinterfragen und führt Aufgaben auch dann noch zu Ende, wenn schon zu erkennen ist, dass sie den Zweck nicht erfüllen.
Da das aber das „normale“, weil mehrheitliche Verhalten ist und es im Alltag auch funktioniert, gilt es nicht als gestört, auch wenn es mitunter unsinnig und unvernünftig ist.
„ Aber daraus [Anteil der funktional „denkenden“ Menschen sehr viel höher] kann ja wohl nicht folgen, dass ADHS im Grunde zu selten diagnostiziert wird
Nein, daraus folgt, dass, da die vermeintlich von ADHS betroffenen Menschen zur funktionalen Gruppe gehören, die Annahme, es handele sich um eine Störung oder gar Krankheit, eine grandiose Fehldiagnose ist.
“Denn das ist doch gerade der Witz bei der Sache, dass nur dann von einer „Störung“ gesprochen werden kann, wenn ganz bestimmte Kriterien erfüllt sind. ”
Der mehr als schlechte Witz an der Sache ist, dass die (Natur-)Wissenschaften seit der Aufklärung angetreten sind, die Natur zu erforschen ohne die Antworten vorwegzunehmen.
In diesem Fall aber hat man die Antwort schon vorweggenommen, als man die Natur des Verhaltens zur Störung erklärt hat, nach deren Ursachen man nun – vergeblich – sucht.
* Dörner, Dietrich: “Die Logik des Misslingesn. Strategisches Denken in komplexen Situationen” . 1998, Reinbek: Rowohlt
@Balanus: zum Thema des Beitrags
Um den Bezug zu Thema und Untertitel wieder herzustellen:
In die ADHS-Forschung, u.a. mit bildgebenden Verfahren, sind inzwischen Millionen geflossen. Millionen zur Untersuchung und Erforschung einer angeblichen psychischen Störung, die gar keine ist.
Können Sie sich vorstellen, wie groß das Interesse all derer an der richtigen Lösung ist, die an der derzeitigen Forschung nach einer Ursache bzw. an der Erforschung von Medikamenten und Therapien zur Behandlung und Anpassung der angeblich “Betroffenen” beteiligt sind?
Da ist es doch viel einfacher – wenn sich eine einzelne Störungsursache nicht finden lässt -, zu behaupten, es könne sie nicht geben, sondern es seien eben mehrere Faktoren an der Entstehung der Störung beteiligt.
Man passt also nicht mehr die Fragen an die Natur an, die man erforschen will, sondern die Natur an die bisher erzielten Ergebnisse.
Was sind noch mal psychische Störungen?
@Trice // ADHS – Ursache im Hirn?
Offenbar verstehe ich Sie regelmäßig falsch.
Sie schrieben am 13.10., 21:36:
»Und da Schwank und ich davon ausgehen, dass der Anteil der funktional „denkenden“ Menschen sehr viel höher ist als der, die als von ADHS betroffen diagnostiziert werden (ca 8%), kann es schon vorkommen, dass die Diagnose etwas höher ausfällt.«
Ich habe diese Aussage als Erklärung dafür verstanden, warum ADHS häufiger diagnostiziert wird, als es nach den ICD-10- bzw. DSM-IV-Kriterien der Fall sein dürfte. Denn dass es gemäß diesen Kriterien weniger ADHS-Diagnosen geben sollte, als es tatsächlich gibt, davon ist wohl auszugehen.
Ich habe also Ihre Erklärung in Zweifel gezogen, als ich schrieb: »Aber daraus [Anteil der funktional „denkenden“ Menschen sehr viel höher] kann ja wohl nicht folgen, dass ADHS im Grunde zu selten diagnostiziert wird.«
Ich hätte auch schreiben können, dass Ihrer Erklärung nach ADHS im Grunde zu selten fehldiagnostiziert wird. Es müsste, Ihrer Erklärung nach, diese Fehldiagnosen an sich noch häufiger geben, weil es eben sehr viel mehr funktional denkende Menschen gibt als ADHS-Fehldiagnosen.
Die Leute, die sagen, ADHS würde zu häufig diagnostiziert, insbesondere bei Jungen, legen die Latte für diese Diagnose ja besonders hoch. Sie, liebe Trice, scheinen mir hingegen die Latte tiefer legen zu wollen, ungeachtet der Tatsache, dass Sie diese Diagnosen ohnehin als Fehldiagnosen betrachten, weil es ADHS gar nicht gibt.
Natürlich gibt es viel Interpretationsspielraum bei den einzelnen Diagnosekriterien. Wohl gerade deshalb wird gefordert, dass für eine ADHS-Diagnose *alle* Kriterien erfüllt sein müssen.
»Und außer Frage steht auch, dass das Verhalten der Mehrheit der Maßstab ist, an dem das Verhalten der Minderheit gemessen wird. Was nicht heißt, dass die Mehrheit deshalb Recht hat, ganz abgesehen davon, dass die Diagnose mehr als oberflächlich ist.«
Wenn man von ADHS einmal absieht, warum sollte es für Verhaltensmerkmale nicht in ähnlicher Weise Normgrenzen geben können wie etwa für Blutwerte? Zu wenig und zu viel Zucker im Blut sind schädlich für den Organismus. Analog könnte gelten, dass zu wenig oder zu viel von einem bestimmten Verhalten ungünstig für den Betroffenen selbst oder für dessen Einbindung in die soziale Gruppe ist.
Darauf bezog sich meine Aussage, es hülfe nichts, die Normgrenzen anders definieren zu wollen, es würde an den faktischen Gegebenheiten einfach nichts ändern. Wobei die Bewertung einer Sache zweifelsfrei von großer Bedeutung ist. Aber das ist eine andere Frage.
Und was die Frage des mehrheitlichen Verhaltens betrifft: Natürlich gilt das als „normal“, was mehrheitlich der Fall ist (siehe Gauß‘sche Normalverteilung). Aber das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das Verhalten von Minderheiten geringgeschätzt oder als therapiebedürftig betrachtet wird. Ist wohl eine Frage des soziokulturellen Kontexts.
