Vitalismus und warum Wissenschaft für die angewandte Ethik wichtig ist
BLOG: MENSCHEN-BILDER
Als die Erschaffung einer synthetischen Zelle gelang, äußerten sich dazu viele Experten in den Medien. Ausgerechnet ein führender Bio-Ethiker machte dabei keine gute Figur. Was können wir daraus lernen?
Wissenschaft und Ethik werden als Domänen von Sein beziehungsweise Sollen üblicherweise getrennt. In der angewandten Ethik geht es unter anderem um die Bewertung neuer wissenschaftlicher Entwicklungen. Das setzt wesentliche Grundkenntnisse voraus. Zu welchen Irrtümern es sonst kommen kann, lässt sich mithilfe dieses Beispiels veranschaulichen:
2010 berichtete eine Gruppe um den Forscher Craig Venter, der schon einer der Gewinner des Humangenomprojekts war, in Science einen neuen Durchbruch: die Erschaffung einer synthetischen bakteriellen Zelle. Wohl um auch ein Stück vom Kuchen der Medienöffentlichkeit abzubekommen, befragte die Konkurrenzzeitschrift Nature kurz darauf acht Experten zu den Implikationen dieses Ergebnisses. Neben vielen Biologen und Genetikern war darunter auch Arthur Caplan, Professor für Bioethik an der University of Pennsylvania und Direktor des dortigen Bioethikzentrums.
Stephan Schleim bei einem Vortrag über neurophilosophische Grundlagen für BioethikerInnen in Tübingen, Februar 2012
Ich bin schon über die Überschrift seiner Stellungnahme gestolpert: Das Ende des Vitalismus. Der Vitalismus war eine vor allem im 18. und 19. gegenüber dem Materialismus vertretene Lehre, derzufolge lebende Dinge eine besondere Kraft besitzen. Zwar dürfte es in der heutigen Biologie kaum noch Vertreter eines starken Vitalismus geben, noch 2000 wiesen aber Marc Kirschner und Kollegen, Biologen an den angesehenen Universitäten Harvard und Berkeley, unter dem provokanten Titel Molecular “Vitalism” darauf hin, dass das Grundproblem bis heute nicht gelöst ist. Denn obwohl sich lebende Zellen mit den neuesten Verfahren der molekularen Biologie genaustens analysieren lassen, scheint Lebendigkeit der Wissenschaft noch stets Rätsel aufzugeben (Lebensentstehung und künstliches Leben).
Es ist natürlich eine wissenschaftstheoretisch komplexe Frage, wann ein Phänomen als verstanden gelten kann. Wenig kontrovers dürfte es sein, dass die künstliche Erschaffung eines Phänomens im Labor zumindest für ihre Beantwortung relevant ist. Zwar folgt aus dem Schaffensakt nicht notwendig, dass wir das volle Verständnis besitzen, umgekehrt gibt es aber das verbreitete Motto: What I cannot create I do not understand; was ich nicht erzeugen kann, das habe ich nicht verstanden. Als der berühmte Physiker Richard Feynman starb, hinterließ er dieses Mantra auf seiner Tafel.
Den Fortschritt bei der Erschaffung einer künstlichen Zelle auf das Problem des Vitalismus zu beziehen, ist also nicht prinzipiell verkehrt. Der Bioethik-Professor Caplan feiert diesen Erfolg aber schon als Ende der Umstrittenen Lehre. Dass es sich dabei nicht nur um eine griffig gewählte Überschrift, sondern um ein tiefgreifendes Missverständnis handelt, wird aus dem Lesen seines Statements deutlich. Eine mehrere tausend Jahre alte Debatte sei nun beendet; Vitalisten wie Henri-Louis Bergson, die das Erschaffen von Belebtem aus Unbelebtem für prinzipiell unmöglich hielten, seien durch den neuen Fund in Zweifel gezogen; Leben könne nun aus nicht-lebendigen Teilen zusammengesetzt werden.
Bei näherem Nachdenken kann dies jedoch nicht überzeugen, denn schließlich haben Venter und Kollegen nicht etwas Lebendiges aus Nicht-Lebendigem erschaffen, sondern das Material lebender Zellen neu kombiniert. Das ist natürlich trotzdem revolutionär und erstaunlich, jedoch für das Vitalismus-Problem von geringerer Bedeutung. Dass wir trotz des Wissens um die Bestandteile lebender Zellen eben aus rein Nicht-Lebendigem noch keine lebende Zelle erschaffen können, lässt das philosophische und wissenschaftliche Problem offen. Womöglich sind unsere technischen Möglichkeiten noch oder prinzipiell beschränkt; vielleicht ist aber auch die Analyse des Phänomens Leben noch nicht vollständig, worauf die Arbeit von Kirschner und Kollegen deutet. Arthur Caplan geht in seinem Kommentar also zu weit.
Nun war ich gerade zu einem Symposion an das Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen geladen und habe ich dort über neurophilosophische Grundlagen sowie mögliche normative Folgen der Hirnforschung vorgetragen. Anhand des hier vorgestellten Beispiels habe ich den Teilnehmenden – überwiegend DoktorandInnen des Graduiertenkollegs Bioethik – die Wichtigkeit wissenschaftlichen Wissens für die angewandte Ethik zu verdeutlichen versucht. Man könnte auch sagen, dass ich ihnen dabei helfen wollte, im Bereich der Neurowissenschaft peinliche Statements zu vermeiden, denn womöglich wird einer von ihnen einmal zur ethischen Kommentierung eines Neuro-Fortschritts, etwa dem Gedankenlesen (Können Hirnforscher bald Träume entschlüsseln?), befragt.
Schloss Hohentübingen, Veranstaltungsort des Symposions Biotechnologie – Ethik – Gesellschaft
Gemäß einer nützlichen Systematik, auf die mich der Ethik-Professor Dietmar Hübner das erste Mal hinwies, kann Wissenschaft auf zweierlei Weise normativ relevant sein: Einerseits kann das Wissen selbst unsere Vorstellung von uns Menschen und unseren Fähigkeiten verändern; ein Beispiel hierfür ist die scheinbar nie endende Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit (Willensfreiheit und die WC-Kabine). Andererseits gilt es natürlich, die Möglichkeiten und Gefahren neuer Technologien zu bewerten; ein in jüngerer Zeit bekanntes Beispiel hierfür ist die Debatte um Cognitive Enhancement.
Meine Hoffnung war, den Teilnehmenden des Symposions gute Gründe dafür zu vermitteln, die Aussagen mancher Wissenschaftler über die Reichweite der gegenwärtigen Hirnforschung lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zu überdenken – und sich als angewandteR EthikerIn über den Fachgegenstand zu informieren. Aussagen wie diejenigen, das Gehirn lege den Menschen in seiner Ganzheit fest (Legt das Gehirn alles fest?), man könne bald Träume entschlüsseln (Können Hirnforscher bald Träume entschlüsseln?) oder viele Studierende würden sich bereits mit Psychopharmaka optimieren (Der Mythos vom Gehirndoping geht weiter), mögen hier als Beispiele dienen. Der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich kam einmal zu dem Ergebnis, dass einige seiner Kollegen in den aktuellen Neuro-Debatten mehr die Rolle von Priestern übernähmen, die unreflektiert das predigten, was ihnen manche Hirnforscher erzählten.
Ob mein Beitrag in Tübingen gelungen ist oder nicht, das müssen andere beurteilen. Mir war es jedenfalls die größte Freude, einmal an einer Veranstaltung des Graduiertenkollegs teilnehmen zu dürfen und dabei so inspirierende Persönlichkeiten wie Eve-Marie Engels, Mathias Gutmann, Sabine Maasen oder Thomas Potthast kennenlernen zu dürfen, ganz zu schweigen von den vielen intelligenten Promovendi und anderen Teilnehmenden. Zusammen mit den Erfahrungen in der Lehre mit meinen Studierenden gehören solche Momente zu den schönsten meiner Arbeit als Universitätsdozent.
Vitalismus-Problem
Hallo, Stephan, schön, dass Du mal wieder Zeit findest, hier zu schreiben. Und schön, dass Dir Deine Arbeit so viel Freude bereitet (im universitär-wissenschaftlichen Bereich tätig sein zu könne, ist ein großes Privileg).
Aber was ist das mit dem Vitalismus. Geistert dieses Gespenst denn immer noch durch die Wissenschaftslandschaft? Was ist der genaue Unterschied zwischen einem “starken” und schwachen Vitalismus? Letzteren scheinst Du ja immer noch für diskussionswürdig zu halten.
Du schreibst:
So ganz stimmt das meiner Meinung nach auch nicht. Da wurde doch das Erbgut von Spezies A analysiert und neu synthetisiert, sozusagen mit Chemikalien aus dem Laborschrank.
Und dieses Syntheseprodukt, das ja nun so tot ist wie ein Molekül eben nur tot sein kann, wurde irgendwie in Spezies B transferiert, derart, dass am Ende aus Spezies B Spezies A wurde (was übrigens ein schönes Beispiel für die Macht der Gene ist).
Beste Grüße 🙂
Lebensrätsel
Lieber Balanus,
natürlich war mir klar, dass du mir bei diesem Thema widersprechen wirst (genischer Determinismus?).
Mir liegt nicht viel am Vitalismus; die Biologie ist nicht echt mein Thema. Er eignet sich aber hervorragend dazu, ein paar Wissenschaftsfanatiker auf die Palme zu bringen. Damit meine ich aber nicht dich und natürlich wärst du auch viel zu schlau, um darauf hereinzufallen.
Auch wenn man bisher keine besondere Lebenssubstanz oder ähnliches gefunden hätte, wie sie sich Vitalisten vorstellen, dann ist es doch so, dass das Phänomen Leben noch nicht vollständig reduziert ist. In diesem Sinne scheint Leben eine besondere Eigenschaft mancher Systeme zu sein. Das meinte ich mit “schwacher Vitalismus”. Vielleicht ist das aber keine nützliche Bezeichnung; ich verzichte darauf gerne.
Für den Leib-Seele-Diskurs, mit dem ich mich ja etwas besser auskenne, ist das jedoch insofern relevant, als manche PhilosophInnen behaupten, das Leben hätte man ja schon reduziert, also sei es beim Geist nur noch eine Frage der Zeit (Namen, die mir dabei einfallen, sind Peter Bieri oder Patricia Churchland). Das halte ich für einen ähnlichen Fauxpas wie den des Bioethikers Caplan.
Und nun zu deiner Fachfrage: Wenn ich mich nicht irre – so habe ich das bisher verstanden und auch im Gespräch mit Fachwissenschaftlern bestätigt bekommen –, dann ist vielleicht das Genom synthetisch, wird aber doch in eine lebende Zelle implantiert. Insofern gestehe ich ja den Begriff der “synthetischen Zelle” zu aber eben nicht “künstliches Leben” in dem Sinne, dass man hier etwas Lebendiges aus rein Nicht-Lebendigem erschaffen hätte.
Ich lasse mich da aber gerne auch korrigieren, wenn ich etwas falsch verstanden habe.
Meine These, dass Arthur Caplan sich in seiner Interpretation irrt, sehe ich jedoch nicht gefährdet; und darum ging es mir ja vor allem.
Kann dich beruhigen:
Nene, das siehst du schon ganz richtig: Mit künstlichem Leben hat Venters Mikrobe nichts zu tun.
Die ganzen Heinis die heutzutage in den Feuilletons über künstliches Leben schwadronieren haben eh alle keine Ahnung und gucken in die völlig falsche Richtung.
DNA als Software determiniert Hardware
Venter hat computerdesignte DNA synthetisiert, in eine enkernte Zelle transferiert und diese DNA übernahm die Kontrolle und alle Organellen und übrigen Zellbestandteile wurden schliesslich durch die neue DNA neu erzeugt oder mit den Worten von Craig Venter
Das ist also deutlich mehr als das Laufen lassen eines Softwareprogramms, das für Computer A geschrieben wurde auf Computer B. Vielmehr hat die Ausführung das Softwareprogramm dazu geführt, dass aus Computer B ein neuer Computer C wurde.
Niemand wird daran zweifeln, dass man die bestehenden Organellen, das Zytoplasma und die Membranen des Empfängers (hosts) ebenfalls mit einem 3D-Drucker für Moleklüle (noch zu erfinden) hätte ersetzen können, so dass alles von Menschen und ihren Hilfsmitteln geschaffen worden wäre.
Bis jetzt kopiert man nur das, was es bereits gibt in der Natur. Das wird aber sicher nicht so bleiben. Die Synthtetische Biologie will ja gerade Organismen als Bioreaktoren schaffen, die z.B. unsere zukünftigen Treibstoffe herstellen.
Es ist eine Frage der Zeit, bis synthetisch erzeugte Organismen nur noch wenig mit den Organismen gemein haben, die wir kennen.
Übrigens, Kompliment für den Artikel mit seine vielen Bezügen. Hier kommt wirklich alles zusammen.
“Gedruckte” Zelle
Danke für diese Ergänzungen!
Haha, passen Sie mit Ihren All-Aussagen auf!
Ich glaube das dann, wenn es passiert ist, diese Zelle lebt und ein paar unabhängige Gruppen das replizieren können. 😉
@ Stephan Schleim
Was halten Sie davon, das Problem des Lebens und das Leib-Seele-Problem als Varianten desselben Problems aufzufassen?
@ fegalo: Leben, Bewusstsein
Begrifflich können wir Lebendigkeit und Bewusstsein voneinander trennen; dennoch ist es so, dass alle bewussten Systeme, die wir bisher kennen, auch lebendig sind (aber nicht umgekehrt).
Es könnte durchaus einen Einfluss auf unser Verständnis vom Leben haben, sollten beispielsweise eines Tages bewusste Computer existieren, die nicht die biologische Definition des Lebens erfüllen.
Tatsächlich sahen die britischen Emergentisten des frühen 20. Jahrhunderts die Welt als eine aufeinander aufbauende Hierarchie und Bewusstsein kam über dem Lebendigen hinzu.
Vielleicht gibt es parallele Fragen, wie sich beispielsweise Lebewesen auch ohne Bewusstsein eine ihnen zuträglichere Welt suchen; ich denke, beim Leib-Seele-Problem kommen aber eine ganze Reihe Probleme hinzu, die auf den ersten Blick nichts Spezifisches mit dem Leben zu tun haben, beispielsweise das Problem der Intentionalität oder des qualitativen Gehalts mentaler Zustände.
Aber wer weiß – wenn Lebendigkeit wirklich eine notwendige Bedingung für Bewusstheit ist, dann lässt sich aus dem Verständnis des einen Phänomens womöglich wirklich etwas für das des anderen lernen.
@ Stephan Schleim
Natürlich haben wir nicht dieselben Fragen, wenn wir einerseits „Leben“ untersuchen und andererseits „Bewusstsein“. Aber es spricht viel dafür, dass Bewusstsein eine Ausprägung des Lebendigseins ist. In dem Fall wäre unser Unverständnis des Leib-Seele-Verhältnisses im Zusammenhang damit zu sehen, dass wir nicht verstehen, was Leben ist.
Und als These würde ich noch einen obendrauf setzen und behaupten, dass auch Evolution in diesen Problemkreis gehört, und die Frage nach der Entstehung der Formenvielfalt nicht durch die Suche nach ursächlichen Mechanismen gelöst werden kann, sondern der Frage nach dem Wesen des Lebendigen zugehörig ist.
Aus meiner Perspektive ist das Scheitern von KI oder gar künstlichem Bewusstsein gar keine Überraschung, ebenso wenig, wie das Scheitern der Versuche, Organismen am Reißbrett zu entwerfen und nachzubauen. Auch das wird nicht gelingen, da bin ich sicher.
Die Frage ist eher, wann das hartnäckige Scheitern dieser Ansätze zu einem Umdenken führt, dahingehend, dass man erkennt, dass der Materialismus die falsche Metaphysik ist.
Projekte wie künstliches Bewusstsein oder synthetisches Leben erinnern mich immer ein bisschen an das Unternehmen der Alchimisten.
@Martin Holzherr
»Venter hat computerdesignte DNA synthetisiert, in eine enkernte Zelle transferiert und diese DNA übernahm die Kontrolle und alle Organellen und übrigen Zellbestandteile wurden schliesslich durch die neue DNA neu erzeugt… «
Mycoplasma ist ein Bakterium, es gab also keine ‘entkernte’ Zelle. Aber auch das Empfängerbakterium war wohl nicht “entplasmidiert”, oder wie man das nennt ;-). Die Empfängerzelle war also definitiv lebend. Bei einer Zelle ohne Genom könnte man vielleicht darüber streiten, ob das Gebilde (noch) lebt oder nicht. Leben Erythrocyten?
Was ich nun nicht weiß, ist, wieso das Genom der Empfängerzelle nach der Transplantation der fremden DNA abgebaut wird.
Ah, ich sehe gerade, dass auch Nature (Stephans Link) einleitend schreibt, die Empfängerzelle sei DNA-frei gewesen. Ja wie denn nun — Herr Fischer, wissen Sie genaueres?
@Balanus: Empfängerzellen-DNA zerstört
Besten Dank für die Korrektur: Bakterien haben tatsächlich keinen Kern, nur ein Nukleotid. Was die Original- DNA des Empängers betrifft, möchte ich wiederum auf die
@Balanus: Empfängerzellen-DNA zerstört_1
Besten Dank für die Korrektur: Bakterien haben tatsächlich keinen Kern, nur ein Nukleotid. Was die Original- DNA des Empängers betrifft, möchte ich wiederum auf die
Verlautbarung von J.Craig Venter verweisen:
Versuch einer Analogie
Atome mit roher Gewalt auf andere Atome zu schleudern betrachte ich als ähnlich grobschlächtig, wie die Versuche von Craig Venter bezüglich des DNA-Austauschs in Zellen.
“What I cannot create I do not understand” (Feynman)
“Projekte wie künstliches Bewusstsein oder synthetisches Leben erinnern mich immer ein bisschen an das Unternehmen der Alchimisten.” (@fegalo)
“Dass wir trotz des Wissens um die Bestandteile lebender Zellen [lebloser Atome] eben aus rein Nicht-Lebendigem [Sub-Atomarem] noch keine lebende Zelle [glänzendes Gold] erschaffen können, lässt das philosophische und wissenschaftliche Problem offen.” (Stephan Schleim, [Joker])
@Feynman
RIP
@fegalo
Würden sie jemandem zustimmen, der sagt, auch heutige Physiker und Chemiker sind im Prinzip nur Alchimisten, weil es ihnen bis heute nicht gelungen ist, aus einem Bausatz von Protonen, Neutronen und Elektronen ein Gold-Atom zu bauen?
@Stephan
Können wir daher neben einem “elan vital” auch ein bisher unbekanntes “elan physique” noch nicht ganz ausschließen – philosophisch gesehen? Und sollte man dies in Ethik-Diskussionen mehr beachten?
@all
Was meinen wir eigentlich mit “erschaffen”?
Bestehende Dinge räumlich so nahe zusammenzubringen, das naturgesetzliche Kräfte wieder für “stabile” Verhältnisse sorgen und wir anschließend “neue Dinge” erkennen können?
@ Joker: Analogie ist irrelevant
Für meine These, dass Caplan das Experiment falsch versteht, ist die Diskussion des Vitalismus und sicher auch Ihre Analogie irrelevant – es geht hier darum, dass Caplan an prominenter Stelle philosophische Schlussfolgerungen aus einem Experiment ableitet, die zu weit gehen.
Ich habe kein Interesse daran, hier einen Vitalismus zu diskutieren. Das ist nicht mein Gebiet. Ihre Analogie hinkt aber – Gold ist anorganische Materie, die sich abgesehen von der Protonenanzahl nicht wesentlich von anderer anorganischer Materie entscheidet (außer zum Beispiel normativ, weil wir ihm einen besonderen Wert beimessen; das ist aber gerade keine Eigenschaft des Golds, sondern unserer Bewertung).
