Übergewicht & Substanzkonsum: Regierungen wünschen sich gesünderes Volk

Die Niederlande schlossen 2018 einen “Nationalen Präventionsbeschluss”. Jetzt zeigt sich: Übergewicht, Alkohol und Rauchen sind noch nicht zurückgegangen. Was brauchen wir für ein gutes Leben?

In einem kapitalistischen System geht es immer ums Geld: Kosten müssen runter, Gewinne müssen rauf. Das hat auch Auswirkungen aufs Gesundheitssystem, das inzwischen in vielen Ländern nach Marktprinzipien eingerichtet ist.

Dabei ist es nicht nur im Trend, mit technisch-medizinischen Innovationen, bürokratischen Kurzschlüssen wie den Fallpauschalen für Behandlungen und Druck auf das Personal die Kosten zu reduzieren. Auch die Bevölkerung soll sich gesünder verhalten, Stichwort “Prävention”.

Die wissenschaftliche Forschung trägt ihren Teil dazu bei: Immer wieder heißt es beispielsweise, gefahrlosen Alkoholkonsum gebe es nicht, auch nicht bei geringen Mengen; oder man könne auch vom Passivrauchen schon sterben.

Dabei werden aber oft nur relative Risiken diskutiert, die nichts über das absolute Krankheitsrisiko aussagen. Stellen wir uns vor, dass von den Abstinenzlern 1 von 100 an einer bestimmten Krebsart stirbt – und von den Gewohnheitstrinkern (grob: Frauen im Schnitt ein Glas, Männer zwei Gläser pro Tag; idealerweise mindestens zwei Tage ohne Alkohol pro Woche) sterben 2 von 100 daran.

Dann hat sich die Wahrscheinlichkeit verdoppelt, stieg das relative Risiko also um 100 Prozent. Absolut gesehen erkranken aber 98 von 100, also 98 Prozent der Gewohnheitstrinker nicht. Das sollte man gegen den Nutzen von Substanzkonsum abwägen (Die Droge als Instrument). Zu den genauen wissenschaftlichen Daten ein anderes Mal mehr.

Nationaler Präventionsbeschluss

Bei der Bekanntgabe des “Nationalen Präventionsbeschlusses” verkündete der damalige Staatssekretär des niederländischen Gesundheitsministeriums: “Wir gönnen jedem Niederländer ein gesundes Leben.” Dafür sollten die folgenden Ziele erreicht werden:

2040 sollen nur noch 5 Prozent der Bevölkerung rauchen. Dafür soll der Preis pro Päckchen spätestens im Jahr 2023 bei 10 Euro liegen. Die Zigaretten sollen, wie in Australien, in neutralen Packungen verkauft werden und in den Supermärkten aus dem Sichtfeld verschwinden. Automaten soll es keine mehr geben.

Erwachsene sollen ihren “problematischen” Alkoholkonsum reduzieren: Problematisch ist nach Sicht der niederländischen Regierung, wenn Frauen mehr als 14, Männer mehr als 21 Standardgläser Alkohol pro Woche trinken – oder mehr als vier beziehungsweise sechs bei einer Gelegenheit.

Um das zu erreichen, sollen Rabattaktionen für alkoholische Getränke eingeschränkt werden. (Im Sommer 2021 wurden per Gesetz Rabatte tatsächlich auf maximal 25 Prozent beschränkt.) Der Jugendschutz soll mit minderjährigen Testkäufern stärker kontrolliert werden. Und auf “sozialen” Medien oder bei Sportveranstaltungen soll es weniger Alkoholreklame geben.

Zur Gewichtsabnahme soll die Bevölkerung besser über gesunde Ernährung informiert werden. Trinkwasser soll an immer mehr öffentlichen Orten – wie Schulhöfen oder Bahnhöfen – frei verfügbar werden. Der Zuckergehalt in Getränken soll reduziert und Süßigkeiten sollen in geringeren Mengen verkauft werden. Auch soll das Angebot in Kantinen gesünder werden.