Deshalb stellt sich die Frage, warum hierzulande das ADHS-typische Verhalten als therapiebedürftig betrachtet wird, wer ein besonderes Interesse daran hat und wem sie vor allem nutzt oder nutzen soll(te).
Vielleicht hilft es, wenn man sich vorstellt, 90% der Menschen verhielten sich stets so, wie man es von ADHSlern kennt. Würde die Mehrheit dann umgekehrt die 10%-Minderheit als therapiebedürftig betrachten?
»Haben Sie sich die Diagnosekriterien einmal genau angeschaut?«
Nein, habe ich nicht, mir ging es ja nur darum, dass nicht wenige Psychologen/Therapeuten sich bei der Diagnosestellung nicht an diese Kriterien halten, sondern zu häufig ADHS diagnostizieren (gemessen an diesen Kriterien). Zumindest war das vor einigen Jahren noch so, als die Untersuchung, auf die ich mich hier beziehe, stattfand (Silvia Schneider et al., 2011/12).
Ich finde es überhaupt recht schwierig, bestimmte psychische Merkmale exakt zu bestimmen (es hat schon seinen Grund, weshalb ich mich einer Naturwissenschaft zugewendet habe).
»In die ADHS-Forschung, u.a. mit bildgebenden Verfahren, sind inzwischen Millionen geflossen. Millionen zur Untersuchung und Erforschung einer angeblichen psychischen Störung, die gar keine ist.«
Ok, aber auch wenn es keine psychische Störung ist, so gibt es doch dieses spezielle Verhalten, was ja vielleicht auch untersuchungswert ist.
Und es ist ja keine Frage, dass die „Ursache“ dieser Verhaltensauffälligkeit (gemessen am Durchschnittsverhalten) im Gehirn zu suchen ist.
Oder sehen Sie das eher wie Stephan Schleim, der sagt: „Verhalten = Organismus x Umwelt“.
Könnte es sein, dass dieses ADHS-typische Verhalten erst durch die Umwelt der Nichtbetroffenen, sprich prädikativ denkenden Menschen, provoziert wird?
Wenn die Häufigkeit von ADHS zu Nicht-ADHS anders herum wäre, gäbe es dann dieses auffällige Verhalten nicht, oder wären dann die prädikativ denkenden Menschen bzw. die Nicht-ADHSler die Verhaltensauffälligen?
@Trice
“Was sind noch mal psychische Störungen?”
ILLUSIONEN, die doch nur Störungen der ebensolchen Systemrationalität sind 🙂
@Balanus: ADHS – Ursache im Hirn? Nein!
“Offenbar verstehe ich Sie regelmäßig falsch.”
Das liegt aber nicht an Ihnen, sondern vermutlich daran, dass wir zu verschiedenen Gruppen gehören.
“Ich habe diese Aussage [Anteil der Funktionalen höher als der von angeblich ADHS-Betroffenen] als Erklärung dafür verstanden, warum ADHS häufiger diagnostiziert wird, als es nach den ICD-10- bzw. DSM-IV-Kriterien der Fall sein dürfte.”
Das ist richtig, aber …
“Ich habe also Ihre Erklärung in Zweifel gezogen, als ich schrieb: »Aber daraus [Anteil der funktional „denkenden“ Menschen sehr viel höher] kann ja wohl nicht folgen, dass ADHS im Grunde zu selten diagnostiziert wird.«
Ich hätte auch schreiben können, dass Ihrer Erklärung nach ADHS im Grunde zu selten fehldiagnostiziert wird.”
… die Schlussfolgerung ist nicht richtig. Gemeint habe ich, dass, da der Übergang von funktional zur extremen (ADHS-)Ausprägung fließend ist, es vorkommt, dass deshalb ADHS – das es nicht gibt – häufiger diagnostiziert wird. Und so gesehen haben Sie wieder recht – obwohl meine Behauptung ist, dass diese ganze ADHS-Diagnose ein einziges Fehlurteil ist. Weshalb es auch keine Messlatten braucht.
“Und was die Frage des mehrheitlichen Verhaltens betrifft: Natürlich gilt das als „normal“, was mehrheitlich der Fall ist (siehe Gauß‘sche Normalverteilung). Aber das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das Verhalten von Minderheiten geringgeschätzt oder als therapiebedürftig betrachtet wird. Ist wohl eine Frage des soziokulturellen Kontexts. ”
Das ist momentan das Problem: dass das Verhalten (!) im soziokulturellen Kontext gesehen wird. Es fragt niemand danach, welche (evolutionären) Vorteile es hat.
Ich habe Dörner und seine Untersuchungen zum komplexen Problemösen nicht ohne Grund erwähnt (Sie sind leider nicht darauf eingegangen) – und auch nicht die “Kriterien” für das sogenannte normale Denken: Dörner stellte in seinen Untersuchungen fest, dass die Mehrheit der Teilnehmer an seinen Untersuchungen – und es waren sehr viele verschiedene Untersuchungen – erhebliche Problem hatten im Umgang mit komplexen Problemen. Es gab einige wenige, die diese Schwierigkeiten nicht hatten – und die gehörten zur funktionalen Minderheit. DAS ist, was uns von der Mehrheit unterscheidet. Im normalen Alltag ist uns die Mehrheit überlegen, aber wenn es um komplexe Probleme geht, dann sind wir überlegen!
Der grundsätzliche Fehler, der bei der Beurteilung des Verhaltens gemacht wird ist, dass man das andere, mehrheitliche, zum Maßstab nimmt. Dabei wird übersehen, dass das kindliche Verhalten im Gesamtkontext des Lernens aus Erfahrung steht. Sogenannte ADHS-Kinder verhalten sich, wie sie das tun, um in und für ihre(r) Art zu denken Erfahrungen zu sammeln. Und da sie in Prozessen und Wirkungsweisen denken, müssen sie Prozesse nicht nur beobachten, sie müssen sie initiieren, in Gang setzen, um sie beobachten zu können; sie müssen Dinge auseinandernehmen, sie zweckentfremdet verwenden usw., um Wirkungsweisen erkennen zu können.
Ich habe einmal ein einem Vortrag das Verhalten zweier Kleinkinder, die etwas malen sollten, vorgespielt – eines normalen prädikativen und eines ADHS-funktionalen. Es war für alle Teilnehmer unmittelbar einsichtig: so sind sie – bis ich gefragt habe: Was haben die beiden Kinder gelernt?