Gold aus Nicht-Gold (z.B. anderer anorganischer Materie) herzustellen ist von einer anderen Kategorie, als Lebendes aus Nicht-Lebendem herzustellen.
Normativ
@Stephan: Ist Leben erschaffen nicht gerade nur deswegen eine (scheinbar) andere Kategorie, weil wir ihm normativ einen besonderen Wert beimessen?
Das sich selbst Kopien, sich selbst organisieren, zu stoffwechseln etc. ist ja an sich nichts besonders. Es weist eher darauf hin, dass es einen abgeschlossene Entität Leben gar nicht gibt, aber keinen Wert außer dem normativen, oder?
Oder ist gerade das erschaffen einer nicht abgeschlossenen Kreatur das entscheidende?
Das ist auch alles nicht mein Gebiet, aber Platz für Vitalismus sehe ich als Laie nicht.
Korrektur
“kopieren” nicht “Kopien” (damm it, Vorschau, wo bist Du)
@Stephan
»Meine These, dass Arthur Caplan sich in seiner Interpretation irrt, sehe ich jedoch nicht gefährdet; und darum ging es mir ja vor allem. «
Caplan irrt vor allem in der Annahme, naturwissenschaftliche Befunde hätten irgendeine Relevanz für metaphysische Annahmen.
Angenommen, die Empfängerzelle wäre, wie Nature schreibt, tatsächlich DNA-frei gewesen, eine zelluläre Hülle angefüllt mit sich langsam zersetzenden Biomolekülen. Dann wäre die Aussage, dass aus „totem“ Ausgangsmaterial eine „lebendes“ System geschaffen wurde, so falsch ja nicht.
Wobei ich Markus Dahlem beipflichte, dass „Leben“ vor allem eine Setzung ist und weniger ein klar definiertes physikochemisches Phänomen.
Wo beginnt Leben?
Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel, sonst aber alle Insignien von Leben: Haben Viren also einen Élan vital oder nicht?
Es scheint schon präbiotisch evolutive Kräfte gegeben zu haben, die sich selbstorganiierende Systeme immer stabiler (dynamisch stabiler) gemacht haben und irgendwann ist dann etwas entstanden, dass wir Leben nennen. Wo – zu welchem Zeitpunkt – da das Agens Vitae injiziert worden?
Mit diesem Kommentar will ich die Position von Markus A.Dahlem im Vorgängerkommentar unterstützen und komkretisieren
@ Joker
„Würden sie jemandem zustimmen, der sagt, auch heutige Physiker und Chemiker sind im Prinzip nur Alchimisten, weil es ihnen bis heute nicht gelungen ist, aus einem Bausatz von Protonen, Neutronen und Elektronen ein Gold-Atom zu bauen?“
Ich wusste gar nicht, dass man das versucht?
Aber natürlich sind es keine Alchimisten, weil die Zusammenhänge und Prozesse im Atomkern recht gut verstanden sind. Die damaligen Alchimisten hatten dagegen von der Struktur der Materie gar keine Ahnung, und haben irgendwelche metaphysischen Kräfte beschworen, die sie sich einfach ausgedacht haben.
Und so auch die heutigen „Bioingenieure“ und Propheten des künstlichen Bewusstseins: Ohne die geringste Ahnung von den Phänomenen zu haben, hält man stur an dem Glauben fest, diese seien gleichbedeutend mit bestimmten chemischen Aktivitäten.
Noch einmal einen Schritt zurück: Gold
Dem Essenzialismus zufolge, der unsere Sichtweise der anorganischen Chemie auszeichnet (Periodensystem), müsste ich (zumindest theoretisch) beispielsweise bei Platin ein Proton hinzufügen oder bei Quecksilber ein Proton wegnehmen können und damit Gold haben. Vielleicht ist das technisch unmöglich aber das wirft dann meines Erachtens auch eine Anomalie für die Theorie auf.
Meines Wissens lässt sich Gold künstlich herstellen (nukleare Transmutation); es ist nur derart unökomisch, dass es einen eher in den Bankrott treibt als reich macht.
Gemäß dem Credo, What I cannot create I do not understand, ist Leben eben noch nicht (vollständig) verstanden. Das ist wahrlich kein positiver Grund für einen Vitalismus (d.h. die Annahme einer zusätzlichen Substanz), jedoch ein Problem für die herrschende Theorie vom Leben und ein Hinweis darauf, dass das Problem, für das Vitalisten eine Lösung suchten, eben noch nicht gelöst ist.
Ferner braucht man beim Vitalismus auch nicht so zu tun, als ob das etwas Furchterregendes sei – er war zu seiner Zeit eben ein Versuch, ein Phänomen zu erklären, wie beispielsweise die Äthertheorie auch.
Man mache sich einmal die Arbeit, Publikationen führender Biologen nach intentionalem Vokabular (d.h. was die Natur oder Evolution beabsichtigt, tut, selektiert, wohin sie führt usw.) zu durchsuchen und wundere sich darüber, wie eben jene Wissenschaftler darauf kommen, die Natur derartig zu “beseelen”.
@ Markus: normatives Leben
Welchen normativen Wert das Lebendige besitzt, entscheidet sich für uns jeden Tag – beispielsweise auf unseren Tellern. 😉
Wenn “Leben” eine normative Kategorie ist, dann wäre der Kerngegenstand der Biologie normativ (werthaft). Das wäre für mich kein Problem, für unseren Balanus aber wohl wenig schmackhaft.
Ich denke schon, dass es eine prinzipiell andere Frage ist, was nun Leben ist, als was Gold ist. Der Essenzialismus, der in der anorganischen Chemie noch gut funktioniert (etwas ist Gold genau dann, wenn es ein Atom mit 79 Protonen ist), funktioniert eben in der Biologie nicht mehr, siehe Leben, siehe Speziesproblem.
Das alles stützt aber meinen Standpunkt nur weiter, denn wenn Jokers Analogie nicht funktioniert und wenn Leben so eine schwierige Kategorie ist, dann ist die Interpretation Caplans eben noch falscher. 😉
(Ich will hier aber auch nicht ewig auf Caplan, dem, wie ich jüngst hörte, Lothar Matthäus der Bioethik, herumreiten. Das war auch nicht die Kernaussage meines Blogs, sondern nur ein Aufhänger.)
Ruhendes Leben
Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein Gebilde „lebt“?
Ich wiederhole meine Frage: Sind reife Erythrozyten (noch) lebende Zellen oder bereits nicht-lebende Aggregate?
Leben die bei -80° C eingefrorenen Embryonen?
Lebt ein Samenkorn, eine Pilzspore? Das von Martin Holzherr erwähnte Virus?
„Leben“ kann offenbar ruhen. Ruhendes Leben – nicht lebend, aber auch nicht tot. Ein merkwürdiger Zwischenzustand…
@ Balanus: Hmm…? Meta-Physik
Du willst damit behaupten, dass wenn ich aus meinem philosophischen System ableiten würde, dass die Erde ca. 7.000 Jahre alt ist, beispielsweise paläontologische Funde dafür keine Relevanz hätten?
Man sollte meines Erachtens schon zwischen Metaphysik mit empirischen Implikationen und solchen allgemeinen Aussagen, deren empirischer Gehalt unklar oder schwierig zu bestimmen ist, unterscheiden.
Beispielsweise sehe ich nicht, wie man die Determinismusthese (etwa in der Form, der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t+1 sei eine Funktion des Zustands des Universums zum Zeitpunkt t plus Naturgesetze – eine Funktion mit nur einer möglichen Lösung), endgültig be-/widerlegen möchte. Tatsächlich ist es doch so, dass bei jeder Evidenz für Indeterminismus, Deterministen (wie Balanus) sagen, es gebe da schon noch eine tieferlegende, determinierende Ebene und der Inderminismus sei nur ein scheinbarer.
Ist diese Strategie eigentlich etwas prinzipiell anderes als der Versuch des Vitalisten, aus der bisherigen Unlösbarkeit des Lebensrätsels zu schließen, es müsse da noch eine zusätzliche Substanz geben, man habe sie nur noch nicht gefunden?
@ Balanus: Was ist Leben?
Tja, hättest du dir hier in Groningen dein Freiexemplar unseres Buchs Lebensentstehung und künstliches Leben abgeholt, dann wüsstest du zumindest unsere Antwort.
Das Thema sprengt nun wirklich den Rahmen dieser Diskussion. Originelle Beiträge werden aber gerne als Gastbeitrag akzeptiert. 😉
Credo /@Stephan
»Gemäß dem Credo, What I cannot create I do not understand, ist Leben eben noch nicht (vollständig) verstanden. «
Woran scheitert denn die Schaffung von lebenden Zellen bislang? Was genau hat man bisher nicht verstanden?
Oder anders gefragt: Was hätten wir vom Leben verstanden, wenn wir im Labor die Anfangsbedingungen der Entstehung lebender Zellen erfolgreich nachbilden könnten?
Vielleicht sollte man in den einschlägigen Lehrbüchern zur Zellbiologie im Vorwort schreiben: Auch wenn wir die biochemischen und biophysikalischen Prozesse recht gut verstanden haben, so können wir doch noch nicht erklären, wie es kommt, dass eine Zelle lebt. 😉
@Stephan
»Du willst damit behaupten, dass wenn ich aus meinem philosophischen System ableiten würde, dass die Erde ca. 7.000 Jahre alt ist, beispielsweise paläontologische Funde dafür keine Relevanz hätten? «
Wenn man aufgrund metaphysischer Spekulationen Aussagen über die physische Welt macht, kann man diese Aussagen natürlich empirisch überprüfen. Aber die metaphysische Spekulation selbst kann nicht empirisch überprüft werden, oder?
@Stephan
»Tatsächlich ist es doch so, dass bei jeder Evidenz für Indeterminismus, Deterministen (wie Balanus) sagen, es gebe da schon noch eine tieferlegende, determinierende Ebene und der Inderminismus sei nur ein scheinbarer.
Ist diese Strategie eigentlich etwas prinzipiell anderes als der Versuch des Vitalisten, aus der bisherigen Unlösbarkeit des Lebensrätsels zu schließen, es müsse da noch eine zusätzliche Substanz geben, man habe sie nur noch nicht gefunden? «
Ich habe schon öfters darauf hingewiesen, dass mein modernes 😉 Verständnis vom Determinismus natürlich auch die indeterministischen Prozesse umfasst.
Vitalisten hingegen behaupten eine Kraft, die prinzipiell nicht naturwissenschaftlich erfasst werden kann. Deshalb würde es auch gar nichts bringen, wenn es gelänge, eine lebende Zelle im Labor komplett synthetisch herzustellen. Dann emergiert die „Lebenskraft“ eben in dem Moment aus den zellulären Strukturen, wenn diese eine hinreichende Komplexität erreicht haben.
(so, jetzt muss ich meine Vitalität kurz woanders einbringen 😉
@ Balanus: viele Fragen
Ich habe hier doch das Paper von Kirschner und Kollegen angesprochen, das auf einer ziemlich cleveren Strategie basiert: Was würde ein heutiger Biologe einem Vitalisten aus dem 18./19. Jahrhundert erwidern, um ihn von seinem Standpunkt abzubringen. Wie würdest du es denn tun, lieber Balanus?
In ihrem Paper fassen sie eine ganze Reihe offener biologischer Fragen zur Entstehung und Entwicklung einer Zelle zusammen; die müsstest du doch besser verstehen als ich. In der Schlussfolgerung heißt es dann:
Oder dann, allgemeiner zusammengefasst, in ihrem Schlussatz:
Wie schön sie hier mit einem forward-looking-statement abschließen!
Das fände ich gar nicht mal so schlecht – willst du das nicht der einen oder anderen Redaktion vorschlagen? Wenn ich das tue, wird das wohl kaum jemanden beeindrucken.
Da Determinismus und Indeterminismus üblicherweise als sich gegenseitig ausschließende Konzepte betrachtet werden, ist deine Definition wahrscheinlich widersprüchlich.
Ich lege mich jetzt aufs Sofa und lese La Mettrie. Für mehr Vitalität reicht es bei mir nach einer durchzechten Nacht jetzt nicht mehr. 😉
@Stephan
»Wenn “Leben” eine normative Kategorie ist, dann wäre der Kerngegenstand der Biologie normativ (werthaft). Das wäre für mich kein Problem, für unseren Balanus aber wohl wenig schmackhaft. «
Das könnte mir durchaus schmecken. Systeme, deren Chemie wir das Attribut “lebend” zubilligen (“Bio”chemie), sind ja was ganz Spezielles, so etwas gibt es im Universum gewiss nicht allzu oft.
Kirschner et al. haben m.E. vollkommen Recht, wenn sie meinen, man könne Leben vollständig mit den Begriffen der Chemie beschreiben, – wenn nicht heute, dann morgen. “Provokant” kann der Titel deren Arbeit (Molecular “Vitalism”) nur hartgesottenen Vitalisten erscheinen, die bekanntlich annehmen, dass die “Robustheit” der lebenden Systeme eben nicht mit den Begriffen der Chemie beschrieben werden können.
»Was würde ein heutiger Biologe einem Vitalisten aus dem 18./19. Jahrhundert erwidern, um ihn von seinem Standpunkt abzubringen. Wie würdest du es denn tun, lieber Balanus? «
Ich würde ihn in eine Bibliothek schicken, Abteilung Naturwissenschaften. Entweder er kommt dort von selbst zur Einsicht, oder eben nicht. Wie gesagt, bestimmte metaphysische Annahmen, wenn sie erst mal richtig festsitzen, sind durch empirische Befunde nicht zu erschüttern (wäre es anders, gäbe es z.B. keine Kreationisten, Vitalisten, Astrologen, Homöopathen, …).
»Da Determinismus und Indeterminismus üblicherweise als sich gegenseitig ausschließende Konzepte betrachtet werden, ist deine Definition wahrscheinlich widersprüchlich. «
Ich sprach von indeterministischen Prozessen, also echten Zufallsereignissen, und nicht vom Indeterminismus als philosophische Lehre.
‘Determinismus’ ist für mich ein anderes Wort für ‘Naturgesetzlichkeit’.
(La Mettrie hätte das sicher genauso gesehen, wenn er von den subatomaren indeterministischen Phänomen gewusst hätte 😉 )
Wieder einmal banalus
Wenn du eine ruhige Minute hast, dann kommst du vielleicht zu der Einsicht, dass dies ein Ausweichmanöver ist und keine Antwort. Fängt zwar beides mit einem “A” an, ist aber nicht dasselbe.
Amen.
Und eben dies ist ein Versprechen – oder man könnte sagen eine Prophezeihung –, das vielleicht eingelöst wird oder vielleicht auch nicht.
Angeblich liegt dir so viel an Empirie; an die Existenz der vollständigen chemischen Reduktion des Lebens glaubst du aber, obwohl es sie (noch?) gar nicht gibt. Wenn das nicht Metaphysik ist… Das hat mir übrigens an Vollmers Text (Deutungshoheit: Brights, Vollmer und die “rechten Dinge”) am besten gefallen, dass er auf den Glaubenscharakter des Naturalismus hinweist (und entsprechend mit einem persönlichen Glaubensbekenntnis endet).
Hmm, was ist denn der “Indeterminismus als philosophische Lehre” anderes als die Annahme, dass es indeterministische Prozesse, echte Zufallsereignisse, gibt?
Wenn du Determinismus und Naturgesetzlichkeit miteinander verwechselst, dann kann ich dir beispielsweise die Lektüre eines Lexikonbeitrags zur Begriffsklärung empfehlen.
La Mettrie hätte sich wohl für Trüffelpasteten viel mehr interessiert als für alles Subatomare.
Guten Appetit!
@Stephan
»Ausweichmanöver«
Du hattest doch wohl nicht angenommen, ich würde Dir einen oder mehrere Befunde nennen, die in der Summe beweisen, dass eine außerphysische Lebenskraft nicht existiert? Mehr, als darauf hinweisen, dass die Suche nach dieser Lebenskraft trotz aller Anstrengungen bisher absolut erfolglos geblieben ist, dass man also auch nicht den kleinsten Hinweis auf eine solche Kraft gefunden hat, kann man als seriöser Wissenschaftler doch gar nicht.
»“…wenn nicht heute, dann morgen.”
Amen.«
(Kirschner et al. 2000)
Gehst Du nun mit Kirschner et al. konform, oder kritisierst Du deren Aussagen?
»Glaubensbekenntnis«
Ich glaube wirklich, dass Du real existierst. Wenn nicht, wäre es (für mein Erleben) auch egal. Wenn das Metaphysik ist, okay, dann ist eben alles Metaphysik. Und wenn ohnehin alles Metaphysik ist, dann brauchen wir über diesen leeren Begriff auch nicht weiter zu diskutieren.
Natürlich “glauben” oder meinen Naturwissenschaftler, dass man für Naturphänomene natürliche Erklärungen finden kann. Wo ist da das Problem?
» Wenn du Determinismus und Naturgesetzlichkeit miteinander verwechselst, dann kann ich dir beispielsweise die Lektüre eines Lexikonbeitrags zur Begriffsklärung empfehlen. «
Ich verwechsele hier gar nichts, sondern stelle nur klar, was ich mit dem Determinismusbegriff verbinde.
(Ist ja nicht meine Schuld, dass es schwierig ist, mich in eine der beiden Schubladen [Determinismus / Indeterminismus] einzusortieren… vielleicht sollte man eine dritte Schublade erfinden 🙂 )
Um auf das Thema zurückzukommen: Wenn ich Dich recht verstehe, dann bist Du der Meinung, der bisherige Kenntnisstand erlaube es nicht, bestimmte metaphysische Annahmen (hier der Vitalismus) als empirisch widerlegt zu betrachten.
Da gehe ich, aus den oben genannten Gründen, mit, füge aber hinzu, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, weiterhin solchen metaphysischen Vorstellungen anzuhängen.
“What I cannot create I do not understand”
Es ist weder notwendig noch hinreichend für das Verständnis eines Phänomens dies erzeugen zu können.
Zum ersten, schon Neandertaler konnten Feuer machen ohne die Prozesse zu kennen, die dahinter stecken. Zum zweiten, wir haben für die Entstehung der Jahreszeiten schon eine gute Erklärung, ohne in der Lage zu sein Jahreszeiten willkürlich zu erzeugen, oder gar neuartige zu erschaffen.
Du schreibst ja auch ganz richtig:
“Es ist natürlich eine wissenschaftstheoretisch komplexe Frage, wann ein Phänomen als verstanden gelten kann.”
In deinem Blog-Beitrag über die Brights hast du bezüglich eines Reduktionismus geschrieben:
“Selbst innerhalb der Physik sind Beispiele gelungener Reduktionen spärlich, geschweige denn mit Bezug auf Chemie, Biologie, Psychologie und so weiter.”
Wenn es generell schwierig oder sogar unmöglich ist, Brückengesetze zwischen den einzelnen Ebenen anzugeben, und es oftmals nicht möglich ist, durch menschliches Handeln, nach dem Baukastenprinzip ein Phänomen einer höheren Ebene zu “erschaffen” oder nachzubilden, mittels Objekten der darunter liegenden Ebene, warum dann deine Herausstellung dieser Problematik beim Übergang von unbelebter zu belebter Ebene?
Schon die Behauptung, es handele sich beim Übergang vom Unbelebtem zum Belebten um eine neue Kategorie, ist, selbst wenn sie sinnvoll und vernünftig ist, zunächst eine normative Aussage, eine willkürliche Setzung. Man könnte jeden anderen Übergang ebenso als Kategoriendifferenz betrachten. Ebenso kann man bei jedem dieser Übergänge ein “elan blablabla” postulieren, empirisch unwiderlegbar.