Ernüchterung 2021

Die jetzt für das Jahr 2021 vorliegenden Daten sind demgegenüber ernüchternd: So haben laut Daten des nationalen Statistikbüros immer noch so viele Niederländerinnen und Niederländer Übergewicht (Body-Mass-Index ab 25) wie im Jahr 2018, als der “Beschluss” verkündet wurde. Das betreffe immerhin die Hälfte(!) der Bevölkerung.

Die Anzahl der Raucher sei nur leicht zurückgegangen, von 22 auf 21 Prozent. Ebenso habe die Häufigkeit des problematischen Alkoholkonsums nur leicht abgenommen, während die Anzahl der schweren Trinker konstant geblieben sei.

Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen ärmeren und wohlhabenderen, sowie zwischen niedriger und höher gebildeten Menschen: So würden mit 31 Prozent doppelt so viele Menschen mit niedrigerem Einkommen zumindest gelegentlich rauchen wie jene mit höheren Einkünften.

Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Übergewicht: Das hätten ebenfalls eher ärmere und eher niedrig gebildete Menschen. Beim Alkoholkonsum sei es aber genau anders herum: Unter den wohlhabendsten Menschen befänden sich die meisten schweren Trinker.

Wenn man aber bedenkt, dass die Menschen in der Coronapandemie fast zwei Jahre lang durch verschiedene Schutzmaßnahmen und Lockdowns eingeschränkt wurden, dann kann man die Ergebnisse auch positiv werten. Übergewicht und Substanzkonsum hätten nämlich auch deutlich zunehmen können, so wie die verbrachte Zeit im Internet oder beim Computerspielen (Medien- und Drogenkonsum in der Coronapandemie).

Individuum oder Gesellschaft?

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass Gesundheit, Substanz- und Drogenkonsum keine rein individuelle Entscheidung ist. Menschen konsumieren nämlich auch, um bestimmte Ziele zu erreichen oder bestimmte Probleme zu bewältigen (Die Droge als Instrument). Letzteres geht aber meist nur für eine bestimmte Zeit gut, wenn die Konsummengen steigen oder die ungelösten Probleme größer werden.

In einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es hier natürlich einen Interessenkonflikt: Denn der Konsum führt einerseits zu höheren Gewinnen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie – und die kleinen Niederlande sind sogar der größte Bierexporteur der Welt. Andererseits verdient der Staat an Besteuerung von Nahrungs-, Genussmitteln und der Unternehmensgewinne mit.

Zudem dürfte die Alkohol- und Zigaretten-Lobby gut vernetzt sein. Ein Verbot scheint mir darum eher als unwahrscheinlich. Außerdem nimmt der Konsum in vielen europäischen Ländern auch nicht zu oder langfristig sogar ab (Brauchen wir ein Alkoholverbot?).

Wenn die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig gilt oder zu viele Menschen – aus Sicht der Gesundheitspolitiker – problematische Mittel konsumieren, kann man die Prävention allein aufs Individuum abwiegeln: Mehr Prävention und Belohnungen für gutes, sowie Nachteile für schlechtes Verhalten.

Das ist Politik nach dem Prinzip “Belohnen und Strafen”, wie es im frühen 20. Jahrhundert schon die Behavioristen im Sinn hatten. In der Psychologie nennt man es “instrumentelle Konditionierung”. Etwas subtiler funktioniert das “Nudging” (englisch für “Anstupsen”), das Menschen die “richtige” Entscheidung einfacher machen will.

Der Fokus aufs Individuum entspricht dem neoliberalen Paradigma, Ziele von oben nach unten vorzugeben, die Verantwortung für das Erreichen dieser Ziele aber auf die unteren Ebenen abzuwiegeln. Da aber gleichzeitig Konsum, Gewinne und Steuern erhört werden sollen, kann man dieser Politik eine gewisse Doppelzüngigkeit vorwerfen (Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik).

Ungesunde Umgebung?