Das prädikative Kind hat gelernt, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, z.B. wenn man mit jeweils einem roten, einem grünen und einem blauen Stift ein Schwingkreuz malt. Und es hat gelernt, dass es sich richtig verhalten hat, denn es wurde von der Mutter gelobt.
Das “ADHS”-Kind hat gelernt, dass Stifte besser auf Papier als auf der Wohnzimmerwand malen, dass unterschiedliche Materialien (Stifte vs. Ketchup) unterschiedliche Muster auf Papier und Wand ergeben, dass Buntstifte eine durchgehende Mine haben (wenn man sie zerbricht, um nachzuschauen), dass manche Materialien im Wasser schwimmen (Papier) und andere untergehen (Stifte, Mamas Armabnduhr) – und dass die Mama seine Art zu lernen absolut nicht toll findet.
Dieses Kind hat aber in der kurzen Zeit deutlich mehr über diese Welt und wie sie funktioniert herausgefunden, als das prädikative, das sich erwartungsgemäß verhalten hat. Dass aber solche (vermeintlichen) ADHS-Kinder Verhaltensstörungen entwickeln, wenn sie permanent gehindert, gemaßregelt oder bestraft werden, wenn sie für ihre Art des Seins und Denkens lernen, von der sie ja nicht wissen, warum sie dies tun, dann ist das ja wohl kaum verwunderlich.
Und nur nebenbei: ich finde auch, dass dieses Verhalten absolut untersuchungswert ist – nur eben unter dem richtigen Blickwinkel.
“Und es ist ja keine Frage, dass die „Ursache“ dieser Verhaltensauffälligkeit (gemessen am Durchschnittsverhalten) im Gehirn zu suchen ist.”
Sie werden zwar Unterschiede im Gehirn – z. B- unterschiedliche Dichte von Dopamintransportern – finden. Aber es wäre ja wohl auch seltsam, wenn sich eine andere Art des Denkens nicht auch im Physischen (im Gehirn) niederschlägt. Deshalb ist das aber nicht die Ursache. Die Ursache, männlich zu sein, liegt ja auch nicht an der menge des Testosterons.
“Oder sehen Sie das eher wie Stephan Schleim, der sagt: „Verhalten = Organismus x Umwelt“. ”
Das trifft es schon eher. Und nein, das Verhalten und Denken wird nicht durch die Umwelt provoziert, sondern nur die Verhaltensstörungen; und ja: wäre es andersherum, dann wären prädikative Menschen die ADHSler
@Trice // ADHS
»Das ist momentan das Problem: dass das Verhalten (!) im soziokulturellen Kontext gesehen wird. Es fragt niemand danach, welche (evolutionären) Vorteile es hat.«
Die Varianz bzw. Diversität im Verhaltensrepertoire und damit auch in den (kognitiven) Fähigkeiten wird aber doch durchaus als eine der Voraussetzungen für den evolutionären „Erfolg“ der Spezies Mensch gesehen.
»Ich habe Dörner und seine Untersuchungen zum komplexen Problemösen nicht ohne Grund erwähnt (Sie sind leider nicht darauf eingegangen)…«
Ich habe da keine Einwände, was die unterschiedlichen Fähigkeiten zum Lösen komplexer Probleme betrifft. Auch nicht hinsichtlich der Unterteilung der Denkweisen in ‚prädikativ‘ und ‚funktional‘. Nur für die scharfe Trennung dieser beiden Typen fehlen mir bislang die überzeugenden Belege, weshalb ich eher von einem Kontinuum, einem fließenden Übergang zwischen diesen beiden Typen ausgehe. Schließlich sind ja nicht einmal die beiden Geschlechter (m/w) scharf voneinander getrennt, es gibt da genügend Zwischenformen.
»Sie werden zwar Unterschiede im Gehirn – z. B- unterschiedliche Dichte von Dopamintransportern – finden. Aber es wäre ja wohl auch seltsam, wenn sich eine andere Art des Denkens nicht auch im Physischen (im Gehirn) niederschlägt. Deshalb ist das aber nicht die Ursache [der Verhaltensauffälligkeit].«
Aber geht denn nicht jegliches Verhalten vom Gehirn aus? Wenn ein gegebener Reiz aus der Umwelt bei A zum Verhalten X und bei B zum Verhalten Y führt, dann liegt es m. E. nahe, die Ursache bzw. den Grund hierfür in der unterschiedlichen Reiz- bzw. Signalverarbeitung des zentralen Nervensystems zu vermuten.
Natürlich verändern Denken und Lernen die Strukturen des Gehirns, „schlägt“ sich dort also „nieder“, keine Frage. Aber erst müssen ja mal die Strukturen für Denken und Lernen entstehen, und das verweist dann auf die spezifische und individuelle genetische Information, die die Entwicklung „steuert“. Bei dem einen entstehen Strukturen, die gut für das Lösen komplexer Probleme geeignet sind, und bei der anderen vor allem solche, die sich gut für das Lösen linearer Probleme eignen. So in etwa.
Wenn ich mich nicht irre, haben Sie ein etwas anderes Bild vom funktionalen Zusammenhang von Gehirn, Denken, Bewusstsein und Verhalten, als es in der Biologie üblich ist. Vermutlich zielt Ihre Bemerkung: „Aber es wäre ja wohl auch seltsam, wenn sich eine andere Art des Denkens nicht auch im Physischen (im Gehirn) niederschlägt“, in diese Richtung.