Warum machst du das, oder generell Vertreter des Vitalismus, speziell an dieser Stelle?
Zum einen vermute ich das, was Markus A. Dahlem meint:
“Ist Leben erschaffen nicht gerade nur deswegen eine (scheinbar) andere Kategorie, weil wir ihm normativ einen besonderen Wert beimessen?”
Zum anderen ist diese Art der Argumentation oftmals Teil einer Immunisierungsstrategie, eng verwandt mit der Feststellung, Lebendes ließe sich nicht berechnen, damit nicht vorhersagen und sei daher kategorial zu Unterscheiden von anderen, unbelebten Phänomenen. Was inhaltlich zwar stimmt, aber eben nicht zur Abgrenzung dienen kann, weil auch viele der Phänomene nicht bis ins Detail zu berechnen sind, von denen man sich so gerne abgrenzen möchte.
Anstatt die Studenten auf die eigenen metaphysischen Annahmen hinzuweisen, zeigst du auf den Gegner und stellst dessen Metaphysik in Frage.
Solange man den “elan vital” als eine Hypothese betrachtet und nach ihm sucht, ist wahrlich nichts dagegen einzuwenden. Wenn er allein aber dazu herangezogen wird, um aus dem Ignoramus (wir wissen nicht) ein Ignorabimus (wir werden nie wissen) zu machen, zeigt sich die Schwäche dieser Metaphysik. Es ist ein wesentlicher Unterschied ob man Grenzen der Erkenntnis aus den Wissenschaften gewinnt (Heisenbergs Unschärferleation, Gödels Unvollständigkeitssatz) oder aus metaphysischen Annahmen (Substanzdualismus, elan vital).
Hier zeigt sich auch die Attraktivität des Determinismus. Er macht minimale Beschränkungen und ist damit die Metaphysik, die uns in epistemischer Hinsicht die größtmögliche Freiheit lässt!
(Ich meine nicht den weichgespülten Determinismus, a la @Balanus, der ja schon wieder mittels des Zufalls eine unnötige Aufblähung der Ontologie enthält. Nein, auch Zufall gibt es in meiner Metaphysik nicht, dieser ist hier nur eine mentale Konstruktion, eine epistemische Beschränkung erkennender Wesen)
Nichts wäre so traurig, so finde ich, als wenn wir wegen der Akzeptanz einer schlechten Metaphysik unsere Forschungsprogramme beschneiden würden und auf Erkenntnisse verzichten müssten, die uns vielleicht einmal helfen könnten, uns selbst – oder gar die Welt – zu retten.
Den Studenten sei also gesagt (soweit sie auch Biologen sind, nicht nur Bioethiker) sie sollen nicht versuchen den Vitalismus zu widerlegen, das ist aussichtslos, es würde reichen wenn sie, nach einer Präsentation über die Grundlagen des Lebens, einmal sagen könnten:
„Diese Hypothese habe ich nicht benötigt.“
Weiterhin gilt:
Derjenige, der sagt: “Es geht nicht”, soll den nicht stören, der’s gerade tut.”
(Murphy’s Gesetz, Römische Regel)
@fegalo
“Aber natürlich sind es keine Alchimisten, weil die Zusammenhänge und Prozesse im Atomkern recht gut verstanden sind. Die damaligen Alchimisten hatten dagegen von der Struktur der Materie gar keine Ahnung, und haben irgendwelche metaphysischen Kräfte beschworen, die sie sich einfach ausgedacht haben.”
Verstehe. Müssten es dann aber nicht die Vitalisten sein, die sie an die Alchimisten erinnern?
Die heutigen Vitalisten, beschwören doch irgendwelche metaphysischen Kräfte, die sie sich einfach ausgedacht haben, obwohl die Zusammenhänge und Prozesse im Zellkern recht gut verstanden sind.
@ Balanus: Das Rätsel Leben
Na, das ist ja schon eine andere Antwort als die, sich in die Bibliothek zu setzen und zu lesen; im Übrigen handelt es sich dabei um kein empirisches, sondern metaphysisches Argument!
Ich finde das Paper hochinteressant – nur was den Schlusssatz betrifft, hätte ich (als Skeptiker) das anders formuliert (ohne das Versprechen, dass wir nun im 21. Jahrhundert die Gelegenheit haben, das Rätsel zu lösen).
Was ich kritisiere, steht im Post.
Nein, der wichtige Unterschied ist, ob ich existiere, das kannst du nach bestehenden Methoden überprüfen (und ich bin dir dabei gerne behilflich), ob eine vollständige Reduktion des Phänomens Leben funktioniert, das kannst du eben nur glauben, bis du es geschafft hast (oder ein Argument dafür gefunden hast, warum es prinzipiell unmöglich ist).
Da stimme ich dir zu – ohne dass der Vitalist (ebenso wie der Dualist) gute positive Gründe für seine Entität angibt, finde ich seine Position auch nicht überzeugend.
Die (theoretisch wie historisch) wichtige Erkenntnis besteht für mich in der Feststellung, dass das Rätsel Leben, für das man schon so lange nach einer Lösung sucht, eben noch nicht vollständig gelöst ist (anders als manche eben behaupten oder suggerieren). Das lädt zumindest zum Nachdenken darüber ein, was an diesem Rätsel so besonders ist.
@ Joker: Warum Determinismus?
What I cannot create…
Das ist nicht mein Credo aber ein verbreitetes. Es besagt auch nicht, dass das Erzeugen hinreichend (@ Neandertaler), sondern notwendig ist – und dass man das Wetter nicht nach belieben beeinflussen kann, würden manche durchaus als Manko der bestehenden Wettertheorien ansehen.
Nur weil es eine Setzung ist, ist es darum nicht willkürlich!
Nach allem, was ich bisher aus erster und zweiter Hand über lebende Zellen gehört und gelesen habe, ist es ein kategorialer Unterschied: in der lebenden Prozesse fänden die biochemischen Prozesse geordnet statt, in der toten chaotisch oder gar nicht mehr.
Was sind denn hier jetzt meine “metaphysischen Annahmen”, bitte? Der Aufhänger für den Post war ein prominentes Beispiel für ein Missverständnis, dem man mit mehr wissenschaftlicher Fachkenntnis wahrscheinlich hätte vorbeugen können.
Zu der Frage, was Leben ist, habe ich keine bessere Antwort; das ist auch gar nicht mein Gebiet. Ich denke nur, wie ich gerade auch @ Balanus schrieb, das man durchs Nachdenken über diese Frage etwas Spannendes lernen kann.
Inwiefern es sich bei deinen Beispielen um rein empirische und nicht beispielsweise um logische handelt, das lasse ich jetzt mal so stehen; es ist aber meine Haltung, dass man für die Annahme einer Entität nicht nur auf Erklärungslücken verweisen kann, sondern auch positive Gründe anführen muss.
Gerade deshalb versuche ich ja, mit meinen Annahmen sparsam zu sein und sehe ich mich vor allem als Agnostiker.
Das will ich aber jetzt doch mal genauer von dir wissen: Inwiefern ist ein Determinismus sparsamer als ein Indeterminismus? Und inwiefern bietet er Freiheit in epistemischer Hinsicht?
Fürs erfolgreiche wissenschaftliche Arbeiten braucht man keinen (kausalen) Determinismus; gewisse Muster reichen schon. Nebenbei sei hier noch einmal erwähnt, dass der Determinismus doch eigentlich auf jeder epistemischen Ebene längst widerlegt ist.
@ Stephan: Determinismus (kurz, schnell)
A)
“Das will ich aber jetzt doch mal genauer von dir wissen: Inwiefern ist ein Determinismus sparsamer als ein Indeterminismus?”
Die üblichen Metaphysiken, die den Indeterminismus als ontologische Kategorie mit aufführen, haben ZUSÄTZLICH eine deterministische Kategorie. So sind einige Gesetze dann zwar probabilistisch, es gibt daneben aber auch noch streng deterministische Gesetze. Eine Reduktion der deterministischen Gesetze auf probabilistische wird nicht durchgängig für alle Gesetze versucht (bei einigen möglicherweise schon).
Wenn Zufall die Grundlage aller Phänomen wäre, dann müsste man mit zufälligen Zufällen erklären, wie aus Gleichem immer wieder Gleiches folgt, also letztlich rein zufällig.
Okay, es gibt einige Physiker (viele Welten) und Philosophen (mögliche Welten), die untersuchen so etwas. Nach meinem Eindruck haben deren Theorien keine Erklärungskraft mehr für irgendein Phänomen in dieser Welt. Aber Erklärungen warum DIESE Welt so ist, wie sie ist, sollten von Theorien ja gerade geliefert werden.
Der Determinismus, so wie ich ihn vertrete, hat nur eine ontologische Kategorie. Das, was wir als Indeterminismus bezeichnen, erkennen oder erleben, ist demnach keine ontologische, sondern eine epistemische Kategorie. In dem ein oder anderen Fall gelingt es uns, ursprünglich als zufällig betrachtete Phänomene auf deterministische Prozesse zurückzuführen, bei anderen halt nicht. Nicht nur scheinbar Zufälliges, auch schon manches Chaotische hat sich mittlerweile als deterministisch herausgestellt.
Mein Problem in der Quantenphysik ist dann nicht der scheinbar unhintergehbare “objektive Zufall”, sondern die Frage: Was ist eigentlich eine Eigenschaft (wie der Spin)?
B)
“Und inwiefern bietet er [der Determinismus] Freiheit in epistemischer Hinsicht?”
Der Determinsmus macht keine Einschränkungen bezüglich dessen, was wir erkennen können und was nicht. Der “Raum der Erkenntnis” ist daher bei ihm der größte, im Vergleich zu allen anderen Metaphysiken.
Der ontologische Indeterminsmus behauptet, dass wir hinter bestimmte Zufallsprozesse nicht schauen können. Der Determinimus schließt dies nicht aus. Ihm nach könnte sogar eine weiterentwickelte mathematische Modellbildung uns helfen, Messgeräte zu konstruieren, die nach bisher unbekannten Prinzipien funktionieren, und uns bisherige Grenzen überwinden ließe. Wie gesagt, der Determinismus postuliert so etwas nicht, er macht es nicht einmal plausibel, dass es so etwas geben wird, er schließt es einfach nicht aus. Wenn diese Grenze Bestand hat, und alles spricht dafür, dann ist dies eine Grenze durch die Struktur der Welt. Diese Grenze ist dann eine, die durch “Das Ding an sich”, durch dessen Struktur, durch die Struktur des Erkennenden und durch die Relation zwischen diesen beiden gegeben ist. Es ist auf jeden Fall keine Grenze, die durch die Metaphysik einfach nur behauptet wird.
Mystische Metaphysiken behaupten es gäbe Dinge von denen wir nichts wissen, oder die wir nicht erkennen können. Einige religiöse Metaphysiken kommen z.B. zu Aussagen wie, es gäbe Himmel und Hölle. Sie unterteilen die Welt, den Raum, und nur ein Teil des Raumes sei zu Lebzeiten der Erkenntnis zugänglich. Das ist alles natürlich gut möglich, aber es sind zunächst eben auch nur Behauptungen. Solche Behauptungen enthält sich der Determinismus, für ihn ist die ganze Welt, inklusive Götter und Dämonen, der “Raum der Erkenntnis”.
Einige Dämonen lassen sich ja heute schon, dem Determinismus gehorchend, leicht auffinden. Man muss sie nur nicht mehr da draußen suchen, im Universum, sondern da drinnen, im Geist.
C)
“Fürs erfolgreiche wissenschaftliche Arbeiten braucht man keinen (kausalen) Determinismus; gewisse Muster reichen schon.”
Selbstverständlich braucht man keinen Determinismus für wissenschaftliches Arbeiten. Ich möchte keineswegs unschuldige Leute, auch keine Wissenschaftler, auf den Determinismus verpflichten. Ich persönlich halte ihn allerdings für ungeheuer attraktiv. Ich selbst fühle mich quasi magisch (oder magnetisch, wie zu einem Pol? Grüße an H. Wicht) zu ihm hingezogen.
Ich bin – wie du – der Meinung, dass Wissenschaft in eine Metaphysik eingebettet gehört. Ich musste mich also irgend wann mal für eine entscheiden – was spricht gegen den Determinismus?
Auch wenn die Grenze zwischen Physik und Metaphysik unscharf ist, so ist es doch in vielerlei Hinsicht von Vorteil eine solche Unterscheidung einzuführen. Immer wenn ich von Metaphysik rede, gebe ich offen zu bekennen, dass ich jetzt von Sachverhalten rede und Aussagen treffe, bei denen es nicht mehr um beweisbare Aussagen geht.
Und natürlich können Wissenschaftler mit den verschiedensten metaphysischen Hintergrundannahmen zusammen arbeiten. Sie können zunächst versuchen die Grenze zur Physik (oder einer anderen Wissenschaft) näher zu bestimmen. Danach sollten in der Regel noch genug Gemeinsamkeiten übrig bleiben, um sich zu einigen, wie und was sie erforschen wollen.
D)
“Nebenbei sei hier noch einmal erwähnt, dass der Determinismus doch eigentlich auf jeder epistemischen Ebene längst widerlegt ist.”
Widerlegt ist so ein hartes Wort. Metaphysische Annahmen lassen sich generell nicht beweisen oder widerlegen. Ich verstehe daher nicht, wie man mehr als 200 Jahre nach Kant doch immer wieder versucht genau dies zu tun, oder unredlicher Weise einen solchen Beweis von metaphysisch anders Veranlagten verlangt.
Auf epistemischer Ebene vertrete ich im Übrigen die gleiche Ansicht, hier herrscht Indeterminismus. Wir können nicht alles Wissen – vermutlich. Beruhigend. Nur was genau wir nicht wissen können, sollten wir meiner Meinung nach versuchen herauszufinden, und nicht einfach behaupten (wiederhole ich mich manchmal?) “Das Ding an sich können wir nicht erkennen.”
Ich hoffe deine Fragen, zu meiner Sicht auf den Determinismus, hinreichend beantwortet zu haben. Ich möchte hier noch kurz einige Aussagen hinzufügen, um möglichen Missverständnissen zuvorzukommen.
Es sollte klar geworden sein, dass Determinismus in dem hier erörterten Zusammenhang, keinen Bereichsdeterminismus meint, wie in “Gene determinieren unser Verhalten”.
Für groben Unfug, in jeder Bedeutung des Wortes Determinismus, halte ich die Aussagen einiger Hirnforscher, sie hätten den Determinismus nun bewiesen (durch Untersuchungen am Gehirn !?).
Aus dem Determinismus folgt nichts!
Das ist ja gerade das Attraktive daran. Insbesondere sind keine Folgen für das Strafrecht direkt daraus abzuleiten. Es bleibt eine normative Frage, wann Täter bestraft werden und wann nicht. Dass die Beantwortung dieser Frage, wie sie die Gesellschaft treffen wird, selbst auch determiniert ist, das schreckt keinen Deterministen. Der Determinismus liefert nur einen Rahmen, in dem Erklärungen stattfinden können.
Der ontologische Determinismus, so wie ich ihn vertrete, ist absurd. Das möchte ich hiermit ausdrücklich betonen. Es scheint mir kompletter Unsinn zu sein, dass mit dem Urknall sozusagen schon determiniert war, dass hier und heute dieser Post erscheint – und trotzdem glaube ich dran.
Schließen möchte ich mit der Bemerkung, dass auch jede andere Metaphysik absurd ist.
@ Schleim @ Joker – (In-)determinismus
Interessante Unterhaltung habt ihr da!
Mir kommt ein altes Paradox in den Sinn:
“Der, der behauptet, alles geschähe aus Gründen, kann den, der behauptet, dass nichts aus Gründen geschähe, nicht kritisieren, denn er muss zugeben, dass auch diese Behauptung aus Gründen geschieht.”
Wahrscheinlich liegt die Auflösung des Paradoxes darin, dass hier verschiedene logische und ontologische Ebenen durcheinandergehen, aber sicher bin ich mir da nicht. Manchmal will mir scheinen, dass sich dies Paradox doch auf der rein logischen Ebene abspielt, und dann wär’s eine unangenehme Antinomie.
Entzauberung?
Spannendes Thema – aber hab ich da irgendwas nicht mitgekriegt? Gibt es noch Biologen, die glauben, Leben wäre NICHT aus lebloser Materie entstanden, könnte nicht aus ihr von selbst entstehen? Erinnere ich mich falsch an Manfred Eigen, der das Hyperzyklus-Modell entworfen hat und dann mußte sich nur noch eine Doppelmembran um diesen Hyperzyklus bilden und fertig war die Zelle? Und wie entsteht eine Lipid-Doppelschicht? Ein Wassertropfen fällt auf eine Wasseroberfläche – fertig ist der Lack. Schon hat man eine Zelle in Bakteriengröße.
Daß es *irgendwie* so gewesen ist und so auch *irgendwann* vollständig “künstlich” reproduziert werden könnte – wer zweifelt daran?
Wäre dadurch dann aber irgend etwas an einer Biozelle und ihrer Entstehung entzaubert? Wer das glaubt, hat meiner Meinung nach im Biostudium nicht genügend aufgepaßt.
@ Joker: Glaube an absurden Unsinn
Joker, lass uns darauf, dass du in absurder Weise an eine Position glaubst, die du für Unsinn hältst und aus der nichts folgt (angeblich eine attraktive Eigenschaft), eben anstoßen; und ich denke, dem Guten Wicht dürfte das auch schmecken.
Dein Kommentar ist eigentlich zu lang aber er war das Lesen wert. Hier noch ein paar meiner vom Rotwein geschwängerten Gedanken:
Ich verstehe noch stets nicht, inwiefern der Determinismus ein sparsameres Prinzip wäre als der Indeterminismus. Da keine Messung perfekt ist, könnte man auch sagen, dass uns alles inderterministisch erscheint (epistemisch); wieso sollte die Welt dann nicht auch so sein? Das wär’ doch mal ‘was: Die Welt täte uns den gefallen, so zu sein, wie wir sie wahrnehmen.
Sind aber Determinismus/Indeterminismus nicht vielmehr Denkkategorien, die wir der Welt aufsetzen? Je nachdem, wie sich die Naturkräfte verhalten, ist die Welt auf die eine, erscheint uns vielleicht aber auf die andere Weise. Daher denke ich, dass ontologische Sparsamkeit hier fehl am Platz ist.
Selbst wenn ich es überzeugend fände, dass deterministische Naturkräfte sparsamer sind als indeterministische, wer sagt uns denn, dass die Welt nur nach einem Prinzip funktioniert und, wenn ja, dass es gerade ein deterministisches ist?
Letztlich müssen wir aber doch an der epistemischen Hürde stoppen, zu der du dich bekennst. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn Naturforscher nach Determinanten suchen und sich an Reduktionen versuchen; im Gegenteil finde ich das spannend. Das klappt aber doch immer nur annäherungsweise. Für die Forschung hat das freilich den Vorteil, dass sie nie beendet wird.
Kurzum, wir können die epistemische Hürde nicht überwinden – wieso also diese Diskussion über ontologischen (In-)Determinismus? Sollten wir dazu nicht einfach schweigen?
Und zu guter Nacht eure Gesundheit! Prosit allerseits! (Goethe)
Und wenn du magst, dann schreib doch mal einen Gastbeitrag zum Thema. Orientiere dich aber bitte an den hier üblichen Längenkriterien, sonst wird das nicht mehr gelesen.
@ Ingo: berechtigter Einwand
Da ist schon ‘was dran, auf die Lebensentstehung zu verweisen, wohl tatsächlich ein Beispiel für die Entstehung von Lebendigem aus Totem.
Nun ja, da kenne ich viele Leute, mich nicht ausgeschlossen.