Gesundheit ist aber nicht nur eine individuelle Entscheidung. Darauf deuteten bereits die genannten sozialen Faktoren hin. Man könnte sich zudem auch einmal die Umgebung anschauen, in der Menschen ihre Nahrungs- und Genussmittel kaufen:

Diese ist nämlich nicht nur mit psychologischen Tricks darauf optimiert, dass die Kunden immer öfter zugreifen (Mensch in Körper und Gesellschaft: Was heißt Freiheit?). Sondern auch die Produkte, die man dann im Einkaufswagen landen, sind nicht unbedingt gesund.

Um guten Geschmack bei niedrigen Kosten zu erzielen, enthalten viele Nahrungs- und Genussmittel nämlich große Anteile von Geschmacksträgern wie Fett, Salz oder Zucker sowie Aromen und Geschmacksverstärker. Dabei treiben Fett und Zucker die Kalorien in die Höhe; hoher Salzkonsum belastet auf Dauer das Herz-Kreislaufsystem und kann verschiedene Organe schädigen.

Wenn dazu dann auch noch Stress, wenig Zeit für alternative Möglichkeiten und fehlendes Wissen über gesunde Ernährung kommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit für ein ungesünderes Leben deutlich höher. Wie wichtig ist uns der Wert Gesundheit? Wenn er so wichtig ist, wie uns die Gesundheitspolitiker weismachen wollen, dann sollte man jedenfalls nicht nur aufs Individuum schauen.

Gesundes und gutes Leben

In der Gesamtschau ergibt sich also ein Konflikt verschiedener Akteure: Unternehmen wollen mehr Gewinne und höhere Marktanteile; Regierungen wollen Steuereinnahmen und eine produktive Bevölkerung mit niedrigen Gesundheitskosten; Bürgerinnen und Bürger wollen – ja was?

Schon vor der Coronapandemie klagten viele über zunehmenden und zu viel Stress (Deutsche wollen weniger Stress – doch wie?). Das scheint ein Phänomen zu sein, das zu entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften gehört. Dazu passt, dass die Weltgesundheitsorganisation davon ausgeht, Depressionen würden bald zum größten Gesundheitsproblem der Welt.

In diesem Umfeld blühen wiederum Sport-, Fitness-, Yoga- und Achtsamkeitskurse. Bei näherer Betrachtung werden Yoga und Meditation aber oft so unterrichtet, dass Menschen zwar besser mit Stress umgehen oder ihn kompensieren – nicht aber vermeiden (Wozu Meditation und Achtsamkeit – und wozu nicht?).

Mit anderen Worten: Man lernt als Individuum, die gesellschaftlichen An- und Herausforderungen besser zu managen; man wird ein unternehmerisches, “resilientes” (widerstandsfähiges) Selbst, das erfolgreich ist und sich wie ein Stehaufmännchen immer wieder an neue (Markt-) Bedingungen anpasst.

Doch geht diese Rechnung wirklich auf? Denn, einerseits, wie gesagt, klagen immer mehr Menschen über Stress und andererseits werden auch immer mehr Menschen krank (Die Deutschen sind kränker denn je). Und das waren, wohlgemerkt, noch Befunde von vor der Coronapandemie.

Wie lange uns noch neue Virusvarianten, Long-COVID sowie die sozialen Folgen der Pandemie und ihrer Schutzmaßnahmen beschäftigen werden, ist heute noch gar nicht abzusehen. Bis auf Weiteres sieht es jedenfalls so aus, als ob das Erreichen eines “perfekten” Lebens nicht einfacher geworden wäre (Der Preis fürs “perfekte Leben”).

Schaffen wir ein Umdenken?

Anstatt über Kosten und Gesundheit, könnte man auch über Werte und Ziele sprechen. Dann würde einem vielleicht Auffallen, dass Wohlstand, jedenfalls ab einem gewissen Maß, nicht mehr zu einem guten Leben beiträgt. Im Gegenteil wird er kontraproduktiv, wenn Menschen aufgrund von Wettbewerb und sozialer Ungerechtigkeit unter Ausgrenzung und Neid leiden.