@Balanus: Der springende Punkt ist…
“Ich habe da keine Einwände, was die unterschiedlichen Fähigkeiten zum Lösen komplexer Probleme betrifft. Auch nicht hinsichtlich der Unterteilung der Denkweisen in ‚prädikativ‘ und ‚funktional‘. Nur für die scharfe Trennung dieser beiden Typen fehlen mir bislang die überzeugenden Belege, weshalb ich eher von einem Kontinuum, einem fließenden Übergang zwischen diesen beiden Typen ausgehe. ”
Das ist nett, dass Sie das schreiben. Denn von dieser Vorstellung eines fließenden Übergangs gehen erst einmal alle aus, die von diesem Unterschied hören bzw. lesen. Den Psychologen kann ich es erklären, die verstehen es sofort. Warum es für andere Wissenschaftler schwieriger ist, weiß ich nicht. Nun versuchen Psychologen ja, mittels verschiedener Modelle, das Gehirn und seine Arbeitsweise zu erklären, z. B. in Form von Kognitiven Architekturen. Dörners Psi-Theorie basiert auf Programmmen und Neuronalen Netzwerken, Andersons Act-R-Theorie ist im wesentlichen ein Produktionssystem. Produktionssystem heißt, es arbeitet auf der Basis von Produktionen bzw. Produktionsregeln. Das heißt, Psychologen gehen davon aus, dass die Verarbeitungsprozesse im menschlichen Gehirn auf Programmen bzw. Regeln beruhen, und unser Erleben und Verhalten, unser Denken und Lernen auf der Anwendung solcher Programme und Regeln basiert.
Eine Produktionsregel z. B. schreibt vor, wenn etwas Bestimmtes der Fall ist (X), und etwas Anderes erreicht werden soll (Z), dann muss (Y) gemacht werden. Das Ziel der Zweck, das Ergebnis Z kommt also in der Menge von X vor.
Von dieser Regel gibt es eine Variante, die vorschreibt, dass wenn (X) der Fall ist und (Y) gemacht wird, dann wird (Z) erreicht. Mit dieser Variante folgt das Ergebnis (Z) dem Handeln (Y).
Ich gehe NICHT davon aus, dass unser Gehirn auf der Basis von Programmen oder einer Unzahl lokaler Regeln arbeitet. Aber an der Struktur der Produktionsregel ist mir aufgefallen, dass sie dem Muster des Denkens und Verhaltens von ADHSlern entspricht. Deshalb hat Schwank den Begriff “funktional” gewählt, weil eine Funktion jedem Element einer Grundmenge (mindestens und höchstens) ein Element einer Zielmenge zuordnet.
An der Struktur der Variante ist mir aufgefallen, dass sie dem Muster des Denken und Verhaltens normgesteuerter Menschen entspricht.
Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass die Regelung der Arbeitsweise des Gehirns eines funktionalen ADHSlers auf dem Produktionsregelmuster basiert, und die Regelung der Arbeitsweise normgesteuerter Menschen auf Basis des Musters der Variante. Und die Art der Regelung kann nicht gewechselt werden – neuronale Prozesse laufen nicht mal nach dieser und mal nach der anderen Variante ab, das gäbe Chaos. Aber je nachdem, nach welcher Variante ein Gehirn arbeitet, wirkt sich das im Denken, im Verhalten, im Erleben aus.
“Wenn ein gegebener Reiz aus der Umwelt bei A zum Verhalten X und bei B zum Verhalten Y führt, dann liegt es m. E. nahe, die Ursache bzw. den Grund hierfür in der unterschiedlichen Reiz- bzw. Signalverarbeitung des zentralen Nervensystems zu vermuten.”
Das stellt die Sachlage auf den Kopf, ;-). Nicht der Reiz aus der Umwelt führt zu einem anderen Verhalten, sondern die Regelung der Arbeitsweise. denken Sie systemtheoretisch und legen Sie Maturana zugrunde: Ein System rekurriert nur auf die eigenen Prozesse, nicht auf Vorgänge seiner Umwelt. Deshalb brauchen wir Rezeptorsysteme, die Reize aus der Umwelt umwandeln.
“Natürlich verändern Denken und Lernen die Strukturen des Gehirns, „schlägt“ sich dort also „nieder“, keine Frage.”
Nein, so meine ich es nicht. Denken und Lernen verändern zwar die Strukturen, aber was ich meinte ist, dass eine andere Regelvariante sich auch im Physischen niederschlägen muss, z. B. im Transmitterbereich.
“Aber erst müssen ja mal die Strukturen für Denken und Lernen entstehen, und das verweist dann auf die spezifische und individuelle genetische Information, die die Entwicklung „steuert“. ”
Wenn Sie statt genetische Information Regelvariante sagen, sind wir schon (fast) beieinander. Individuelle Unterschiede haben nichts mit der jeweiligen Regelvariante zu tun.
“Bei dem einen entstehen Strukturen, die gut für das Lösen komplexer Probleme geeignet sind, und bei der anderen vor allem solche, die sich gut für das Lösen linearer Probleme eignen. ”
Nein, es entstehen keine solchen Strukturen, die für irgendetwas geeignet sind – das unterscheidet uns von Computern: die brauchen Programme, die zur Lösung von Problemen geeignet sind. Wir nicht!
Bei uns entscheidet nur die Regelvariante darüber, ob wir besser mit komplexen Problemen oder besser mit linearen Problemen zurechtkommen. Und die können wir nicht wechseln.
@Balanus: die scharfe Trennung
Nur, falls ich es noch nicht präzise genug herausgearbeitet haben sollte:
Die derzeitige Präferenz für eine prädikative (Welt-)Beschreibung lenkt die Aufmerksamkeit auf Strukturen – auf Hirnstrukturen, auf Neurone, auf Verschaltungen und Signale, Neurotransmitter, auf Gene, auf Chromosomen, usw.
Da ich aber zur funktionalen Gruppe gehöre, nehme ich das zwar zur Kenntnis, aber mich interessieren Prozesse. Und die Arbeitsweise eines Gehirns, das sind die in ihm ablaufenden Prozesse.
Auf die kann man nicht mit dem Finger zeigen, die kann man auch mit bildgebenden Verfahren nicht sichtbar machen – allenfalls kann man zeigen, wo viel und wo wenig Aktivität ist. Selbst beim künstlichen Neuron im Human Brain Project kann nur die Vielzahl der Prozesse verfolgt werden, nicht aber die Arbeitsweise.
In ihrem Manifest schrieben die Hirnforscher damals: “Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun (!) als ‘seine’ Tätigkeit erlebt wird und wie es künftige Aktionen plant, all das verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen.Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man das mit den heutigen Mitteln erforschen könnte.”