Ist es nicht eine Form menschlicher Hybris, davon auszugehen, dass man alles kann? Etwas philosophischer formuliert würde ich Bedenken daran anmelden, etwas reduzieren zu wollen, während das zu reduzierende nicht einmal klar definiert ist.
Davon abgesehen würde es mir schon reichen, Lebendes aus Lebendem zu erzeugen; Kinder und so. Tolle Sache, oder? 😉
@Joker
“Schon die Behauptung, es handele sich beim Übergang vom Unbelebtem zum Belebten um eine neue Kategorie, ist, selbst wenn sie sinnvoll und vernünftig ist, zunächst eine normative Aussage, eine willkürliche Setzung. Man könnte jeden anderen Übergang ebenso als Kategoriendifferenz betrachten. Ebenso kann man bei jedem dieser Übergänge ein “elan blablabla” postulieren, empirisch unwiderlegbar.“
Es stimmt, dass mit der Kategorie „Leben“ eine normative Komponente ins Spiel kommt, aber das hat doch Gründe in der Sache, die dieses Hinzutreten der normativen Kategorie erst veranlassen! Das Hinzutreten des Normativen ist vielmehr ein Indiz dafür, dass bereits auf einer ganz intuitiven Ebene eine Unterscheidung geleistet wird zwischen bloß Vorhandenem und Lebendigem, welches nämlich „Selbstsein“ aufweist und damit einen anderen Umgang erfordert als etwa ein Stein, nämlich in der Weise, dass er uns zur Anerkennung dieses Selbstseins aufruft. Genau das ist das Normale, dass Menschen, wenn sie andere Lebewesen nicht aktuell ihren Zwecken unterwerfen, deren Selbstsein anerkennen, und sei es nur in der Weise des vorsätzlichen In-Frieden-Lassens. Die Zerstörung eines Lebewesens ist ein anderer Akt als das Zerkleinern eines Felsens oder das Verschrotten einer Maschine. Wer das nicht mehr anzuerkennen bereit ist, der hat sich aus der menschlichen Gemeinschaft verabschiedet.
Ein rigoroser Materialist hat aber dann das Problem, dass er das tatsächlich nicht mehr begründen kann, wenn Lebewesen doch nur komplexe Maschinen sind. Es wird möglicherweise nie gelingen, einen „elan vital“ oder etwas dergleichen nachzuweisen, aber dasselbe gilt für die Wahrheit des Materialismus.
Gleichzeitig ist dieses Mehr, das das Lebendigsein über das bloße Dasein eines Klumpens Erde hinaushebt, am eigenen Leibe direkt erfahrbar. Es ist abstrus, aus dem Versagen, aus der Inadäquatheit einer wissenschaftlichen Methode diesem Phänomen gegenüber den Schluss zu ziehen, Leben sei kein Phänomen sui generis, sondern nur ein komplexer, noch nicht vollständig aufgeklärter Mechanismus.
Denn es ist so: Weil die Methode inadäquat ist, wird die Existenz des eigenständigen Phänomens abgestritten. Dasselbe wird ja auch in Hinsicht auf das Bewusstsein praktiziert: Da der naturwissenschaftliche Nachweis nicht möglich ist, und noch viel weniger die Reduktion gelingt, wird in abenteuerlichen gedanklichen Volten die Existenz desselben von manchen komplett abgestritten.
“Verstehe. Müssten es dann aber nicht die Vitalisten sein, die sie an die Alchimisten erinnern?
Die heutigen Vitalisten, beschwören doch irgendwelche metaphysischen Kräfte, die sie sich einfach ausgedacht haben, obwohl die Zusammenhänge und Prozesse im Zellkern recht gut verstanden sind.“
Im Gegensatz zu den Alchimisten müssen Vitalisten gar nichts beschwören. Materialisten haben dagegen eher das Problem, etwas wegerklären zu müssen, was von unmittelbarer Eindringlichkeit ist: In zweieinhalb Monaten gehen Sie doch einmal in den Wald, und wenn Sie dann angesichts und angehörs des dortigen beinahe schon aggressiven Ausbruchs von Lebensdrang einen mechanischen Materialismus für eine einleuchtende und ausreichende Erklärung für das stattfindende Schauspiel halten, dann würde ich mich fragen, wie ehrlich Sie gegenüber Ihren eigenen Wahrnehmungen sind.
“Aus dem Determinismus folgt nichts!
Das ist ja gerade das Attraktive daran.“
Was soll daran attraktiv sein? Wenn nichts daraus folgt, ist es doch höchst schnuppe, ob man ihn vertritt oder nicht. Was schnuppe ist, ist aber nicht attraktiv.
Abgesehen davon ist es falsch, dass daraus nichts folgt.
“Der ontologische Determinismus, so wie ich ihn vertrete, ist absurd. Das möchte ich hiermit ausdrücklich betonen. Es scheint mir kompletter Unsinn zu sein, dass mit dem Urknall sozusagen schon determiniert war, dass hier und heute dieser Post erscheint – und trotzdem glaube ich dran.“
Scheint mir auch kompletter Unsinn zu sein.
“Schließen möchte ich mit der Bemerkung, dass auch jede andere Metaphysik absurd ist.“
Nein, nicht jede andere Metaphysik ist absurd. Vielleicht falsch. Absurd aber ist nur der Nihilismus, der aus einem Materialismus, sei er deterministisch oder indeterministisch, zwangsläufig folgt.
Soll der Philosoph d. Staunen verlernen?
“Davon abgesehen würde es mir schon reichen, Lebendes aus Lebendem zu erzeugen; Kinder und so. Tolle Sache, oder? ;-)”
– Dazu weiß man aus der Empirie zu berichten: Ja, toll!
Und da es so leicht fällt und es einen so ekstatisch macht (mitunter), neigt man zur Hybris und will sogar aus bloßer Erde und Lehm Menschen formen …
Aber wie gesagt, ich halte es für eine Fehldeutung, das Wunder des Lebens dann nicht mehr als Wunder des Lebens zu betrachten, wenn es vollständig naturwissenschaftlich erklärt und reproduziert werden kann. An dieser Fehldeutung krankt die westliche Welt seit 150 Jahren. Charles Darwin trägt Mitschuld daran.
Diese Fehldeutung läßt Naturwissenschaftler übrigens oft das Wesentlichste übersehen, was inzwischen in vielen Bereichen als ein Forschungshemmnis festzustellen ist.
Dadurch daß wir die Naturgesetze mehr und mehr technisch beherrschen und anwenden, folgt nicht notwendigerweise, daß sie weniger staunenswert sind, als zu der Zeit, wo wir sie noch gar nicht kannten oder vollständig verstanden haben.
Eine solche Schlußfolgerung ist geradezu absurd, wenn nicht pathologisch. Wobei ich sie mir psychologisch schon gut erklären kann. Als ich im Grundstudium beim Auswendiglernen des Zitronensäure-Zyklus aufschrie vor Empörung, daß man da alles so genau wissen will und wissen soll, verging mir für eine Weile das Staunen auch …
(Biologie studiert sich leichter, wie ich an vielen Kommilitonen feststellen konnte, wenn man sie wie ein Techniker studiert. Ob sie dann auch nur halb so viel Spaß macht, bleibe dahingestellt. Ich finde, es sollte auch Leute geben, die Biologie wie ein echter Philosoph studieren, und das heißt: nicht reduktionistisch, wobei hier die Reduktion bloß im Auge des Betrachters gemeint ist, nicht in der Sache selbst – was soll es da eigentlich zu reduzieren geben – auch so ein Irrtum vieler Naturwissenschaftler.)
Viele Naturwissenschaftler haben es in den 1970er Jahren zum Beispiel “toll” gefunden, als sie alles altruistische Handeln in der Natur auf “egoistische Gene” “reduzieren” konnten (oder glaubten, das zu können). Auch hier lag der Irrtum allein im Auge des Betrachters, niemals in der Sache selbst. Und auf dieser Linie liegt vieles, was in den letzten 150 Jahre atheistischer Wissenschaftsdeutung und atheistisch-technischen Wissenschaftsbetriebes so getrieben wurde.
In dieses “reduktionistische” Weltbild paßt zum Beispiel nicht hinein, daß es Monogamie und Brutpflege gewesen sind, die die grundlegendsten Errungenschaften in der Evolution vorangetrieben haben. Warum hat eigentlich das reduktionistisch-technisch-atheistische Weltbild so sehr das Bestreben, alles evolutive Geschehen auf “im Kern” polygame und egoistische Bestrebungen zurückzuführen?
Welche außerwissenschaftlichen Wertungen spielen denn da wieder mit hinein?
@ Helmut Wicht: Da Da Da
Wir basteln uns ein Paradox (durch eine Wortumstellung im ursprünglichen Zitat wird eins draus)
“Der, der behauptet, nichts geschähe aus Gründen, kann den, der behauptet, dass alles aus Gründen geschähe, nicht kritisieren, denn er muss zugeben, dass auch diese Behauptung aus Gründen geschieht.”
Der, der glaubt, nichts geschähe aus Gründen, könnte es nicht einmal behaupten, seine Behauptung würde ja schon auf seinem Glauben gründen, aber er könnte immerhin versuchen es zu demonstrieren, durch unbegründetes Verhalten – Dadaisten.
@ fegalo
Gut, kommen wir zurück zum Thema des Blogs, Vitalismus und Ethik.
“Die Zerstörung eines Lebewesens ist ein anderer Akt als das Zerkleinern eines Felsens oder das Verschrotten einer Maschine.”
Da sind wir uns doch einig. Nur wer, um den Unterschied zwischen Lebewesen, Felsen und Maschinen zu erkennen, zu begründen oder zu rechtfertigen, das Postulat eines “elan vital” benötigt, der hat doch ein Problem. Er ist es doch, der seinen Wahrnehmungen nicht traut.
Leben /@Ingo Bading
»Gibt es noch Biologen, die glauben, Leben wäre NICHT aus lebloser Materie entstanden, könnte nicht aus ihr von selbst entstehen? «
Na ja, sagen wir mal so: “Das Leben” als Entität gibt es ja nicht, wenn man es genau nimmt. Was es hingegen tatsächlich gibt, sind lebende Einheiten, also materielle Gebilde mit der besonderen Eigenschaft, “lebendig zu sein”. “Leben” ist in erster Linie ein Prozess, eine dynamische Aktivität weitab vom thermodynamischen Gleichgewicht.
Biologie ist demzufolge nicht die “Wissenschaft vom Leben”, sondern vielmehr die “Wissenschaft von den lebenden Einheiten”.
Das ist natürlich alles ziemlich trivial, aber mir kommt es bei manchen Formulierungen schon so vor, als würde “Leben” nicht als ein Abstraktum, sondern als eine Art immaterielle “Substanz” gesehen, irgendwie losgelöst von den lebenden Einheiten, beziehungsweise den Organismen irgendwie innewohnend.
@ Ingo
Gute Beispiele –
zur Idee der Hybris kam mir noch Fukushima in den Sinn, eine Technologie, die man zu beherrschen glaubte. Zur Kernschmelze befragt, mussten viele Experten mit den Schultern zucken und zugeben, dass man gar nicht so genau wisse, was in so einem schmelzenden Kern passiere, da man sich dem experimentell und theoretisch nur schwierig annähern könne.
Zurück zur eigentlichen Frage, was will das heißen? Auch wenn in der Naturgeschichte Lebendes aus Nicht-Lebendem entstanden ist, folgt daraus nicht, dass wir Menschen dies wiederholen können; vielleicht reichen unsere technischen Möglichkeiten schlicht nicht aus. Nicht alles, was natürlich möglich ist, ist es darum auch technisch.
@ Balanus: Begriffsklärung
“Leben” hat viele Bedeutungen, die meisten übrigens sozialer Natur, die eher in die Psychologie/Soziologie gehören.
In unserer Debatte sehe ich das Problem allerdings nicht. Lebendigkeit ist eine Eigenschaft, die bestimmte Zellen und Organismen auszeichnet, eben solche, die Lebensprozesse realisieren.
Der interessante Unterschied (für die Biologie) ist u.a. zwischen den Zellen und Organismen, die es tun, und jenen, die es nicht (mehr) tun.
Hier übrigens noch ein Zitat La Mettries, das dich vielleicht erfreut (, auch wenn es nicht echt in diese Diskussion passt):
Hmm, esprits animaux, vielleicht passt es doch in die Diskussion?!
Once again: Rätsel /@Stephan
Mal abgesehen davon, dass den Zellbiologen angesichts der hochkomplexen Zusammenhänge die Arbeit (hoffentlich) wohl niemals ausgehen wird, an was genau denkst Du, wenn Du vom “Rätsel des Lebens” sprichst?
Etwa nur an die noch nicht bekannten und aufgeklärten biochemischen oder biophysikalischen Prozesse? Oder gibt es da noch etwas, irgend etwas Essentielles oder Prinzipielles, eben speziell “Rätselhaftes”?
Ich denke ja, dass Du mit “Rätsel” nur “offene Fragen” o.ä. meinst, hätte das aber gerne noch mal bestätigt, wenn’s Dir keine allzu große Mühe bereitet 😉
@ Balanus: Lebensrätsel
Dabei denke ich insbesondere an die beiden Fragen, 1) nach der Entstehung des Lebens und 2) nach demjenigen, was Lebensprozesse von allen anderen unterscheidet.
Hier übrigens eine historische Fundstelle, die ich eben nachgeschlagen habe:
Du Bois-Reymond, E. (1880). Die sieben Welträtsel. In ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, 1974, Felix Meiner Verlag, S. 169.
@Stephan
Ja, die Frage nach der Entstehung der ersten Formen von “Leben” ist gewiss eine, der man das Label “Rätsel” anheften kann. Hier haben wir es wirklich mit einer sehr großen intellektuellen Herausforderung zu tun.
Dein zweiter Punkt (“was Lebensprozesse von allen anderen unterscheidet”) ist wohl eher eine philosophische Frage. Zumindest kann ich mir unter “Lebensprozessen” nichts Konkretes vorstellen — was ich als Hinweis auf etwas Philosophisches werte ;-).
Ich kenne ja nur biochemische und biophysikalische zelluläre Prozesse, die laufen in vivo im Prinzip genauso ab wie in vitro. Das Besondere bei den zirkulären Prozessen in vivo ist halt, wie sie ineinander greifen und perfekt aufeinander abgestimmt sind.
Was würde Du Bois-Reymond wohl zu den Erfolgen der Biochemie, Molekularbiologie und, nicht zu vergessen, Neurobiologie, sagen, wenn er noch unter uns weilte? Er wäre sicherlich ganz von den Socken… 😉
@ Balanus: Lebensprozesse
Auch in einer toten Zelle finden noch biochemische/-physikalische Prozesse statt aber eben keine Lebensprozesse mehr. Wenn du den Unterschied nicht verstehst… You’ll never know.
Bestimmt – das Lebensrätsel war für ihn aber gerade nicht unlösbar (im Gegensatz beispielsweise zum Bewusstseinsrätsel) und auch einen Gott hielt er dafür nicht für notwendig.
@Stephan
»Auch in einer toten Zelle finden noch biochemische/-physikalische Prozesse statt aber eben keine Lebensprozesse mehr. «
Meine Frage war, ob Du unter “Lebensprozesse” etwas anderes verstehst als die bekannten biochemischen und physikalischen Prozesse, die das innere Milieu einer intakten Zelle, ihren Gleichgewichtszustand, aufrecht erhalten. Und wenn ja, was?
What is it like to be a stone?
Die Grenze zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem wird doch vom Beobachter gezogen, nicht wahr? Er müßte jedoch identisch mit dem von ihm beschriebenen Objekt sein, um sagen zu können, ob dieses lebendig oder nicht lebendig ist. Da diese Identität jedoch nicht erreichbar ist, ist er epistemisch begrenzt, woraus wiederum folgt, dass die von ihm gezogene Grenze allenfalls plausibel, nicht aber sakrosankt ist. In gewisser Weise haben wir hier eine Variante des alten “1st person vs. 3rd person”-Spielchens. Insofern würde ich S. Schleims Aussage, dass “auch in einer toten Zelle […] noch biochemische/-physikalische Prozesse statt[finden] [,] aber eben keine Lebensprozesse mehr” nicht unterschreiben, da nicht beweisbar.
Was die Definition von Leben angeht, bin ich bass erstaunt ob der naiven Naturalismen, die hier vom Stapel gelassen werden. Ist Leben denn nicht eine Voraussetzung für die Definition von Leben und ergo phänomenologisch, methodisch, logisch und ontologisch primär gegenüber jeder Erklärung?
Ferdi
“Ich kenne ja nur biochemische und biophysikalische zelluläre Prozesse, die laufen in vivo im Prinzip genauso ab wie in vitro.”
Über Selbstkenntnis verfügen Sie also nicht? Sind sie ein Computerprogramm?
@ Balanus: neuer Lebenssubjektivismus?
Ich habe doch klar definiert, was ich mit “Lebensprozesse” meine.
Folglich hängt es von unserem Kenntnisstand ab, was wir von diesen Prozessen wissen; die Definition ist aber grundlegender und beschreibt den Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem.
Sofern du nicht sagen willst, dass es von unserem Kenntisstand abhängt, welche Zellen und Organismen nun leben und nicht, scheint mir deine Frage nicht wohlformuliert; und wenn du es doch sagen willst, dann scheint sie mir (zumindest weitgehend) absurd.
@Stephan
»Ich habe doch klar definiert, was ich mit “Lebensprozesse” meine. «
Wo denn?
Aber egal, sei’s drum. Zudem, wenn es eine konkrete Vorstellung von diesen “Lebensprozessen” gäbe, dann wären sie wohl viel weniger rätselhaft.
Ad “Kenntnisstand”:
Natürlich kennen wir nicht jede intrazelluläre biochemische Reaktion. Aber die, die wir kennen, sind meines Wissens hinreichend, um den Zustand des “lebendig seins” zu erklären.
Du hingegen scheinst der Auffassung zu sein, dass das nicht der Fall ist. Okay, aber ich hätte halt gerne gewusst, warum?
Ad “neuer Lebenssubjektivismus”:
Was soll daran neu sein? Kennst Du etwa die genaue, objektive Grenze zwischen nicht lebend und lebend?
Wie auch immer, bis zum nächsten Mal,
beste Grüße
@ Balanus
Lebensprozesse sind diejenigen Prozesse, die eine lebende Zelle von einer toten unterscheiden, das habe ich jetzt doch schon mehrere Male geschrieben.
Das werde ich jetzt nicht alles wiederholen, sondern stattdessen ein weiteres Mal auf das Paper von Kirschner und Kollegen verweisen.
@ Ferdi, über Balanus
Gratulation, das haben Sie sehr schnell festgestellt.
Bei mir hat es doch einige Wochen gedauert, bis mir klar wurde, dass Balanus ein Chatprogramm ist, das so programmiert ist, immer das Gegenteil von meinen Aussagen zu vertreten.
Ich kann das natürlich nicht beweisen, bisher hat aber jede Instanz diese Hypothese bestätigt.
@Stephan
»Lebensprozesse sind diejenigen Prozesse, die eine lebende Zelle von einer toten unterscheiden, das habe ich jetzt doch schon mehrere Male geschrieben. «
Aber Du hattest nicht deutlich gemacht, dass Du damit, im Einklang mit Kirschner et al., nur irgendwelche biochemischen und physikalischen Prozesse meinst. Die Ausgangsfrage war ja, was Dir am Zustand des “lebendig seins” besonders rätselhaft erscheint.
»Bei mir hat es doch einige Wochen gedauert, bis mir klar wurde, dass Balanus ein Chatprogramm ist, das so programmiert ist, immer das Gegenteil von meinen Aussagen zu vertreten. «
1. Meine Programmierung lässt durchaus zu, Dir zuzustimmen, wenn Du mit einer Behauptung mal Recht haben solltest. Ist auch schon mal vorgekommen, wie Du hoffentlich noch weißt.