All das wird man erst verstehen, wenn man die Arbeitsweise des Gehirns kennt, und das heißt, wenn man die Regeln kennt, nach denen ein Gehirn arbeitet.
Ich kenne inzwischen nicht nur die Regeln, ich habe auch herausgefunden, dass diese Regeln auf nur einer Grundregel basieren, und dass es von dieser Grundregel zwei Varianten gibt, also zwei verschiedene, in sich homogene Verfahrensweisen. DAS ist die scharfe Trennung, die prädikative vs. funktionale Arbeitsweise, auf der all das beruht, was die Hirnforscher nicht einmal im Ansatz verstehen.
Belegen kann man Regeln nicht, nur ableiten. Untersuchen kann man sie also nur indirekt auf ihr Zutreffen hin. Genau das habe ich gemacht.
Die Natur antwortet auf Fragen, die man an sie stellt. Stellt man falsche Fragen, erhält man falsche Antworten.
Da helfen auch Millionen und Milliarden für die Hirnforschung nichts und auch keine neuen MRTen
@Trice // Materie first
Ich schätze, jetzt sind wir wieder an dem Punkt angelangt, wo wir grundlegend unterschiedlicher Auffassung sind und einfach nicht zusammenkommen können. Ich meine damit die Vorstellung darüber, wie unser Universum mit allem, was darin kreucht und fleucht, funktioniert.
Für mich sind die elementaren Eigenschaften der Materie der Ausgangspunkt für alle nachfolgenden Strukturen und Systeme mit ihren emergenten Eigenschaften. Für Sie hingegen scheinen die Regeln oder das Regelwerk, nach dem sich alles zu richten hat, an erster Stelle zu kommen.
»Und die Art der Regelung [der Arbeitsweise des Gehirns] kann nicht gewechselt werden – neuronale Prozesse laufen nicht mal nach dieser und mal nach der anderen Variante ab, das gäbe Chaos.«
Wenn es so eine Regelung gäbe, würde das wohl zutreffen. Aber ich favorisiere nach wie vor das Modell, dass es verschiedene Netzwerke im Hirn gibt, die ganz nach Bedarf aktiviert werden können (das geschieht systemintern, ohne Befehl von außen). Wenn es ein lineares Problem zu lösen gilt, wird ein anderes Netzwerk aktiv, als wenn ein komplexes Problem ansteht. Und wie das mit biologischen Systemen so ist, sie sind ganz unterschiedlich gut ausgebildet, diese neuronalen Netze, manche funktionieren hervorragend, andere nur mit Ach und Krach. Der eine kann ein hervorragender Musiker werden, die andere hört keinerlei Unterschied zwischen Note X und Y, und die meisten liegen mit ihren Fähigkeiten irgendwo dazwischen. In Punkto Musizieren wie überhaupt bei allen musischen Fähigkeiten kennen wir also keine zwei geistige „Geschlechter“. Warum sollte es beim Problemlösen anders sein?
»Ein System rekurriert nur auf die eigenen Prozesse, nicht auf Vorgänge seiner Umwelt. Deshalb brauchen wir Rezeptorsysteme, die Reize aus der Umwelt umwandeln.«
So war es von mir gemeint. Erzählen Sie das mal unserem Gastgeber, Stephan Schleim.
»Nein, es entstehen keine solchen Strukturen, die für irgendetwas geeignet sind – das unterscheidet uns von Computern: die brauchen Programme, die zur Lösung von Problemen geeignet sind. Wir nicht!«
Bei uns ist eben Hardware (Struktur) und Software (Funktion) eins. Mit der ontogenetischen Entwicklung der Hardware entsteht gleichzeitig die Software. Deshalb verhält sich eine Maus wie eine Maus, und eine Katze wie eine Katze.
—
Habe gerade Ihren letzten Kommentar (scharfe Trennung) gelesen: Gut, dass Sie mir das nochmal in Erinnerung rufen, aber ich glaube, so in etwa hatte ich das noch im Gedächtnis.
Nur hierzu noch:
»Die derzeitige Präferenz für eine prädikative (Welt-)Beschreibung lenkt die Aufmerksamkeit auf Strukturen – auf Hirnstrukturen, auf Neurone, auf Verschaltungen und Signale, Neurotransmitter, auf Gene, auf Chromosomen, usw.«
Das sehe ich eben anders. Es geht primär um die Prozesse, die an diesen Strukturen ablaufen. Struktur und Funktion, darum geht es mMn in den Lebenswissenschaften.
@Balanus: Naturgesetze first, 😉
Das freut mich jetzt aber:
“Ich schätze, jetzt sind wir wieder an dem Punkt angelangt, wo wir grundlegend unterschiedlicher Auffassung sind und einfach nicht zusammenkommen können. ”
Ganz genau – wäre es anders, hätte ich nämlich Unrecht, :-).
“Für mich sind die elementaren Eigenschaften der Materie der Ausgangspunkt für alle nachfolgenden Strukturen und Systeme mit ihren emergenten Eigenschaften.”
Ja. Es wäre schon sehr merkwürdig, wenn es anders wäre, denn genau darauf richtet sich die prädikative Art der Aufmerksamkeit (sorry für die “Einsortierung”, aber es ist zu evident, ich kann da nicht drüber hinwegsehen).
“Für Sie hingegen scheinen die Regeln oder das Regelwerk, nach dem sich alles zu richten hat, an erster Stelle zu kommen. ”
Das ist so nicht richtig. Wie ich schon schrieb: mich interessieren weniger die Strukturen und ihre materiellen Eigenschaften, mich interessieren Prozesse – und was sie konstituiert.
Bleiben wir mal beim Beginn: zum “Zeitpunkt” 10 hoch minus 43 sec gab es ein Quarks-Gluonen-Plasma – mit den elementaren Eigenschaften, die Quarks und Gluonen haben -, aber noch keine Naturgesetze und noch kein Regelwerk (das im Übrigen auch so etwas wie ein Naturgesetz ist).
Ab dem Zeitpunkt 10 hoch minus 30 sec bildeten sich die ersten Protonen und Neutronen … und es gab Naturgesetze und – Heureka! – das Regelwerk. Und ohne dieses Regelwerk gäbe es keine Protonen, keine Neutronen, keinen Raum und keine Zeit.