2. Ich habe mich gefragt, ob Du der von Ferdi gelieferten Vorlage würdest widerstehen können. Gestern dachte ich noch, yes, he can … 😉
3. Hast Du eigentlich Ferdis Einwand verstanden? Ich nämlich nicht. Denn was hat die fehlende Selbstkenntnis eines Computerprogramms mit der Frage zu tun, ob beispielsweise Viren oder kernlose Erythrozyten als lebende Einheiten angesehen werden können?
@ Balanus
“ Hast Du eigentlich Ferdis Einwand verstanden? Ich nämlich nicht. Denn was hat die fehlende Selbstkenntnis eines Computerprogramms mit der Frage zu tun, ob beispielsweise Viren oder kernlose Erythrozyten als lebende Einheiten angesehen werden können?“
Ferdis Einwand ist vollkommen berechtigt. Der Maßstab für alle Definition von Leben wird an unserer Selbsterfahrung als lebendige Wesen gewonnen. Wir gehen davon aus, dass andere Wesen lebendig sind analog zu dieser unserer Selbsterfahrung.
Lebendigsein ist dabei bis herunter in eine unbestimmbare Grauzone mit der Unterstellung dieser Selbsterfahrung verbunden. Die unwissenschaftliche Erfahrung unserer selbst ist also die leitende heuristische Größe bei der Definition von Leben.
Auch der Versuch, chemische Prozesse zu finden, die allen Lebewesen quasi konstitutiv zu eigen sind, wird an dem oben erwähnten phänomenologisch gewonnenen Vorverständnis von Leben „geeicht“. Aus der Biochemie selbst können Sie dagegen überhaupt keine Maßstäbe für Leben oder Nicht-Leben gewinnen, da Sie ja, wenn Sie nur nah genug rangehen, nichts anderes finden als eben ganz reguläre chemische Prozesse. Damit ist nichts anderes ausgedrückt, als dass Sie an der falschen Stelle nach einem Kriterium suchen.
Es wäre im Prinzip das Gleiche, wenn jemand fragte, ob eine bestimmte bunte Fläche ein gutes Bild ist oder nur Farbspuren, die beim Auswaschen von Pinseln zufällig entstanden sind, und man antwortete ihm: Das lässt sich nicht sinnvoll sagen, denn man kenne schließlich nur Pigmente.
@fegalo.
Dass unsere Selbsterfahrung für die Unterscheidung von ‘lebend’ und ‘nicht lebend’ von zentraler Bedeutung ist — wer würde das bestreiten wollen. Aber wie Sie ja selbst schreiben, das funktioniert nur gut, solange wir nicht näher hinsehen.
Mit gewissem Abstand betrachtet ist eine Zelle (z. B.) eine lebende Einheit (sofern sie Stoffwechsel betreibt, Energie umsetzt, usw.). Doch wenn wir uns (gedanklich) in die Zelle hinein versetzen, sehen wir nichts Lebendiges mehr, aber vieles, was sich dynamisch bewegt und verändert und hochkomplex strukturiert ist (manche würden sich vielleicht an einen Maschinenpark erinnert fühlen).
Was Sie da “Grauzone” nennen, ist in meinen Augen der spannende Übergangsbereich vom rein materiellen Geschehen zum geistigen Konstrukt “Leben”. Hier findet der Kategorienwechsel statt.
Hier wie auch sonst überall in der Natur gibt es keine scharfen Grenzen, der Übergang von lebend (also das, was wir als lebend erkennen) zu nicht lebend (also das, was wir als nicht lebend erkennen) ist fließend.
Der naive Naturalist mit seiner sparsamen Metaphysik hat mit diesem fließenden Übergang überhaupt kein Problem, für ihn ändern sich dabei nur spezifische biochemische Reaktionen.
Wem aber das Lebendige als metaphysisches Rätsel erscheint, dürfte da gewisse kategoriale Schwierigkeiten haben.
»Damit ist nichts anderes ausgedrückt, als dass Sie an der falschen Stelle nach einem Kriterium suchen.
Es wäre im Prinzip das Gleiche, wenn jemand fragte, ob eine bestimmte bunte Fläche ein gutes Bild ist oder nur Farbspuren, die beim Auswaschen von Pinseln zufällig entstanden sind, und man antwortete ihm: Das lässt sich nicht sinnvoll sagen, denn man kenne schließlich nur Pigmente. «
Das ist ein guter Vergleich. Ich sehe das im Grunde genauso. Denn tatsächlich entsteht das Bild erst im Auge des verstehenden Betrachters. Objektiv gesehen handelt es sich nur um eine spezifische Anordnung von Farbpigmenten.
@ Balanus
“Aber wie Sie ja selbst schreiben, das funktioniert nur gut, solange wir nicht näher hinsehen.“
Das schrieb ich zwar so nicht, aber dieser Satz gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass es Phänomene gibt, die den richtigen Betrachtungsabstand erfordern.
Dazu gehört zum Beispiel „Wald“, „Bild“, und offensichtlich auch „Leben“. Jeweils verschwindet es, wenn Sie zu nahe herangehen.
“Der naive Naturalist mit seiner sparsamen Metaphysik hat mit diesem fließenden Übergang überhaupt kein Problem, für ihn ändern sich dabei nur spezifische biochemische Reaktionen.“
Der naive Naturalist bekommt die Probleme, die er hier nicht zu haben glaubt, eben an anderer Stelle aufgetischt. Denn auch der naive Naturalist muss sich der Frage stellen, wie dieses eigenartige Selbstsein, welches lebendiges Dasein auszeichnet, aus der Materie erwächst, welches sich in der menschlichen Existenz sogar in der Weise des Selbstbewusstseins manifestiert. D.h.: Mit Ihrer scheinbar sparsamen Metaphysik verschieben Sie nur das Problem an eine andere Stelle. So wie Leute, die behaupten, das Leben sei aus dem All gekommen, die Frage nach der Entstehung des Lebens nur auf einen anderen Planeten verschoben haben.
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
Wie ist es, ein Schmetterling zu sein?
Wie ist es, ein Stein zu sein?
Stimmen Sie zu, dass es sich wohl irgendwie anfühlen muss, eine Fledermaus oder ein Schmetterling zu sein, aber nicht, ein Stein zu sein? Kann Ihr wunderbar sparsamer Naturalismus/Materialismus diesen Unterschied darstellen?
“Wem aber das Lebendige als metaphysisches Rätsel erscheint, dürfte da gewisse kategoriale Schwierigkeiten haben.“
Das ist ganz richtig, doch ich glaube, er hat sie an genau der Stelle, wo sie sich auch befinden, nämlich an der Scheide zwischen Belebten und Unbelebten, und nicht erst irgendwo anders, wenn er zum Beispiel plötzlich erklären soll, wie Biomaschinen Gefühle oder Bewusstsein entwickeln.
Auch die Antwort die Frage, wo sich die Probleme überhaupt stellen, und wo sie richtig lokalisiert sind, setzt den richtigen Abstand zum fraglichen Phänomen voraus.
@ Balanus: Selbstbeschau
“Dass unsere Selbsterfahrung für die Unterscheidung von ‘lebend’ und ‘nicht lebend’ von zentraler Bedeutung ist — wer würde das bestreiten wollen.”
Ich.
Dass unsere Begriffsbildung “leben” mal aus einer Selbsterfahrung und dem Wunsch nach Abgrenzung zu anderen Entitäten entsprungen ist, bestreite ich nicht, das Selbsterfahrung heute noch von zentraler Bedeutung ist, das schon. Heute scheint mir in den Wissenschaften eher der Begriff der “genetischen Vererbung” eine zentrale Bedeutung zu haben.
Wie Menschen durch kontemplative Selbstbetrachtungen zu Erfahrungen gelangen könnten, die in der Genetik enden, übersteigt meine Vorstellungskraft und Phantasie.
@ fegalo: Grenzfragen
“Wie ist es, ein Schmetterling zu sein?
Wie ist es, ein Stein zu sein?”
Ziehen sie die Grenze zwischen lebend und nicht lebend an einer anderen Stelle als Biologen?
Wie ist es, ein Bakterium zu sein?
Meinen sie, einem Bakterium wäre phänomenales Erleben möglich, Gefühl oder Bewusstsein, ähnlich dem eines Schmetterlings oder einer Fledermaus?
Zu der Bildmetapher habe ich auch noch eine Frage. Sie sagen:
“[…] „Bild“, und offensichtlich auch „Leben“. Jeweils verschwindet es, wenn Sie zu nahe herangehen.”
Vermuten sie daher, dass die Pigmente eines Bildes durch metaphysische Kräfte verbunden sind? Wenn nein, warum vermuten sie dies beim “Leben”?
Systemeigenschaften /@fegalo
»Das schrieb ich zwar so nicht, aber dieser Satz gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass es Phänomene gibt, die den richtigen Betrachtungsabstand erfordern.
Dazu gehört zum Beispiel „Wald“, „Bild“, und offensichtlich auch „Leben“. Jeweils verschwindet es, wenn Sie zu nahe herangehen. «
Völlig richtig! Und daraus ziehe ich den Schluss, dass das Zusammenwirken vieler Teile neue Eigenschaften hervorbringen kann. Das fängt ganz unten auf der subatomaren Ebene an und hört im Falle lebender Organismen irgendwo oberhalb des Bewusstseins (Sozialverband, Biosphäre) auf. Auch bei dieser Betrachtungsweise gibt es keinen kategorialen Bruch beim Wechsel von einer Betrachtungsebene auf die nächste.
Wenn wir zum Beispiel oben beim Menschen beginnen, dann verschwinden die Eigenschaften des Menschen, wenn wir die einzelnen Organe betrachten. Die Eigenschaften der Organe verschwinden, wenn wir die einzelnen Zellverbände betrachten, und deren Eigenschaften verschwinden, wenn … und so weiter und so fort, bis wir am Ende bei den rätselhaften Quanten angekommen sind. Dann ist für uns (Naturwissenschaftler) erstmal Schluss.
So, wie die einzelnen Bäume in der Summe die Eigenschaften des Waldes bestimmen, so bestimmen die neuronalen Netze die Gefühlswelt der jeweiligen Organismen. Der Sprung von den Eigenschaften der vernetzten Nervenzellen zu den Eigenschaften des Gehirns (Gefühle, Empfindungen, Bewusstsein) ist natürlich gewaltig, aber wozu sonst bräuchten wir ein zentrales Nervensystem?
Selbst wenn wir wüssten, was alles genau im Gehirn passiert, wenn sich ein Mensch einer Sache bewusst ist, könnten wir uns immer noch nicht anschaulich vorstellen, wie Nervenzellverbände Bewusstsein generieren, und auch nicht, wie es ist, ein Eichhörnchen zu sein.
@ Balanus: Voreingenommenheit
Und darin äußert sich gerade deine Voreingenommenheit: Auch ohne das Wissen um die Lebensprozesse glaubst du ganz fest daran, dass es nur biochemische/physikalische sind, während ich sage: Lasst uns doch erst einmal die Lebensprozesse vollständig aufdecken und dann werden wir schon wissen, welcher Natur sie sind.
Wissen und Glauben /@Stephan
»Und darin äußert sich gerade deine Voreingenommenheit: Auch ohne das Wissen um die Lebensprozesse glaubst du ganz fest daran, dass es nur biochemische/physikalische sind, …«
Das ist natürlich kein Glaube und auch keine Voreingenommenheit, sondern eine vernunftbegründete, hochplausible Annahme. Alles bisher Gefundene stärkt diese Annahme.
Aber wer weiß, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde… 😉
@ Balanus: Offenbarung
Sagen natürlich alle, die felsenfest von ihrem Glauben überzeugt sind. Verbum domini lucerna pedibus nostris.
Amen.
(Und wenn ich dir viel schenke, dann läuft es aufs Induktionsprinzip hinaus. Viel Spaß mit deinen weißen Schwänen, bis du den ersten schwarzen findest. Den taufst du dann bitte “Stephan”.)
»Sagen natürlich alle, die felsenfest von ihrem Glauben überzeugt sind. «
Die einen können für ihre Annahmen objektive Befunde aufführen, die anderen nicht.
@ Balanus: ad Objektivität
objektiv:
objective:
Da jedes wahrnehmende Etwas ein Subjekt ist, einschließlich der Wissenschaftler, können wir “Objektivität” bestenfalls annähern aber nicht erreichen. Ich ziehe es daher vor, auf den Begriff völlig zu verzichten und stattdessen von “Intersubjektivität” zu sprechen.
Zur weiteren Literatur sei hier noch dieser Lexikonartikel über Objektivität empfohlen.
Induktion
Der eine schließt aus dem Erfolg kausaler Erklärungen, dass sich auch alle noch nicht erforschten Phänomene kausal erklären ließen.
Der andere schließt aus dem Misserfolg kausaler Erklärungen (es bleiben ja immer unerklärte Phänomene), dass sich nicht alles Phänomene kausal erklären ließen.
Unlogisches schließen (Induktion) scheint fester Bestandteil rationalen Denkens zu sein.
Ich schlage vor, wir verbessern die Logik und suspendieren für diesen Fall das Prinzip “Tertium non datur”. So können am Ende beide recht behalten.
Wir könnten die Metaphysik auch so betreiben, wie sie uns dankenswerterweise von Borges beschrieben wird. Er berichtet, in einer sehr lesenswerten Erzählung, vom Planeten Tlön:
“Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen.”
(“Tlön, Uqbar, Orbis Tertius”, Jorge Luis Borges, vollst. Text: http://www.khm.de/~flw/borges.html )
Dadurch würden auch die Vitalisten verständlich, die in einigen bestehenden Erklärungslücken metaphysische Kräfte am Wirken sehen, in anderen Lücken aber nicht.
Intersubjektivität
Wir können das Kind nennen wie wir wollen, das ändert nichts am Kind als solchem. Dass nämlich ein objektiver/intersubjektiver Befund eine andere Qualität hat, als ein rein subjektiver (vorbeugend: was nicht ausschließt, dass die Mehrheit irren und der Einzelne richtig liegen kann).
»Lasst uns doch erst einmal die Lebensprozesse vollständig aufdecken und dann werden wir schon wissen, welcher Natur sie sind. «
Wir können natürlich bis zum St. Nimmerleinstag auf Vollständigkeit warten, bevor wir eine Aussage über die wahrscheinliche* (oder dann endlich absolut sichere?) Natur der Lebensprozesse machen.
Wir können aber auch bereits heute, basierend auf dem vorhandenen Wissen (vorausgesetzt, so etwas gibt es) mal darüber nachdenken, welcher Natur die Lebensprozesse sein könnten. Zum Beispiel, wie es kommt, dass sie ganz offensichtlich auf biochemische Prozesse angewiesen sind (Hmm, andererseits, wer sagt denn, dass der Citratzyklus, nur so als Beispiel, wirklich ein rein biochemischer Vorgang ist und nicht seinerseits von grundlegenden Lebensprozessen abhängt? Schwierig, schwierig…).
Nachtrag
*das habe ich extra noch einmal für Dich eingefügt, da Du offenbar diese Selbstverständlichkeit immer wieder aus dem Blick verlierst 😉
Balanus: Sprachunterschiede
Aha. Es ist also sehr wohl ein Unterschied, ob es hier um eine Erklärung geht, die du und die Mehrheit der gegenwärtigen scientific community für die wahrscheinlichste hältst, oder um eine “objektiv wahre”.
Vielleicht ist das für dich nur eine Begriffsspielerei aber für mich (und ich würde sagen für die Mehrheit der Wissenschaftstheoretiker und -philosophen sowie theoretisch interessierter Wissenschaftler) ist das ein bedeutender Unterschied.
Warum behauptest du eigentlich immer erst etwas, um dann, wenn man die Unmöglichkeit dieser Behauptung nachweist, etwas anderes zu behaupten aber gleichzeitig zu behaupten, eigentlich habest du dasselbe schon am Anfang behauptet?
Würde bitte einmal jemand deine Programmierung nachbessern? 😉
Ein Beitrag zur Relevanzdebatte
In dem von dir verlinkten Artikel, von Kirschner et al., steht gleich im ersten Absatz:
“Vitalism was progressively undermined […] by Pasteur’s inability to demonstrate spontaneous generation (1862) […]”
Dort wird in dem gescheiterten Versuch von Pasteur, Leben spontan entstehen zu lassen, ein Indiz gesehen, dass gegen den Vitalisums spricht.
Hier, in deinem Blog, wird dies als ein Indiz gegen den Naturalismus angesehen:
“was ich nicht erzeugen kann, das habe ich nicht verstanden”
Wir sollten @Balanus beipflichten:
“Caplan irrt vor allem in der Annahme, naturwissenschaftliche Befunde hätten irgendeine Relevanz für metaphysische Annahmen.”
“Deshalb würde es auch gar nichts bringen, wenn es gelänge, eine lebende Zelle im Labor komplett synthetisch herzustellen.”
@ Joker: mehr als “nur Induktion”
Es ist doch ein bedeutender logischer Unterschied, ob ich
A) aus der Beobachtung B1..B100 schließe, dass sich auch B101 wie die ersten 100 Bs verhält; oder
B) aus der Beobachtung, dass ich B101 bisher noch nicht in die Reihe von B1..B100 einordnen kann schließe, dass B101 bei gegenwärtigem Kenntnisstand nicht als Teil der Klasse B1..B100 angesehen werden kann.
A) ist Induktion; B) meines Erachtens eine logische Notwendigkeit oder zumindest eine intellektuelle Redlichkeit.
Deine Analyse ist daher meiner Meinung nach falsch.
@ Joker
Nein, auch das ist meines Erachtens falsch: Ich schließe doch nicht aus dem Erfolg der synthese von Organischem aus Nichtorganischem auf den Misserfolg des Naturalismus!
Bitte, das habe ich mir nicht zu eigen gemacht, sondern als verbreitetes Mantra zitiert, das meiner Meinung nach Menschen, die ähnlich argumentieren wie Balanus, häufig vor sich her beten.
@ Joker
“Ziehen sie die Grenze zwischen lebend und nicht lebend an einer anderen Stelle als Biologen?
Vermutlich nicht, zumindest ist das nicht mein Anliegen. Ich will die Grenze nämlich gar nicht selbst definieren, sondern habe nur dargelegt, dass jegliche Definition von Leben sich daran misst, ob sie extensional gleich ist mit dem, was wir intuitiv aus unserer Selbsterfahrung heraus als lebendig bezeichnen.
Dass dies so ist, lässt sich schön an einer Liste erkennen, die ich in einem Aufsatz von Georg Toepfer gefunden habe („Der Begriff des Lebens“, in: Krohs, Toepfer, Philosophie der Biologie, stw 2005), wo dieser 24 verschiedene Listen verschiedener Denker und Biologen von konstitutiven Merkmalen lebendiger Organismen zusammengestellt hat. Die Listen enthalten zwischen 3 und 8 Merkmale, insgesamt weit über 40 verschiedene. Doch alle müssen entwickelt worden sein anhand dessen, was man immer schon als lebendig erkannt hat.
“Wie ist es, ein Bakterium zu sein?
Meinen sie, einem Bakterium wäre phänomenales Erleben möglich, Gefühl oder Bewusstsein, ähnlich dem eines Schmetterlings oder einer Fledermaus?“
Sobald ein Bakterium über Wahrnehmung verfügt, in welch rudimentärer oder dumpfer Weise auch immer, ist es auch irgendwie, ein Bakterium zu sein. Ich stelle mir es aber nicht sehr aufregend vor. Bewusstsein wird vermutlich nicht dabei sein.
“Vermuten sie daher, dass die Pigmente eines Bildes durch metaphysische Kräfte verbunden sind? Wenn nein, warum vermuten sie dies beim “Leben”?
Ein Bild ist kein Wesen, das von sich selbst her eine Einheit darstellt, sondern diese Einheit wird gestiftet durch den Maler und in zweiter Instanz durch den Betrachter. Das Lebewesen ist dagegen eine Einheit von sich selbst her, das ist der Unterschied. Diese Einheit besteht unabhängig vom Betrachter. Beides lässt sich aber nur erkennen, wenn durch den richtigen Betrachtungsabstand das Gesamtbild erkennbar ist.
@ Joker @ Balanus
Wir sollten @Balanus beipflichten:
“Caplan irrt vor allem in der Annahme, naturwissenschaftliche Befunde hätten irgendeine Relevanz für metaphysische Annahmen.”
“Deshalb würde es auch gar nichts bringen, wenn es gelänge, eine lebende Zelle im Labor komplett synthetisch herzustellen.”
Doch, das würde eine Menge bringen. Es würde den Materialismus entscheidend bestätigen. Oder zumindest würde es bestätigen, dass der Materialismus ausreicht, die Welt zu beschreiben.
Materialisten könnten dann mit den Schultern zucken, wenn jemand mit dem Argument käme, dass die metaphysischen Prinzipien schon in der Materie eingebaut sein müssten…
Also formuliere ich das Kriterium für die Widerlegung des Vitalismus folgendermaßen: Wenn es gelingt, lebendige Organismen zu erzeugen durch den Zusammenbau toter Materie, ohne Einschluss lebender Substanz, dann ist der Vitalismus widerlegt, und der Materialismus hat recht.
@Balanus
»So, wie die einzelnen Bäume in der Summe die Eigenschaften des Waldes bestimmen, so bestimmen die neuronalen Netze die Gefühlswelt der jeweiligen Organismen.«
Hier ist Ihnen aber schon klar, dass dieser Satz nicht mehr sein kann als ein Glaubensbekenntnis zum Reduktionismus, oder?
Egal wie plausibel Ihre Behauptung auch erscheinen mag — es ist in keinem Fall plausibel, nur unter Berufung auf Plausibilität die Existenz einer reduktionistischen Regel zu unterstellen, mit der sich alle Aussagen über den Wald in Aussagen über Bäume übersetzen lassen.
Mit allfälligen metaphysischen Waldgeistern hat das im übrigen alles nichts zu tun 😉
@fegalo
»Also formuliere ich das Kriterium für die Widerlegung des Vitalismus folgendermaßen: Wenn es gelingt, lebendige Organismen zu erzeugen durch den Zusammenbau toter Materie, ohne Einschluss lebender Substanz, dann ist der Vitalismus widerlegt, und der Materialismus hat recht. «
Wenn der Lebensgeist im Falle des Zelltodes einfach verlöschen oder sonstwie verschwinden kann, warum soll er dann nicht auch einfach Einzug halten können, nachdem alle zellulären Strukturen ordentlich zusammengefügt wurden?
(Ähnliches geschieht ja wohl bei der Beseelung menschlicher Embryonen)
@Chrys
»Hier ist Ihnen aber schon klar, dass dieser Satz nicht mehr sein kann als ein Glaubensbekenntnis zum Reduktionismus, oder? «
Nun ja, klar ist mir, dass zu einem ordentlichen Wald mehr gehört als eine hinreichend große Anzahl Bäume.
Ist es tatsächlich ein reduktionistisches Glaubensbekenntnis, wenn ich sage, die Eigenschaften eines Waldes (in einer bestimmten Region, zu einer bestimmten Zeit) werden bestimmt durch die Gesamtheit aller Komponenten dieses Waldes?
(Wenn ja, auch gut, an irgend etwas muss der Mensch schließlich glauben 😉 )
@ Balanus
“Wenn der Lebensgeist im Falle des Zelltodes einfach verlöschen oder sonstwie verschwinden kann, warum soll er dann nicht auch einfach Einzug halten können, nachdem alle zellulären Strukturen ordentlich zusammengefügt wurden?”
Zunächst: Die Tatsache, dass das Leben endet (Tod) lässt keinerlei Umkehrschlüsse auf die Bedingungen seines Entstehens zu.
Die eigentliche Frage aber müssten doch Sie selbst beantworten oder die hoffnungsvollen Bioingenieure, die derzeit versuchen, lebendige Zellen aus toter Materie herzustellen. Warum soll ich mit Ihnen streiten, wenn die Sache doch praktisch entschieden wird? Warten wir doch ab! Würden Sie eine Wette annehmen? Ich biete Ihnen eine an. Den Einsatz dürfen Sie bestimmen.
@Balanus
»an irgend etwas muss der Mensch schließlich glauben 😉«
Ja, das glaub’ ich auch 😉
Doch speziell zum Reduktionismus. Der Versuch einer Wald/Baum Reduktion wird sicherlich nicht daran scheitern, weil sich eine konkrete Stelle im Wald finden liesse, wo es “nicht mit rechten Dingen zugeht”. Aber ein Wald wirkt auf sich selbst, indem er globale Bedingungen schafft für das Leben seiner Bäume. Er organisiert sich selbst in einem rekursiven Prozess, wo lokale und globale Faktoren sich wechselseitig beeinflussen und kompliziert miteinander verflochten sind. Es wird sich dann nicht mehr generell entscheiden lassen, ob ein bestimmtes Phänomen im Wald bedingt wird nur durch das lokale Vorhandensein von Bäumen, oder nicht vielmehr durch den Umstand, dass diese Bäume bereits global einen Wald konstituieren. Zwischen Ursachen und Wirkungen ist dann nicht mehr klar zu trennen, das eine bewirkt das andere, und man kommt auf dem Wege der Reduktion nicht voran — obwohl alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
@fegalo
»Warum soll ich mit Ihnen streiten, wenn die Sache doch praktisch entschieden wird? «
Meine vorherige Frage zielte darauf, dass die Sache eigentlich schon entschieden ist: Bei der Biogenese vor rund vier Milliarden Jahren ist “Leben” aus toten Substanzen entstanden. Entweder hat da ein Gott seine Finger im Spiel gehabt, oder es gibt ein universelles geistiges Prinzip, das Gebilden mit bestimmten komplexen Strukturen “Leben” einhaucht, oder es ging einfach nur naturgesetzlich vonstatten, mit der Folge, dass der Begriff “Leben” lediglich eine bestimmte Form von kompliziert vernetzten, energieabhängigen, zirkulären, sich selbst erhaltenden biochemischen Reaktionen bezeichnet.
Warum also sollte, wenn wir die Geschichte im Labor wiederholen könnten, dabei eine neue (metaphysische?) Erkenntnis über die “wahre Natur des Lebens” herauskommen? Damit wäre doch nur bewiesen, dass wir die Strukturen des Lebens nachbauen können und dass man dazu nichts weiter braucht als tote Substanzen und gewisse technische Fertigkeiten.
Und ich wette, dass überzeugte Vitalisten durch keine Labortechnik der Welt von ihren Überzeugungen abzubringen sind. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass bei labortechnisch erzeugten, stoffwechselaktiven Zellen dann behauptet würde, das sei gar kein echtes, wahres Leben, sondern bloß ein kompliziertes biochemisches Gebilde, das wahres Leben nachahme.
@Chrys
Ihre treffenden Ausführungen zum System Wald widersprechen aber doch gar nicht meiner Aussage, dass die Eigenschaften der Komponenten des Waldes bestimmen, welche Eigenschaften der Wald als Ganzes hat. Die von Ihnen aufgeführten Rückwirkungen und zirkulären Kausalitäten sind ja generell kennzeichnend für biologische Systeme. Und ich sage ja nicht, dass ich von den Eigenschaften des Waldes rückschließen kann auf die Eigenschaften aller seiner Komponenten (zumindest nicht vollständig). Das wäre doch erst wirklich reduktionistisch gedacht, oder nicht?
@ fegalo: Meine Überzeugung
“Also formuliere ich das Kriterium für die Widerlegung des Vitalismus folgendermaßen:”
Was sie im folgenden als Kriterium angeben, ist kein Kriterium zur Widerlegung des Vitalismus, es ist ein Kriterium, wann sie persönlich bereit sind ihre Überzeugungen zu ändern, wann sie – und erst mal nur sie – ihren Glauben an den Vitalismus aufgeben.
Das ist es, was Experiment leisten: Sie können nichts beweisen (klassische Meinung), sie können auch nichts widerlegen (Popper), sie beeinflussen nur unsere Überzeugungen (Joker und andere).
@ Joker
Das ist es, was Experiment leisten: (…) sie beeinflussen nur unsere Überzeugungen (Joker und andere).“
Das stimmt insofern, als reale Menschen sich nicht den Rationalitätsstandards unterwerfen, die sie selbst propagieren.
Außerdem: Ein Argument, ein experimentelles Ergebnis etc. trifft naturgemäß immer auf einen Horizont dessen, was zuvor zugestanden wurde. Insofern wirkt es immer nur ad hominem.
@Balanus
Ein logischer Fallstrick lauert immer dort, wo das Wort “alle” mit einer potentiell unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten kombiniert wird.
Lassen sich alle Aussagen über den Wald als Aussagen über Bäume umformulieren?
Lassen sich alle Statements der Biologie im Formalismus von Chemie/Physik ausdrücken?
Lassen sich alle Sätze über reelle Zahlen als Sätze über dezimale Ziffernfolgen interpretieren?
Die dritte Frage ist die simpelste, und sie lässt sich definitiv beantworten: Nein. Bei früherer Gelegenheit hatte ich wohl bereits erwähnt, dass nach der Argumentation von Stuart Kauffman dann auch die Antwort auf die zweite Frage nur Nein lauten kann. Wie würden Sie nun, im Lichte dieser Vorgaben, die erste Frage beantworten?
Eine Reduktion wäre nach meinem Verständnis dort erreicht, wo man eine Frage der vorgezeigten Art mit Ja beantworten kann.
Das Dilemma des Reduktionismus im empirischen Bereich liegt sicher nicht zuletzt auch darin, dass er selbst dort alle, wirklich alle möglichen Fälle zu erledigen hofft, wo der jeweils aktuelle Erkenntnisstand nur einen unvollständigen Einblick in die Plethora von möglichen Fällen erlaubt.
@ Stephan: Induktion weitergeführt
“Deine Analyse ist daher meiner Meinung nach falsch.”
Falsch wäre es auf jeden Fall, meinen Beitrag zur Induktion als eine vollständige Analyse eures Disputs aufzufassen, dem zwischen dir und @Balanus. Ich soll mich ja kurz fassen, daher habe ich erst mal nur einen Aspekt behandelt.
Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hältst du nicht viel von der Induktion. So interpretiere ich zumindest deinen Hinweis auf den Schwan “Stephan”. Ich glaube hingegen, Induktion ist unverzichtbar und sie hat zu unrecht einen schlechten Ruf.
Ich wollte zunächst nur die extremst möglichen Positionen beschreiben, was man generell aus Experimenten induktiv schließen kann. Wobei die erste Position vielleicht sogar von @Balanus mitgetragen wird. Von mir ist bekannt, dass ich beide Induktionsschlüße verwende (Joker im Kartenspiel stehen ja auch für alle möglichen Werte). Die erste Art der Argumentation (Kausale Erklärung funktioniert) benutze ich weil die naturwissenschaftliche Methode der Welterklärung so erfolgreich ist, sie läuft auf den metaphysischen Determinismus hinaus; die zweite Art (Kausale Erklärung ist unvollständig) benutze ich, um – nicht zuletzt mir selbst – die epistemische Nicht-Abgeschlossenheit des Universums plausibel zu machen.
In “Aufklärung und Kritik” haben Hans Albert und Norbert Hoerster eine interessante Diskussion über das Thema Induktion geführt (speziell in Bezug auf den kritischen Rationalismus). Sie erstreckt sich über die Hefte 34, 36 und 38 und ist im Internet vollständig verfügbar. Die 6 pdf-Dateien (insgesamt nur 16 Seiten) findet man unter http://www.gkpn.de/AUKALLE.HTM
Meines Erachtens hat Norbert Hoerster die überzeugenderen Argumente auf seiner Seite und ich stimme ihm daher zu: “So oder So. Auf Induktion verzichtet niemand”. Selbst die kritischsten Rationalisten kommen nicht an ihr vorbei.
@ Stephan: Kategorienfehler
” [Es ist ein Unterschied ob ich A) … schließe … oder] B) aus der Beobachtung, dass ich B101 bisher noch nicht in die Reihe von B1..B100 einordnen kann schließe, dass B101 bei gegenwärtigem Kenntnisstand nicht als Teil der Klasse B1..B100 angesehen werden kann.”
Dem stimme ich zu. Wo ich (und wohl auch @Balanus) ein Problem sieht, ist dass du anscheinend zweimal eine Kategorisierung durchführst. Die erste Kategorisierung ist die, zu Unterscheiden zwischen gelösten und ungelösten Problemen. Die zweite ist die Unterscheidung, und nur an der stoße ich mich, die ungelösten Probleme noch mal in solche einzuteilen, die eventuell nur mittels metaphysischer Kräfte erklärt werden könnten und solche bei denen von vorneherein die Vermutung besteht, sie könnten ohne diese Kräfte erklärt werden.
Es gibt in der Physik, Chemie, Soziologie – halt, selbstverständlich in jeder Wissenschaft eine Vielzahl ungelöster Probleme. Hier ad hoc eine Kraft einzuführen, wie der Vitalismus dies tut, die Lebenskraft, “elan vital” oder wie immer man das nennen mag, um das “Problem des Lebens” von den anderen Problemen abzugrenzen und auszuzeichnen, das ist das Unredliche.
@ Joker
“Es gibt in der Physik, Chemie, Soziologie – halt, selbstverständlich in jeder Wissenschaft eine Vielzahl ungelöster Probleme. Hier ad hoc eine Kraft einzuführen, wie der Vitalismus dies tut, die Lebenskraft, “elan vital” oder wie immer man das nennen mag, um das “Problem des Lebens” von den anderen Problemen abzugrenzen und auszuzeichnen, das ist das Unredliche.“
Unredlich? Das scheint mir doch weit hergeholt.
Vielleicht muss man ab und zu daran erinnern, dass der Materialismus nicht auf der Hand liegt, noch jemals lag, oder eine Art allgemein anerkannter oder ursprünglicher Intuition oder Interpretation der Welt darstellt, wodurch ein vitales Prinzip auch nicht einfach als eine Ad-Hoc- Zusatzeinführung abqualifiziert werden kann.
Ich würde den Vitalismus eher als ein (vielleicht nicht sehr glückliches) Korrektiv zu einem historisch mächtigen Strom des Materialismus sehen. Der Vitalismus entstand im Gegenzug zur Ausformulierung eines metaphysischen Materialismus. Er lässt sich dabei ziemlich weit auf die metaphysischen Vorgaben des Materialismus ein, insofern er nämlich anerkennt, dass Materie eigenständige Substanz ist und eigenen Gesetzen untersteht, und versucht, das deutliche Ungenügen der rein materialistischen Betrachtungsweise in Hinsicht auf Lebendiges zu korrigieren.
Daran ist zunächst weder etwas Unredliches, noch Ehrenrühriges, noch ist es ein Verstoß gegen Occams Rasiermesser, denn dieses beinhaltet ja die Bedingung „sine necessitate“, welcher Fall (necessitas) dem Vitalisten durchaus gegeben scheint. (Es spricht ja umgekehrt auch nichts dagegen, unter Verzicht auf ein aktives Prinzip die Natur als passiven Apparat verstehen zu wollen, aber das ist eben nur ein möglicher programmatischer Ansatz unter vielen, ohne das er eine besondere Redlichkeit für sich reklamieren könnte.)
Ein Vitalismus hat vielmehr mit dem ganz anderen Problem zu kämpfen, dass sich ein behauptetes aktives Prinzip, wie auch immer es gefasst sein mag, der Überprüfung durch die herrschende naturwissenschaftliche Methodik entzieht. Dieses Schicksal teilt es mit „Geist“ oder „Bewusstsein“. Der Vitalismus ist daher nicht naturwissenschaftsfähig, oder genauer, er wäre es nur dann, wenn er sein spezifisches Prinzip als physikalisch messbare Größe postuliert. Genau in dieser Form ist er ja gescheitert.
Als Kritiker des Materialismus sehe ich daher auch keine Lösung darin, diesem durch ein ergänzendes vitalistisches Prinzip zur Wahrheit zu verhelfen, denn es für mich kann es nur darum gehen, die gesamte Metaphysik des Materialismus zu überwinden. Dann braucht man auch keinen Vitalismus mehr.
@ Joker: Klärungen und Erklärungen
Wie jedes Schlussverfahren, denke ich, hat auch die Induktion ihren Platz – das lernen und lehren wir nicht zuletzt in den Sozialwissenschaften.
Im hier vorliegenden Fall haben wir es aber mit einer ganz heiklen Form der Induktion zu tun: Erstens werden Schlüsse aus einem Bereich auf einen neuen übertragen; spätestens wenn wir bei Gehirn und Geist ankommen, halte ich das für sehr naiv, denn woher sollen wir denn wissen, dass hier nicht neue natürliche und kultürliche Prinzipien ins Spiel kommen?!
Zweitens werden die Schlüsse so weit überspannt, um damit philosophische Thesen zu beweisen (die des Naturalismus: alles lässt sich naturwissenschaftlich erklären; die des Determinismus: jeder Zustand des Universums folgt eindeutig aus dem vorzustand und Naturgesetzen). Dein folgendes Zitat finde ich entlarvend:
Erstens ist es nicht überraschend, dass Wissenschaft erfolgreich ist, da Wissenschaft ein Erfolge selektierendes System ist (s. Bas van Fraassen).
Zweitens, wenn man nun genauer hinschaut, kann (und sollte) man darüber streiten, wie erfolgreich die Naturwissenschaften wirklich sind. Abhängig davon, was man unter “Erklärung” oder “Reduktion” versteht, lassen sich erstaunlich wenige Beispiele für vollständige Erklärungen bzw. Reduktionen finden. Meiner Erfahrung nach lernen wir durch wissenschaftliches Arbeiten vor allem, wie viel wir eigentlich noch nicht wissen. Das war für mich ganz persönlich der Grund, wieder auf die theoretische Seite zu wechseln und darüber nachzudenken, warum das eigentlich so schwierig ist.
Drittens schlägt das auch auf die Determinismusdebatte durch, auf die du hier anspielst. Die Welt erscheint uns nämlich auf förmlich jeder Ebene indeterministisch. Messungenauigkeiten, Komplexität, thermisches Rauschen, vielleicht echter Zufall – das alles wird freilich unter den Teppich gekehrt, wenn man vergisst, dass man permanent statistische Methoden zur Beschreibung der Welt anwendet; Methoden, die eben nur über den Daumen gepeilt Aussagen erlauben.
Es ist mir, viertens, ein Rätsel, wie du daraus schlussfolgern kannst, alles laufe auf einen Determinismus hinaus, wenn förmlich jede “Determinante”, die irgendjemand findet, immer mit einer Indeterminanten einhergeht; keine Vorhersage, keine Korrelation, keine Erklärung ist perfekt – es gibt immer einen Spielraum und damit einen Raum für Indeterminismus.
Wenn die Welt uns permanent indeterministisch erscheint, dann gehört schon sehr viel Weltverleugnung hinzu, dem Determinismus anzuhängen.
Fünftens ist der philosophische/metaphysische Determinismus darauf angewiesen, dass wirklich jedes Ereignis im Universum vollständig und eindeutig festgelegt ist. Selbst wenn wir einmal die komplette moderne Physik ignorieren, wie du es für deine Haltung tun müsstest, werden wir aus praktischen Beschränkungen heraus nie die nötigen Messungen durchführen können, um diese These zu beweisen.