“dass es verschiedene Netzwerke im Hirn gibt, ”
Bis hierher kann ich noch zustimmen aber da:
“die ganz nach Bedarf aktiviert werden können”
bekomme ich Augenkrebs: auch systemintern ‘können’ sie nicht und schon gar nicht ‘bei Bedarf aktiviert werden’. Auch systemintern gibt es keinen buttoon den man zur Aktivierung drücken kann. Und wer bitte entscheidet über den Bedarf? “Ohr an Großhirn: ‘habe soeben das Wort Trice vernommen.’ Großhirn an alle: ‘Wer ist Trice?’ ”
“Bei uns ist eben Hardware (Struktur) und Software (Funktion) eins. Mit der ontogenetischen Entwicklung der Hardware entsteht gleichzeitig die Software.”
Nun ja, das Struktur und Funktion sich gegenseitig bedingen, ist doch wohl trivial. Wenn ich eine Schaltung baue, dann bestimmt die Funktion, der sie dienen soll, die Struktur der Schaltung. Aber was weiß ich dann, wenn ich nicht weiß, was daraus entsteht und zu welchem Zweck?
“Das sehe ich eben anders. Es geht primär um die Prozesse, die an diesen Strukturen ablaufen.”
Was Sie meinen, sind Abläufe oder Zustandsfolgen oder Programme, aber keine Prozesse. Wusste ich übrigens bis vor kurzem auch nicht. Und bisher gibt es auch in der Mathematik noch keine Beschreibung für Prozesse (deshalb sind die Mathematiker, mit denen ich zu tun habe, auch so fasziniert von “meinem” Regelwerk, weil das die Voraussetzungen für eine solche Beschreibung enthält).
“Struktur und Funktion, darum geht es mMn in den Lebenswissenschaften”
Ja, aber das reicht eben nicht. Die prädikative Sicht auf die Welt macht nur einen Teil der Welt erkennbar. Das ist mir eben wieder aufgefallen, als ich nach dem Oberbegriff für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft suchte – er heißt “Zeitstufen” … ich versuche gerade, mir einen Prozess mit Stufen vorzustellen …
@Trice // Struktur und Funktion
» Ganz genau – wäre es anders, hätte ich nämlich Unrecht, :-). «
Freut mich, dass Sie das so sehen…
»Ab dem Zeitpunkt 10 hoch minus 30 sec bildeten sich die ersten Protonen und Neutronen … und es gab Naturgesetze und – Heureka! – das Regelwerk. Und ohne dieses Regelwerk gäbe es keine Protonen, keine Neutronen, keinen Raum und keine Zeit.«
Wenn ich den mir fremden Begriff „Regelwerk“ rausstreiche, dann erhalte ich im Grunde das, was ich mit meiner Aussage meinte. Ob „Materie first“ oder „Naturgesetze first“, das kommt aufs Gleiche raus, das eine ist vom anderen nicht zu trennen.
» Bis hierher kann ich noch zustimmen aber da:
„die ganz nach Bedarf aktiviert werden können“
bekomme ich Augenkrebs: auch systemintern ‚können‘ sie nicht und schon gar nicht ‚bei Bedarf aktiviert werden‘.«
Aber ist es denn nicht genau das, was man mit den bildgebenden Verfahren zeigen kann, dass bestimmte Bereiche des Gehirns je nach sensorischem Input einen erhöhten Energieumsatz zeigen? Alles nur Illusion? (Oder stören Sie sich nur an meiner Formulierung?)
»Nun ja, das Struktur und Funktion sich gegenseitig bedingen, ist doch wohl trivial. «
Nicht beim zentralen Nervensystem, wenn es um das geht, was zwischen sensorischem Input und motorischem Output liegt.
»Was Sie meinen, sind Abläufe oder Zustandsfolgen oder Programme, aber keine Prozesse.«
Ich habe den Begriff Prozess in der üblichen Bedeutung verwendet. Wenn Sie mit ‚Prozess‘ etwas anderes meinten als allgemein üblich, wäre es hilfreich, wenn Sie das gleich dazu sagten. Quasi um dem „Augenkrebs“ vorzubeugen. 😉
@Balanus
“Wenn ich den mir fremden Begriff „Regelwerk“ rausstreiche, dann erhalte ich im Grunde das, was ich mit meiner Aussage meinte. Ob „Materie first“ oder „Naturgesetze first“, das kommt aufs Gleiche raus, das eine ist vom anderen nicht zu trennen.”
Ich nenne es halt Regelwerk auch wenn ich meine, dass es ein Naturgesetz sein muss. Die Schwierigkeit bei all dem ist für mich, dass die Wissenschaftler das, was sie “wissen” oder zu wissen meinen, letztlich doch nicht so gut kennen, dass es klare. präzise Formlierungen gibt. Zudem sind die Fragestellungen andere als meine, weshalb ich den Kern, den ich brauche, immer mühsam herauspuhlen muss, um dort anzusetzen.
Systemtheoretisch gesehen kommt es jedoch nicht aufs Gleiche heraus, ob Materie oder Naturgesetze first. Lege ich zugrunde, dass jedes System sich die Regeln und Gesetze, nach denen es sich und seine Prozesse organisiert, selbst gibt, dann gilt das für alle Systeme, gleich welcher Art, ob physikalische, biologische oder soziologische. Und ein Staat, der sic gesetze und regeln gibt ist nicht dasselbe wie eben seine gesetze – aber sie konstituieren ihn mit, sonst gäbe es ihn nicht, sondern nur einen chaotischen “Haufen”.
“Aber ist es denn nicht genau das, was man mit den bildgebenden Verfahren zeigen kann, dass bestimmte Bereiche des Gehirns je nach sensorischem Input einen erhöhten Energieumsatz zeigen? Alles nur Illusion? (Oder stören Sie sich nur an meiner Formulierung?)”
Doch, es ist genau das, was man zeigen kann. Was man nicht zeigen kann ist, wie diese Aktivität und das Erleben, das mit ihr zusammenhängt, sich entsprechen. Ich erlebe, wenn ich diejenige wäre, ja nicht die Aktivität meines Gehirns, nicht den erhöhten Energieumsatz, sondern mich als Person und meine Umwelt.