Empiriker sollen ruhig nach Determinanten suchen und ihre Theorien verbessern; aber wirf doch endlich mal deinen überflüssigen, empirisch unrealistischen und irrationalen philosophischen Ballast über Bord.
@ Joker, @ alle: Metaphysik
Hier empfehle ich ebenfalls, das noch einmal neu zu überdenken: Auch der Planet Vulcan oder der Äther wurden einst theoretisch angenommen und nach späteren empirischen Untersuchungen wieder verworfen. Das passiert ständig und in den heutigen Wissenschaften finden sich ebenso zahlreiche Beispiele für Entitäten, die man annimmt, um damit bestimmte Theorien zu retten (die Psychologie ist voll davon; man werfe aber auch mal einen Blick auf die theoretische Physik).
Wenn der Vitalist uns von seiner Position überzeugen soll, dann muss er dafür positive Gründe formulieren; das habe ich hier schon einmal geschrieben. Wenn er das nicht kann, dann spricht wenig für seine Position.
Mir geht es nicht darum, aus einer Erklärungslücke die Existenz einer neuen Entität abzuleiten; das habe ich auch deutlich geschrieben. Dass die Erklärungslücke besteht, und zwar schon ziemlich lang, ebenso wie viele andere Erklärungslücken, das ist aber eben ein Problem für denjenigen, der behauptet, die Naturwissenschaften könnten alles erklären. Können sie nämlich nicht.
@ Stephan: Ironische Wissenschaft
Ich bin mir nicht sicher ob du mir überhaupt an einer einzigen Stelle widersprichst. Du scheinst mich aber an einigen Stellen nicht ganz richtig zu verstehen.
“… die Naturwissenschaften könnten alles erklären. Können sie nämlich nicht.”
d’accord
“… in den heutigen Wissenschaften finden sich ebenso zahlreiche Beispiele für Entitäten, die man annimmt, um damit bestimmte Theorien zu retten (die Psychologie ist voll davon; man werfe aber auch mal einen Blick auf die theoretische Physik)”
d’accord
Es würde sich, aus meiner Sicht, für die Wissenschaften lohnen, eine Klassifikation zumindest zu versuchen, welche der angenommenen Entitäten noch im Rahmen einer echten wissenschaftlichen Theorie behandelt werden können und welche schon in den Bereich der “ironischen Wissenschaften” gehören.
(Mehr zum Begriff der “ironischen Wissenschaft”: http://de.wikipedia.org/wiki/John_Horgan#Ironische_Wissenschaft_und_Einflussangst )
Fangen wir an zu klassifizieren. Zu was gehört der Vitalismus, bzw. die von ihm postulierten Entitäten?
Vielleicht solltest du dich diesbezüglich zunächst mit @fegalo einigen. Er meint schließlich: “Ein Vitalismus [entzieht sich] der Überprüfung durch die herrschende naturwissenschaftliche Methodik [].” Wohlgemerkt entzieht er sich – laut @fegalo – der Methodik, nicht nur den aktuellen Fähigkeiten der Naturwissenschaft. Du scheinst den Vitalismus im Gegensatz dazu, für eine wissenschaftlich überprüfbare Theorie zu halten.
So oder so, halte ich den Vitalismus für eine legitime Weltanschauung. Ich bin mir nur nicht sicher ob er, im Sinne Borges, eine wahrscheinliche, vielleicht sogar wahre Theorie sein soll oder ob er nur dem Erstaunen seine Existenz verdankt.
Nur deswegen war ich so hartnäckig und bat um Erläuterung, was, im Verständnis eines Vitalisten, der Unterschied zwischen dem (noch) nicht vollständig verstandenem Phänomen “Leben” und z.B. dem ebenfalls (noch) nicht vollständig verstandenem Phänomen “Supraleitfähigkeit” sein könnte, bzw. was den Vitalisten motiviert (Psychologie!) hier einen kategorialen Unterschied zu vermuten.
@ Joker
Also da gehört schon einiges dazu, nachdem ich mir hier die Mühe mache, deinen euphorischen Determinismus und Naturalismus zu widerlegen, zu behaupten, wir würden uns eigentlich gar nicht widersprechen. 😉
Danke für den Verweis auf John Horgan, den ich mir bei Gelegenheit genauer anschauen will.
Zum Vitalismus hier jetzt ein letztes Mal von meiner Seite: Das Thema dieses Blogs war es, auf ein prominentes Missverständnis hinzuweisen und damit die Bedeutung wissenschaftlicher Kenntnis für Ethiker zu unterstreichen. Dafür war die Aussage über die Widerlegung des Vitalismus nur ein Beispiel.
Sofern es um den Vitalismus selbst geht, ist von meiner Seite mit dem Verweis auf Kirschner et al. alles gesagt – das ursprüngliche Problem, für das Vitalisten eine Antwort zu geben versuchten, ist heute noch nicht gelöst. Führende Forscher versuchen es jetzt mit den neuesten Methoden der molekularen Biologie und in einigen Jahrzehnten werden wir mehr wissen (und wahrscheinlich auch mehr wissen, was wir nicht wissen).
Wenn ihr schauen möchtet, inwiefern sich die Annahmen prominenter Vitalisten empirisch bestätigen bzw. widerlegen lassen, dann wird es Zeit, sich nicht länger im luftleeren Raum um sich selbst zu drehen, sondern endlich mit der Quellenarbeit anzufangen. Das braucht ihr hier nicht in meinem Blog zu machen aber wenn ihr mir das Ergebnis via E-Mail mitteilt, dann würde ich mich freuen.
@Stephan Schleim
Ist ja eher off-topic, aber so ganz unbeanstandet kann dies auch nicht bleiben: »Wenn die Welt uns permanent indeterministisch erscheint, dann gehört schon sehr viel Weltverleugnung hinzu, dem Determinismus anzuhängen.«
Unstrittig ist sicherlich, dass die Welt uns als weitgehend unvorhersagbar und nur sehr bedingt berechenbar erscheint. Eine solche Unvorhersagbarkeit steht aber beispielsweise keineswegs im Widerspruch zu den total deterministischen Bewegungsgleichungen der Himmelsmechanik, weshalb die Bezeichnung “indeterministisch” hier irreführend wäre. Präzise gesagt (http://en.wikipedia.org/wiki/Predictability):
Zwischen Unvorhersagbarkeit und Indeterminismus ist also klar zu unterscheiden. Es kommt aber noch besser. Auch die Quantenmechanik — vielbeschworenes Paradepferd des weltanschaulichen Indeterminismus — gestattet schliesslich eine deterministische Interpretation.
http://en.wikipedia.org/wiki/De_Broglie-Bohm_theory
Dass Determinismus und Indeterminismus zwei einander radikal ausschliessende Sichtweisen seien, wird zwar durch die Bezeichnungen sprachlich suggeriert, beschreibt jedoch die bezeichneten Sachverhalte bisweilen reichlich unzutreffend.
@ Chrys: Spekulation oder Scheinproblem
Das Argument zeigt doch, wie unglaublich stark die Determinismusthese eigentlich ist.
Wie genau klappt denn die Vorhersage der Himmelskörper überhaupt? Was ist denn mit dem Doppelspalt? Und mit dem radioaktiven Zerfall? Und mit dem Dreikörperproblem? Und wenn unsere Mathematik schon bei drei Körpern versagt, was ist dann mit den Zintillionen(?!) Körpern im Universum? Denken wir noch an die Heisenbergsche Unschärfe oder die Gödelsche Unvollständigkeit!
Jetzt bin ich mal positivistisch: Was haben wir denn, außer unserer Erfahrung? Und wenn uns die Welt ständig indeterministisch erscheint, was bleibt uns denn dann außer metaphysischer Spekulation, um Anhänger des Determinismus zu sein?
Aus positivistischer Sicht handelt es sich hier um Unsinn: Aussagen zum Determinismus scheitern regelmäßig an unserer Erfahrung und wer dennoch daran festhält (“wie die Welt ‘wirklich’ ist”), der kann genauso gut in Platons Höhle enden.
@Stephan Schleim
Die philosophische Determinismus-Debatte dreht sich tatsächlich nur um ein Scheinproblem, jedenfalls nach meiner Auffassung. Die Attribute “deterministisch” oder “indeterministisch” benennen zuvörderst Eigenschaften von abstrakten Modellen, die wir entwickelt haben, um irgendwelche Phänomene zu begreifen. Unsere Modelle sind aber in keinem Fall identisch mit dem Phänomen, zu dessen theoretischer Beschreibung sie jeweils eingeführt werden. Trotzdem neigen die Menschen offenbar immer wieder dazu, die Eigenschaften dieser Modelle als ontologische Eigenschaften der Phänomenwelt deuten zu wollen. Die Frage, ob die Welt denn nun deterministisch oder indeterministisch funktioniert, ist völliger Nonsense, weil hier Charakteristika der Modelle unzulässig übertragen werden.
Begriffe wie “deterministisch” und “indeterministisch” sind letztlich reiner Konventionalismus. Wenn die QM sowohl gemäss der Kopenhagener Deutung als auch der de Broglie-Bohm Interpretation verstanden werden kann, dann kommt man um diese Einsicht schwerlich noch herum. Im allgemeinen hängt es von der jeweiligen Fragestellung ab, ob ein deterministisches oder ein indeterministisches Modell bevorzugt wird, und insbesondere davon, welche Aspekte für diese Fragestellung als vernachlässigbar erachtet werden. Die Theoriebildung folgt dabei dem Prinzip der grösstmöglichen Einfachheit, was dann u.a. dazu führt, dass in der Himmelsmechanik keine stochastischen Differentialgleichungen vorkommen. (Unsere Regeln zur Theoriebildung sind freilich auch konventionalistisch.)
Ontologische Fragen, “wie die Welt ‘wirklich’ ist”, sind hier generell schlicht unsinnig, das sehe ich auch so. Das bringt einem nichts weiter ein als Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache holt, wie es Wittgenstein so schön formuliert hat.
@ Chrys: Metaphysik
“Die Attribute “deterministisch” oder “indeterministisch” benennen zuvörderst Eigenschaften von abstrakten Modellen”
Genau – und dann werden diese, aus der Naturwissenschaft stammenden Begriffe auch für metaphysische Modelle verwendet. In Diskussionen wird oft nicht darauf geachtet, ob der Begriff Determinismus sich noch auf das Eine bezieht, auf ein naturwissenschaftliches Modell, oder schon auf das Andere, auf eine metaphysische Spekulation.
Metaphysik hat weniger mit Physik zu tun, als viele – vermutlich allein des Namens wegen – glauben. Wir können nicht aus der Metaphysik auf die Physik schließen, obwohl das nicht wenige versuchen. Es ist genau umgekehrt, man kann aus dem, was wir erkannt haben (oder auch nicht erkannt haben), den Wissenschaften, auf das schließen, was wir NIE erkennen können, die Metaphysik.
Es ist wie bei einem Kinofilm mit offenem Ende. Es lässt sich so herrlich spekulieren, wie es wohl weitergeht. Man kann versuchen seine Spekulationen an Filmausschnitten zu belegen, man darf sich aber auch etwas ausdenken, das eine völlig unplausible Wendung zum Guten bewirkt, z.B. um selbst anschließend besser schlafen zu können (manche Drehbuchautoren zaubern so etwas schon im Film herbei, in diesem Fall heißt es dann “Deus ex machina”).
Bei der Metaphysik ist es also die Frage, was nach der Physik kommen mag. Metaphysische Deterministen und Indeterministen beziehen sich noch auf die Naturwissenschaften und ihre Modelle, eben die deterministischen und indeterministischen; Vitalisten und Religiöse zaubern lieber, erfinden Lebenskraft und Götter. Alle gemeinsam täuschen sich, wenn sie meinen, sie könnten aus ihrer Metaphysik irgendwelche sicheren (oder auch nur sinnvollen) Rückschlüsse auf die Natur ziehen und dadurch feststellen “wie die Welt ‘wirklich’ ist”.
Wer meint das Verhältnis von Physik zur Metaphysik sei so, wie das von Chemie zur Physik oder das von der Biologie zur Chemie, das Eine würde irgendwie auf dem Anderen aufbauen, der irrt. Wer gar meint, in der Metaphysik ein Fundament gefunden zu haben, auf das man sicher bauen könne, das einem sicheren Halt gewährt, der sollte mittels seiner Vernunft feststellen, dass er nur auf seine eigene Phantasie baut und sie es ist, an die er sich klammert. Das ist keine sehr stabile Konstruktion.
Das eben gesagte gilt gerade auch für den metaphysischen Deterministen. Wir sind alle am schwimmen.
Die Diskussion hier war herrlich, jetzt schwimme aber auch ich erst mal wieder zur Quellenarbeit.
“Das bringt einem nichts weiter ein als Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache holt, wie es Wittgenstein so schön formuliert hat.”
Ja, und wie er weiter meint, sei es ja gerade die Philosophie, die einem helfen kann solche Beulen zu vermeiden:
„Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“
(Philosophische Untersuchungen, §309)
Um Wittgensteins Antwort zu verstehen, muss man zunächst wissen wie ein Fliegenglas aussieht und wie es funktioniert:
http://de.wikipedia.org/wiki/Fliegenglas
Dtermininismus und Indeterminismus
@Chrys
Ganz am Rande darauf gestoßen: Sehr schön formuliert!
Der Determinismus eines Systems kann nur bei umfänglicher Systemkenntnis festgestellt werden (also: “von außen”), für den Systemteilnehmer geht diesbezüglich gar nichts. – Insofern erübrigen sich auch bestimmte philosophische Fragen, die heutzutage gerne gestellt werden, und in denen es auch um individuelle Schuld geht.
MFG
Dr. Webbaer
@ Joker
“Metaphysische Deterministen und Indeterministen beziehen sich noch auf die Naturwissenschaften und ihre Modelle, eben die deterministischen und indeterministischen;
Vitalisten und Religiöse zaubern lieber, erfinden Lebenskraft und Götter.“
Die metaphysischen Materialisten – seien sie deterministischer oder indeterministischer Konfession – zaubern auch: die Zauberkräfte heißen „Zufall“, „Emergenz“, „Selbstorganisation“, „Selektion“, um ein paar Beispiele zu nennen.
@ Dr. Webbaer: Ganz am Rande
“Der Determinismus eines Systems kann nur bei umfänglicher Systemkenntnis festgestellt werden (also: “von außen”), für den Systemteilnehmer geht diesbezüglich gar nichts.”
Ich widerspreche nur ungern (kleiner Scherz), aber hier muss ich es tun. Das ist nämlich der Irrglaube, dem auch viele Vertreter des Determinismus unterliegen. Und ich werde dann ständig ausgelacht, nur weil andere solche Behauptungen noch immer aufrechterhalten. Niemand kann, auch nicht von außen, den Determinismus eines Systems beweisen.
1) Es ist nicht möglich die Vollständigkeit der Kenntnisse über ein System nachzuweisen.
2) Es gibt kein “experiment crucis” für den Determinismus, er ist nicht falsifizierbar und damit keine wissenschaftliche Theorie.
Daher ist die Unterscheidung zwischen einem System und dessen Modell, die @ Chrys getroffen hat, die richtige. Bei einem Modell kann man sagen, ob es deterministisch ist oder nicht, man sehe sich einfach die Gleichungen und Formeln an, mit denen das Modell beschrieben wird; bei jeglichem System – Ignorabimus.
Zwischenbericht
Man könnte ja fast glauben, dass wir hier langsam so etwas wie einen Konsens gefunden haben – Balanus hat sich auch schon länger nicht mehr geäußert. 😉
bewiesener Joker
Je nachdem, was man unter “Beweis” versteht, gibt es das auch nur in der Logik und Mathematik.
Chris zitierte hier kürzlich noch:
Ich würde sagen, wenn man das Verhalten eines Systems mithilfe eines deterministischen Modells perfekt Vorhersagen kann (weiß jemand ein Beispiel? “perfekt”, hehe), dann hat man gute Gründe für die Annahme, dass es sich dabei um ein deterministisches System handelt – wahrscheinlich die besten, die man überhaupt haben kann.
Freilich ist damit nichts darüber gesagt, wie das System ‘wirklich’ ist, aber darüber sollten wir vielleicht auch einfach schweigen.
@Joker / Dilemma
Wer im Fliegenglas sitzt, findet irgendwo festen Halt, aber wenig Erkenntnis.
Wer draussen umherirrt, findet mehr Erkenntnis, aber nirgendwo festen Halt.
Systeme
Man kann Systeme auch betreiben, lieber Joker, dann wären implementiertes Modell und System identisch, dann könnte “von außen” die Determiniertheit wahlfrei festgestellt werden. Das war gemeint.
Ansonsten natürlich gerne volle Zustimmung, die politischen Debatten über den (In-)Deterterminismus dieser Welt sind ja sowas von .-.-.-.
MFG
Dr. Webbaer
@ Chrys: Frohe Kunde
“Wer im Fliegenglas sitzt, findet irgendwo festen Halt, aber wenig Erkenntnis.
Wer draussen umherirrt, findet mehr Erkenntnis, aber nirgendwo festen Halt.”
Eine längere Analyse (begonnen um 1784) hat zu dem Ergebnis geführt, es handelt sich hierbei um gar kein Dilemma.
Die Angst nirgendwo Halt zu finden ist unbegründet. Sie lässt sich – mit Freud – aus Unterbewusstem, aus verdrängten traumatischen Kindheitserlebnissen, erklären. Diese Angst lässt sich behandeln und zum Verschwinden bringen. Es ist zwar richtig, dass es keinen absoluten Halt gibt, man hat aber auch festgestellt, der vernünftige Mensch ist so beschaffen, dass er keinen absoluten Halt benötigt. Die flüchtige Stabilität, sich ständig verändernder sozialer Bindungen, ist vollkommen ausreichend für menschliches Leben.
Erkenntnis UND Freiheit sind möglich (wenn auch keines von beiden in einem absoluten Sinn), es sind sich nicht widersprechende oder sich gegenseitig ausschließende Begriffe; so konnten auch beide zu zentralen Begriffen der Aufklärung werden.
Ein Verbleiben im Fliegenglas, den Verlockungen der dort befindlichen Duftstoffe zu erliegen, sich ständig neue Beulen am Glas zu holen, am Ende in der Falle zu ertrinken (wo ist der Halt geblieben?) – trotzt der durch die Philosophie angebotenen Hilfestellung, zum Ausgang zu gelangen – geschieht letztendlich freiwillig. Es ist nichts anderes als die selbst verschuldete Unmündigkeit, wie es Kant damals so treffend formuliert hat.
Fliegenglas
Jaja, die Fliegenglas-Geschichte ist unerfreulich. Korrekt ist: ‘Erkenntnis UND Freiheit sind möglich.’ bzw. ‘Die Freiheit bedingt die Erkenntnis.’
Was jetzt nicht heißen soll, dass der religiös (der Islam drängt sich hier in seinem Verhältnis zum Wissen direkt auf -man darf hier qualitativ fein unterscheiden, Pauschalisierungen sind nicht angestrebt) oder ideologisch Gebundene (dito) nicht Wissen schöpfen kann, aber er tut es als Geblendeter. – Ganz am Rande: Derart Geblendete haben natürlich auch Probleme mit dem Humor, denn dieser ist auf das Wissen um das letztliche Nichtwissen zurückführbar.
MFG
Dr. Webbaer
@ Stephan:
Aus dem Zwischenbericht: »Man könnte ja fast glauben, dass wir hier langsam so etwas wie einen Konsens gefunden haben… «
Ja, wäre schön, wenn der Determinismus bzw. Indeterminismus bei wissenschaftlichen Sachdiskussionen nicht immer wieder aufs Tapet kämen.
Über die argumentative Unterstützung durch Joker und Chrys habe ich mich natürlich gefreut. Offensichtlich ist meine Sowohl-als-auch-Position in der In-/Determinismusfrage keineswegs so abwegig, wie Du es obern dargestellt hast.
@ Joker:
Noch ein kleine Anmerkung zu diesem hier:
»Der ontologische Determinismus, so wie ich ihn vertrete, ist absurd. Das möchte ich hiermit ausdrücklich betonen. Es scheint mir kompletter Unsinn zu sein, dass mit dem Urknall sozusagen schon determiniert war, dass hier und heute dieser Post erscheint – und trotzdem glaube ich dran. «
Für mich ist ein solcher “Glaube” ausgeschlossen, weil ich meinerseits fest daran glaube, dass der Gang der biologischen Evolution eben nicht bereits kurz nach dem vermuteten Urknall feststand.
@Chrys:
»Ein logischer Fallstrick lauert immer dort, wo das Wort “alle” mit einer potentiell unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten kombiniert wird.
Lassen sich alle Aussagen über den Wald als Aussagen über Bäume umformulieren? «
Solche All-Aussagen sind in den Naturwissenschaften, zumal in der Biologie, doch eher selten.
Häufiger findet man Aussagen wie: Es sind keine Eigenschaften des Waldes bekannt, die sich nicht durch die Eigenschaften seiner Elemente (oder eben chemisch-physikalisch) erklären ließen (wobei zu diesen Elementen nicht nur Bäume gehören — und es auch keine Eigenschaft des Waldes ist, beruhigend oder unheimlich zu wirken).
Bezogen auf den Vitalismus: Es sind keine zellulären Prozesse bekannt, die nicht auf chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruhen.
Aber wem erzähle ich das… 🙂
—
PS: Da hat ein unbekannter Spaßvogel im Wikipedia-Artikel über “Vitalismus” doch tatsächlich geschrieben: »In neuerer Zeit griffen einige Zellbiologen diese Bezeichnung in einem übertragenen Sinn wieder auf als „molekularen Vitalismus“. [1]
[…] 1. Kirschner, M., Gerhart, J., Mitchison, T. (2000). Molecular vitalism. Cell 100, 79-88. «
“Im übertragenen Sinne”, ich fasse es nicht. Originalton Kirschner et al.: »In a light-hearted, millennial vein we might call research into this kind of integrated cell and organismal physiology “molecular vitalism.” «
Und dann hat man auch noch die Anführungsstriche um “vitalism” vergessen… 🙂
.
@Stephan Schleim
Der Grad an intrinsischer Unvorhersagbarkeit, die in einem dynamischen System steckt, lässt sich formal durch dessen Kolmogorov-Sinai Entropie (KSE) ausdrücken. Die KSE ist ein Wert von null bis unendlich, und je grösser die KSE eines Systems, desto “zufälliger” erscheint uns sein dynamisches Verhalten.
Salopp gesprochen, eine KSE gleich null bedeutet maximale Vorhersagbarkeit der Dynamik, i.e., die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Unerwartetes dabei passiert, ist gleich null. (Woraus sich allerdings nicht folgern lässt, dass das System dann notwendig deterministisch ist.) Entsprechend bedeutet eine unendliche KSE maximale Zufälligkeit, i.e., man hat effektiv null Chancen auf eine richtige Vorhersage für das, was als nächstes passiert.
Man könnte einmal heuristisch spekulieren, dass die KSE eines lebenden Organismus vermutlich grösser ist als die Summe der KSEs seiner biochemischen Subsysteme. Die sich daraus ergebende Entropiedifferenz liesse sich dann mit einigem Recht als élan vital bezeichnen. Das wäre dann kein Stoff, keine Kraft, sondern ein strukturelles, informationstheoretisches Merkmal des Lebendigen. In einer solchen Gestalt könnte élan vital durchaus wieder interessant erscheinen.
—
@Balanus
»Solche All-Aussagen sind in den Naturwissenschaften, zumal in der Biologie, doch eher selten.«
Ja, eben. Deswegen liefern die Naturwissenschaften auch praktisch keine brauchbaren Beispiele für funktionierenden Reduktionismus. Die Physik hat da auch nicht viel mehr zu bieten als die Biologie, wie selbst Star-Materialist Mario Bunge konzediert hat. Der brachte dazu dann übrigens auch nur das Standardbeispiel vom Gas im thermodynamischen Gleichgewicht.
Ethik und Wissenschaftlichkeit
…würde hier recht gut verstanden werden. Moderne aufgeklärte Ethik bedingt bekanntlich die Moderne wissenschaftliche Methode.
Mit Hilfe dieser Wissenschaftlichkeit, bspw. an Hand der Spieltheorie oder gar geisteswissenschaftlich Bemühendes (Stichwort: Existenzialismus, war mal modern) wieder in Ethik umzuformen, ist dagegen problematisch, wenn auch versuchbar, no prob.
Die o.g. Wissenschaft kann zu bestimmten Fragen bekanntlich keine Aussagen treffen. Tiefpunkte bspw. sowas hier: http://www.sueddeutsche.de/kultur/rechtsprechung-ohne-freien-willen-die-gedanken-sind-freiwild-1.416974 (nur das Thema betreffend, eine Gemeinmachung mit Aussagen des Schreibers erfolgt ausdrücklich nicht)
MFG
Dr. Webbaer
Entwicklung und Glaube
Der Webbaer würde hier dazu raten weder an das eine noch an das andere zu glauben. Und auch nur dann wenn ‘Urknall’ durch ‘Anfang’ ersetzt worden ist und wiederum nur dann wenn der ‘Anfang’ ganz bestimmt definiert worden ist.
MFG
Dr. Webbaer (der bekanntlich agnostisch-skeptizistischen Sichten nicht abgeneigt ist)
@Joker
»Es scheint mir kompletter Unsinn zu sein, dass mit dem Urknall sozusagen schon determiniert war, dass hier und heute dieser Post erscheint – und trotzdem glaube ich dran.«
Wo sehen Sie sich dabei selbst mit dieser Ansicht, noch im Fliegenglas oder schon draussen?
Noch ein Weg zur Erkenntnis (erinnert irgendwie sehr an die Hirnforschung):
»Wo sitzt«, so frug der Globus leise
Und naseweis die weise, weiße,
Unübersehbar weite Wand,
»Wo sitzt bei uns wohl der Verstand?«
Die Wand besann sich eine Weile.
Sprach dann: »Bei dir – im Hinterteile!«
Nun dreht seitdem der Globus leise
Sich um und um herum im Kreise –
Als wie am Bratenspieß ein Huhn,
Und wie auch wir das schließlich tun –
Dreht stetig sich und sucht derweil
Sein Hinterteil, sein Hinterteil.
»Der Webbaer würde hier dazu raten weder an das eine noch an das andere zu glauben. «
Ah ja, dann hält der Webbaer es also für möglich, dass schon bei der Biogenese festgelegt war, welche Organismen heute die Erde bevölkern? Und dass, wenn man die Zeit zurückdrehen und das Ganze noch mal von vorne beginnen könnte, genau das Gleiche entstünde?
denkbar
…isses jedenfalls, also auch möglich.
MFG
Dr. Webbaer (dem irgendwie die Orientierung ein wenig verloren geht, also, “Vitalismus”, nö, muss nicht schlecht sein, wäre aber nicht das Ding des Webbaeren)
@fegalo: Zufall
Zufall ist keine Zauberei. Würden die 6 Zahlen im Lotto bereits vor der Ziehung feststehen, wäre das Spiel sinnlos (für den Veranstalter). Es gibt auch kein physikalisches Modell, dass es gestattet, den Zerfallszeitpunkt von einzelnen Atomkernen zu berechen.
Zufall
Gibt es denn ein mathematisches Modell für den Zufall, das funktionier?
wissenschaftlich angewandte Ethik
Sowas hier ist aber nicht gemein, gell?:
http://jme.bmj.com/content/early/2012/02/22/medethics-2011-100411.full.pdf+html
@Dr. Webbaer: Zufall
Was meinst du mit „funktionieren“? Ergebnisse liefern, die es gestatten, die Zahlen der kommenden Ziehung der Lotto-Zahlen oder den Zerfallszeitpunkt eines beliebigen Atoms vor seinem Zerfall zu berechnen?
Mir ist kein solches Modell bekannt.
Zufall
Hmm, was war da unklar?, ein mathematisches Modell, das Zufälligkeiten modelliert und produziert?
Ergänzend für den philosophisch Interessierten, Jerry Coine‘s Test des freien Willens:
MFG
Dr. Webbaer
@Chrys
»Man könnte einmal heuristisch spekulieren, dass die KSE eines lebenden Organismus vermutlich grösser ist als die Summe der KSEs seiner biochemischen Subsysteme. Die sich daraus ergebende Entropiedifferenz liesse sich dann mit einigem Recht als élan vital bezeichnen. «
Ein interessanter Ansatz.
Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir dann so eine Art Perpetuum mobile hätten.
@ Chrys: Dufte
“Wo sehen Sie sich dabei selbst mit dieser Ansicht, noch im Fliegenglas oder schon draussen?”
Schon draussen – Dank an die Philosophie.
Mittlerweile habe ich auch noch viele andere Fliegengläser entdeckt. Die meisten unterscheiden sich – zu meinem größten Erstaunen – in ihrer Bauweise gar nicht wesentlich von dem, das ich kannte. Sie sind alle nur mit unterschiedlichen Lockstoffen befüllt. Die meisten Düfte sprechen mich leider gar nicht an. Mich zieht es einfach immer wieder zurück, zur ersten Falle. Deren Mischung ist einfach zu verführerisch, komponiert aus Naturalismus, Kausalität und Determinismus. Hier in der Nähe verweile ich am liebsten. Aber noch mal reinfliegen ins Glas? Nein, das werde ich auch nicht mehr.
@Ano Nym: Kein Zufall
Das ist gerade kein gutes Beispiel für Zufall – ebenso wie ein Würfelspiel.
Das Spiel kann völlig deterministisch sein aber der entscheidende Punkt ist, dass uns alle Ergebnisse gleich wahrscheinlich erscheinen und wir sie im Voraus bloß nicht wissen.
Vergleiche dazu den Beitrag: Bin ich ein Wunder?
@Ano Nym: P.S.
Zum Vergleich: Nehmen Sie ein Skatspiel, mischen Sie es und legen Sie es vor sich auf den Tisch.
Jetzt drehen Sie nacheinander jede einzelne Karte um.
Im Voraus war die Wahrscheinlichkeit für genau diese Kombination ca. 1:2,6*10^35, in etwa eine Viertel Sixtillion, also verdammt gering (noch verdammt viel geringer als beim Lottospiel).
Genau diese Folge war aber festgelegt, schon bevor Sie die erste Karte angefasst haben: Von Zufall keine Spur, nur von mangelndem Wissen.
Kartenmischen
Ergänzen könnte man noch, dass für den gemeinten Zufall, den Mischvorgang, keine produktive Mathematisierung zV steht.
Vgl. auch mit Jerry Coyne’s Test…
@Balanus / Perpetuum mobile
»Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir dann so eine Art Perpetuum mobile hätten.
Dieses Unbehagen entspringt vermutlich einer Assoziationskette Entropie – Thermodynamik – Zweiter Hauptsatz – perpetual motion.
Zunächst einmal ist die thermodynamische Entropie (TDE) nicht allgemein vergleichbar mit der KSE. So lässt sich die KSE informationstheoretisch deuten, die TDE aber nicht. Immerhin kann man in vielen Fällen von praktischem Interesse, etwa im Fall eines idealen Gases, die TDE zu Entropiebegriffen der statist. Mechanik in Beziehung setzen (Boltzmann Entropie, Gibbs Entropie), und diese haben dann eine informationstheoretischen Intepretation.
Nehmen wir das mal so an, dann fällt auf, dass eine Entsprechung zum externen Wärmetransfer für die Situation der KSE nicht gegeben ist, was thermodynamisch einem adiabatischen Prozess entspricht. Der Zweite Hauptsatz reduziert sich dann auf die Formel ΔS ≥ 0, und dem ist dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass die KSE per definitionem nichtnegativ ist.
Ich hoffe, Sie fühlen sich damit vielleicht etwas behaglicher 😉
@Der Webbarbar
»Genau diese Folge war aber festgelegt, schon bevor Sie die erste Karte angefasst haben: Von Zufall keine Spur, nur von mangelndem Wissen.«
Dass eine solche Argumentation grundsätzlich irrig ist, wurde meines Wisens schon einmal recht ausführlich dargelegt:
I. Kant. Kritik der reinen Vernunft. Riga, 1781.
@Chrys: Zufall
http://de.wikipedia.org/wiki/Bellsche_Ungleichung ?
Assoziationskette /@Chrys
Ja, mit dieser Kette haben Sie’s ganz gut getroffen ;-).
Ich dachte dabei vor allem auch an den Maxwellschen Dämon (démon élan vital?), der dank gewisser Informationen weiß, wie man Ordnung schafft im System. Aber das ist wohl doch eine andere Baustelle.
Zu allererst dachte ich ja, wieso soll die KSE des Gesamtsystems größer sein als die Summe der KSE der Subsysteme. Im Gesamtsystem sind die Subsysteme doch miteinander verwoben, so dass KSE-gesamt genauso gut kleiner als die Summe aller KSE-sub werden könnte.
Tatsächlich dürften wir in einer Zelle Subsysteme finden, für die KSE praktisch Null ist, solche, die sich deterministisch chaotisch verhalten und solche, die sich vollends stochastisch verhalten, für die KSE also gegen unendlich strebt (ich denke da z.B. an das Verhalten von Ionenkanälen).
Aus all dem zusammen resultiert dann das dynamische Verhalten des Gesamtsystems Zelle, und ich tippe mal, KSE liegt wie bei den deterministisch chaotischen Systemen irgendwo zwischen 0 und unendlich. Also nix mit élan vital… 😉
(Disclaimer: Wie man leicht merken kann, habe ich bez. KSE nicht die leiseste Ahnung, worüber ich eigentlich rede)
@Balanus
Zur Erläuterung meiner Schnapsidee noch ein motivierendes, wenngleich sicherlich etwas hinkendes Beispiel.
Die Bewegung eines einfachen Pendels, ähnlich dem einer Pendeluhr, ist mathematisch vollständig vorhersagbar. Kombiniert man jedoch zwei solcher einfachen Pendel zu einem Doppelpendel, dann zeigt sich ein qualitativ völlig anderes dynamisches Verhalten [Animation]. Violà l’élan chaotique!
Nun ja, wenn man jetzt noch zeigen könnte, dass das Doppelpendel eine positive KSE hat (die KSE seiner beiden Komponenten-Pendel ist jeweils null). Nur scheint das noch immer nicht gelungen zu sein. Die Sache mit der KSE ist also nicht so trivial, selbst bei diesem vergleichsweise simpel gestrickten Beispiel.
Bis zur Bestimmung KSE eines lebenden Organismus wäre es dann noch ein sehr, sehr langer Weg.
@Ano Nym / Bell und Kant
Wäre Bell irgendwie ein Problem für Kant?
Doppelpendel /@Chrys
Intuitiv würde man ja meinen, ein ideales Doppelpendel schwingt bei perfekt gleicher Ausgangslage immer gleich. Damit wäre KSE gleich Null, oder? Aber es gibt wohl keinen mathematischen Beweis dafür, dass es sich tatsächlich so verhält (wenn ich das Problem nun richtig verstehe).
Gibt es überhaupt Fälle, wo schon aus theoretischen Überlegungen heraus klar ist, dass ein ideales System, seinerseits bestehend aus idealen Subsystemen mit KSE jeweils = 0, dass dieses ideale System dennoch einen positiven KSE-Wert haben muss?
@Balanus
»Intuitiv würde man ja meinen, ein ideales Doppelpendel schwingt bei perfekt gleicher Ausgangslage immer gleich.«
So weit absolut korrekt: das System ist deterministisch und seine Bewegungen sind durch die Wahl von Anfangsbedingungen eindeutig bestimmt. Aber trotzdem nicht vorhersagbar, denn die Lösungen des Anfangswertproblems für das Doppelpendel lassen sich nicht als eine explizite Funktion der Zeit darstellen. Anders gesagt, es existiert hier keine Lösungsformel, in die man ein t hineinstecken kann, um die beiden Auslenkungswinkel zum Zeitpunkt t herauszubekommen. Man könnte dann nur noch hoffen, mit numerischen Methoden eine approximative Lösung zu finden, welche die exakte Lösung bis auf einen kontrollierbar kleinen Fehler quantitativ annähert. Im Regime des Chaos scheitert das aber, und man gelangt beim Doppelpendel auch auf diesem Wege zu keiner Vorhersage der Bewegung.
Nochmals zurück zur Entropie, da muss ich mich an einer Stelle wohl korrigieren. Man kann zeigen, dass das Doppelpendel eine positive topologische Entropie hat — ein weiterer Entropiebegriff für dynamische Systeme, der allerdings keine unmittelbare informationstheoretische Deutung erlaubt. Andererseits lässt sich die top. Entropie als das Supremum einer Familie von geeigneten KSEs charakterisieren, und das würde dann hinreichen, um auch eine positive KSE für das Doppelpendel zu garantieren. (Also höchstens dann, wenn die Def. der KSE auf ein falsches Wahrscheinlichkeitsmass bezogen ist, kommt vielleicht die Null heraus.)
@Chrys
Abschließend eine Frage zu folgendem:
»Anders gesagt, es existiert hier keine Lösungsformel, in die man ein t hineinstecken kann, um die beiden Auslenkungswinkel zum Zeitpunkt t herauszubekommen.«
Ich verstehe das so, dass unsere derzeitige Mathematik das nicht hergibt.
Könnte denn eine zukünftige Mathematik mit solcherart strukturierten Problemen fertig werden, oder ist das aus irgendwelchen prinzipiellen Gründen völlig unmöglich?
@Balanus
Die explizite Darstellbarkeit von Lösungen durch bekannte Funktionen ist traditionell mit dem Begriff der Integrabilität eines dynamischen Systems verknüpft. Diese Verknüpfung ist allerdings schwammig, weil sich ja nicht rigoros definieren lässt, was unter einer “bekannten Funktion” verstanden werden kann. Zur Begriffsbildung und den damit verbundenen Problemen setze ich hier mal einen Link,
http://en.wikipedia.org/wiki/Integrable_system
Beim Doppelpendel war es wohl so, dass man dessen Nicht-Integrabilität (im Sinne der vollst. Integrabilität Hamiltonscher Systeme) zeigen konnte, ohne dass dies die Frage nach der Vorhersagbarkeit seiner Dynamik zunächst geklärt hätte. Wenn es sich dann als vorhersagbar herausgestellt hätte, dann wäre es wohl wenigstens prinzipiell noch denkbar gewesen, irgendwann eine exakte Lösungsformel finden zu können. Eine positive KSE impliziert aber Unvorhersagbarkeit der Dynamik, und das ist tatsächlich dann unvereinbar mit einer exakten Lösungsformel.
N.B. Man sollte vielleicht noch festhalten, dass für sehr spezielle Anfangsbedingungen auch das Doppelpendel vorhersagbare und darstellbare Lösungen hat (z.B. hat es offensichtlich vier Equilibrien, die sich sehr vorhersagbar verhalten). Solche Ausnahmen fallen geflissentlich unter den Tisch, wenn von Unvorhersagbakeit der Dynamik die Rede ist.
Bits of Life
Wen dieses Blogthema hier interessiert hat, sollte eigentlich auch folgendes Essay ganz spannend finden. Abstract:
Joyce GF (2012) Bit by Bit: The Darwinian Basis of Life. PLoS Biol 10(5): e1001323. doi:10.1371/journal.pbio.1001323 [Link]
@Chrys / Danke!
Joyce scheint zu denen zu gehören, für die der Vitalismus kein ernstzunehmendes Thema mehr ist… war ja nicht anders zu erwarten. 😉