[Struktur und Funktion bedingen sich gegenseitig: trivial. ]
“Nicht beim zentralen Nervensystem, wenn es um das geht, was zwischen sensorischem Input und motorischem Output liegt.”
Sehen Sie, genau das meine ich, das ist der Unterschied: die Struktur einer neronalen Verschaltung und die Funktion, die sie erfüllt,bedingen sich gegenseitig. Aber wie es aus diesem Zusammenspiel zum motorischen Output kommt. genau das erklärt das Struktur-Funktions-Prinzip nicht.
“Ich habe den Begriff Prozess in der üblichen Bedeutung verwendet. ”
In der üblichen Bedeutung heißt, man nennt entweder die einzelnen Stationen, die durchlaufen oder die Schritte die absolviert werden müssen, oder listet die Reihenfolge der Funktionen auf und wie sie miteinander verknüpft sind. Das sind aber Abläufe, keine Prozesse.
“Wenn Sie mit ‚Prozess‘ etwas anderes meinten als allgemein üblich, wäre es hilfreich, wenn Sie das gleich dazu sagten. ”
Habe ich doch, 😉
Aber ich habe nicht gesagt, was ich darunter verstehe, das stimmt. Sie sagten einmal etwas von panta rhei, und das ist, was einen Prozess ausmacht: er fließt. Wie Wasser, wie Zeit, wie Evolution, der Alterungsprozess … (auch wenn es dazu keine Alternative gibt – im Gegensatz zu den Nicht-Prozessen, die A.M. meint). Er hat keine Stationen, nichts, das man miteinander verknüpfen könnte. Weshalb es bisher auch keine mathematische Beschreibung für Prozesse gibt.
Wenn Sie sagen (20. Oktober 2016 @ 13:56), es ginge um Prozesse, die an Strukturen ablaufen, dann sind sie genau das: Abläufe von einer Station zur nächsten. Die Arbeitsweise dagegen ist ein Prozess. Wenn Sie den unterbrechen, ist der Mensch tot. Denn dann arbeitet das Gehirn nicht mehr. Prozesse kann man stören, aber nicht unterbrechen, um dort wieder anzusetzen, wo man sie abgebrochen hat. Wenn, dann muss man noch einmal von vorn anfangen. Dann ist es aber nicht mehr derselbe Prozess.
“Quasi um dem „Augenkrebs“ vorzubeugen. ”
Danke, 😉
@Trice // Dynamische Prozess-Strukturen
[die Seite funktioniert wieder, Gottseidank!!!]
»Was man nicht zeigen kann ist, wie diese [neuronale] Aktivität und das Erleben, das mit ihr zusammenhängt, sich entsprechen.«
Ja, natürlich nicht, das subjektive Erleben kann nicht beobachtet werden.
»…: die Struktur einer neronalen Verschaltung und die Funktion, die sie erfüllt,bedingen sich gegenseitig. Aber wie es aus diesem Zusammenspiel zum motorischen Output kommt. genau das erklärt das Struktur-Funktions-Prinzip nicht.«
Ich meine, doch, denn darum geht es doch in der Neurobiologie: Man erforscht die Funktion des Nervensystems anhand der vorliegenden Strukturen und den (elektro)physiologischen und biochemischen Vorgängen, die an diesen Strukturen ablaufen, und wenn es gut geht, kommt man auch zu Erklärungen.
» … was einen Prozess ausmacht: …«
Jetzt stelle ich mir Ihren „Prozess“ als den stetigen Wandel, die fortlaufende Veränderung aller (zusammengesetzten) Dinge in der Zeit vor.
@Balanus: Prozess vs. Struktur
“[die Seite funktioniert wieder, Gottseidank!!!]”
[Upps, das war mir gar nicht aufgefallen, 🙁 ]
“…das subjektive Erleben kann nicht beobachtet werden. ”
Das meine ich auch nicht, ich schrieb ja: ‘der Zusammenhang zwischen neuronaler Aktivität und dem Erleben. Und das heißt: wie arbeitet das Gehirn, sodass wir die Welt und die Dinge in ihr, uns inklusive, in der Form, in der wir es tun, wahrnehmen (binding problem), erkennen und verstehen?
“Man erforscht die Funktion des Nervensystems anhand der vorliegenden Strukturen und den (elektro)physiologischen und biochemischen Vorgängen, die an diesen Strukturen ablaufen, und wenn es gut geht, kommt man auch zu Erklärungen. ”
Die Funktion ist nicht dasselbe wie die Arbeitsweise, und aus der neuronalen Aktivität und den physiologischen, physikochemischen und biologischen Vorgängen geht das auch nicht hervor. Einzelheiten, wie das Feuern einer Zelle beim Anblick einer Linie, die von links nach rechts wandert, können wir nur deshalb zueinander in Beziehung setzen, weil wir die Versuchsbedingungen und -anordnungen kennen. Damit wissen Wissenschaftler aber immer noch nicht, wie das Gehirn arbeitet.
“Jetzt stelle ich mir Ihren „Prozess“ als den stetigen Wandel, die fortlaufende Veränderung aller (zusammengesetzten) Dinge in der Zeit vor.”
Stellen Sie sich auch die Zusammensetzung als Prozess vor, dann kommt es in etwa hin. Und Prozess”strukturen” ist dann ein Widerspruch in sich: Struktur heißt: Zusammengesetztes. Ein Prozess wird aber nicht zusammengesetzt.
Das ist, was ich Eltern und Lehrern versucht habe zu erklären: das (ADHS-)Kind nicht etwas anfangen zu lassen, um es dann zu unterbrechen und zu sagen, das könne es später weitermachen. Genau das kann so ein Kind nicht, es muss noch einmal von vorn anfangen.
@Balanus: WordPress-Fehler
Das:
„[die Seite funktioniert wieder, Gottseidank!!!]“
ist mir ..
[Upps, das war mir gar nicht aufgefallen]
nun auch aufgefallen: den obigen Beitrag hatte ich nämlich gestern schon geschrieben und gesendet, 🙁
@Balanus: scilogs-Probleme / Struktur und Prozess
Es muss sich wohl um größere Probleme bei scilogs handeln, denn auch wenn es mir vorgestern noch nicht aufgefallen ist: mein Beitrag vom 24. erschien gestern abend, der von gestern ist wieder verschwunden (es war nur die kurze Mitteilung, dass die scilogs-Probleme nun auch bei mir aufgetreten sind).
Ein Problem ist, wenn man in Prozessen denkt, dass die passenden Begriffe fehlen. Z. B. fand ich als Oberbegriff für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch nur den Begriff Zeitstufen. Selbst wenn man sich den Übergang fließend vorstellt und von Abstufungen spricht, ist “Stufe” doch eine Zäsur.
Zur Definition des Begriffs Struktur findet man bei Google folgenden Eintrag: “in Mathematik und Naturwissenschaften (und daran orientierte Wissenschaften) das Muster von Systemelementen mit den Relationen, nach denen die Elemente aufeinander bezogen sind.” Ähnliche Definitionen gibt es auch in Lexika etc. Entscheidend ist die Verwendung des Begriffs “Relation” sowie des Verbs “bezogen” – prädikatives Denken ist ein Denken in Begriffen, Beziehungen und Relationen. Nicht nur der Mathematik, auch den (Natur)Wissenschaften sowie der Sprache ganz allgemein fehlt eine komplette Weltbeschreibung auf der Basis von Prozessen und Wirkungsweisen.
An diese Grenze stoßen die Naturwissenschaften jetzt, u.a., wenn es darum geht, die Arbeitsweise des Gehirns zu beschreiben.
@Trice // Arbeitsweise
»Die Funktion ist nicht dasselbe wie die Arbeitsweise, und aus der neuronalen Aktivität und den physiologischen, physikochemischen und biologischen Vorgängen geht das auch nicht hervor.«
Auch wenn die Arbeitsweise nicht aus den biologischen Vorgängen ‚hervorgeht‘, so muss sie aber doch aus diesen Vorgängen ‚abgeleitet‘ werden, oder? Den umgekehrten Weg, dass man also die Arbeitsweise durch bloßes Nachdenken erkennt und dann Ausschau hält nach den entsprechenden biologischen Vorgängen, halte ich für nicht gangbar.
»An diese Grenze stoßen die Naturwissenschaften jetzt, u.a., wenn es darum geht, die Arbeitsweise des Gehirns zu beschreiben.«
Also, ich weiß nicht, die naturwissenschaftlichen Methoden (und das prädikative Denken) haben uns bis hierher gebracht, ich denke, so wird es auch noch eine ganze Weile weitergehen. Zumindest solange es Menschen gibt, die auch „funktionales Denken“ beherrschen (oder solange es funktionale Denker gibt, die zugleich das Prädikative beherrschen).
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Der WordPress-Fehler äußerte sich bei in einer Fehlfunktion des Captcha-Moduls, ich konnte zwei Tage lang nichts abschicken.
@ Balanus: Arbeitsweise
“Auch wenn die Arbeitsweise nicht aus den biologischen Vorgängen ‚hervorgeht‘, so muss sie aber doch aus diesen Vorgängen ‚abgeleitet‘ werden, oder? ”
Sie muss sich daraus ableiten lassen, ja!
“Den umgekehrten Weg, dass man also die Arbeitsweise durch bloßes Nachdenken erkennt und dann Ausschau hält nach den entsprechenden biologischen Vorgängen, halte ich für nicht gangbar. ”
Ich kann mir ebenfalls nicht vorstellen, dass diese Methode zum Erfolg führt. Aber es gibt noch einen dritten Weg, den ich gegangen bin: Verhaltensbeobachtung – Erkennen eines wesentlichen Unterschieds im Verständnis, die Reihenfolge bei der Ausführung von Anweisungen betreffend – Feststellung, dass es zwei basale Regeln gibt, die die jeweils gleichen Reihenfolgen haben – Tests zur Überprüfung – biologische Vorgänge auf Übereinstimmung mit den genannten Regeln untersuchen …
“Also, ich weiß nicht, die naturwissenschaftlichen Methoden (und das prädikative Denken) haben uns bis hierher gebracht, ich denke, so wird es auch noch eine ganze Weile weitergehen. ”
Die Methoden (und das funktionale Denken – Frau Schwank gehört zur funktionalen Gruppe, Dörner sicher auch, u.v.a.m.) werden auch beibehalten werden müssen.
“Zumindest solange es Menschen gibt, die auch „funktionales Denken“ beherrschen”
… das beherrschen nur die, die zur funktionalen Gruppe gehören.
(oder solange es funktionale Denker gibt, die zugleich das Prädikative beherrschen). Das können fast alle, bzw. müssen alle können, es fällt ihnen nur unterschiedlich leicht bzw. schwer.
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WP-Fehler: War bei mir genauso. Mich würde halt interessieren, warum funktionierte es nicht, woran lag’s usw. … (nicht, dass ich neugierig bin, ich will’ s nur gern wissen)
@Trice // Verhalten
Aber es gibt noch einen dritten Weg, den ich gegangen bin: Verhaltensbeobachtung…
Ja, richtig, da Verhalten im Gehirn generiert wird, erfahren wir durch die Beobachtung des Verhaltens einiges über die Arbeitsweise des Gehirns. So sehe ich das auch.
Damit wären wir gewissermaßen wieder bei Stephan Schleims Frage angelangt, warum im Gehirn suchen, wenn es um die Erforschung der Grundlagen psychischer Störungen geht (wobei die Frage, welches Verhalten als Störung zu bezeichnen ist, hier keine Rolle spielt).
Wir könnten es eigentlich hierbei bewenden lassen, oder?
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Lars Fischer twitterte am 26.10. von einem Cache-Problem bei SciLogs.
@Balanus: Verhalten und Arbeitsweise des Gehirns
Ja, ich meine auch, wir sind “durch”, :-).
Nur als Anmerkung: ich habe Probleme mit der Formulierung, das Gehirn generiere das Verhalten; für mich sind das zwei Seiten derselben Medaille. Also keine Kausalitäten sondern Korrelationen.
danke für den Cach-Hinweis, und ganz besonders: herzlich danke für die Diskussion, 🙂
Trice (ED)