Die Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Dogmas “Wohlstand durch Wirtschaftswachstum” nehmen immer weiter zu, während sich der Abstand zwischen den Krisen immer weiter verringert. Dabei sind die externen, nicht in die ökonomische Gleichung einfließenden Folgekosten für Mensch und Natur immer größer.

Wird uns als Menschheit noch ein Umdenken hin zu einem glücklicheren und nachhaltigeren Leben gelingen? Oder werden wir die Möglichkeit für menschliches Leben auf unserer Erde schließlich abschaffen? Im ersten Fall wäre das Problem für uns, im letzten das Problem für die Welt gelöst.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint auch auf Telepolis. Titelgrafik: Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay.

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55 Kommentare

  1. “Wird uns als Menschheit noch ein Umdenken hin zu einem glücklicheren und nachhaltigeren Leben gelingen?”
    Solange man Gesundheit und Glück als erstrebenswert betrachtet, besteht Hoffnung, dass wir tatsächlich die Lebensumstände verbessern können.

    Dazu gehört nicht nur materielle Absicherung , es gehört auch die persönliche Freiheit dazu, die Wertschätzung von Frauen, die Wertschätzung einer intakten Umwelt. Davon sind wir leider noch sehr weit entfernt.
    Noch immer werden Wälder zugunsten von Industrieflächen gerodet, noch immer dehnen sich die Städte in das Umland aus, obwohl die Bevölkerung gar nicht mehr zunimmt.

    In den Köpfen der Wissenschaftler hat die Zukunft schon begonnen, in der Wirtschaft noch nicht, da zählen nur Gewinn und Verlust.

  2. Verwirklichung der eigenen Potentiale
    Mitwirkung an positiver gesellschaftlicher Entwicklung
    Abwesenheit von äußeren und inneren zwängen
    Generelles Verbot von Werbung
    Beseitigung möglichst vieler Dogmen

  3. @ Schleim

    Ich mache es mir mal einfach:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Zufriedenheit

    https://de.wikipedia.org/wiki/Glück

    Den Unterscheidungen kann ich weitestgehend zustimmen. Aber wenn jemand das gleichsetzt und so empfindet und spürt, was soll man machen?!

    Ich bin zufrieden, wenn ich nach dem Tagwerk abends auf dem Sofa liege, mir einen Whisky und eine Zigarette gönne und den Tag Revue passieren lasse.

    Glück ist bei mir eher selten und eine kurzeitige Empfindung, z.B. wenn ich Herzlichkeit zwischen Mutter und Kind wahrnehme.

  4. Aufrechterhaltung von Hoffnung, Vertrauen und Solidarität
    Weniger Mauern und Grenzen

  5. @Mussi
    Die Abwesenheit von Zufriedenheit führt zu kritischer Betrachtung der Zustände.
    Die würde ich vermissen…

  6. @Redeyes
    Unzufriedenheit, Bedürfnisbefriedigung, Zufriedenheit ist doch Alltag.

  7. Ein paar ungeordnete Gedanken dazu:
    – Ja, wenn Krankheiten in einer Gesellschaft epidemisch werden, die es in anderen Gesellschaften nicht sind, dann sollte es offensichtlich sein, dass die Verantwortung dafür nicht beim Einzelnen liegt.
    – Jegliche staatlichen Bemühungen, sich die Bürger nach einem Idealbild zu erziehen, haben für mich einen unangenehmen ideologischen, totalitären Klang – egal, wie wohlmeinend sie daherkommen. Noch jedes totalitäre Regime der Geschichte hat seine Untaten mit einer “guten Sache” gerechtfertigt. Wer sich fragt, was gegen Gesundheit für alle spricht, sollte sich weiterfragen, was gegen himmlische Erlösung für alle spricht, oder gegen den Sieg des Kommunismus.
    – Aber, davon abgesehen: Fettleibig ab einem BMI von 25? Dann hätte ich noch 4 Kilo bis zur Adipositas. Und ich bin gerade so schlank und fit, wie ich es seit der Geburt meiner ersten Tochter nicht mehr gewesen bin. Man sollte die Grenzen von Quantifizierung und Statistik nie vergessen.

    Schönes Wochenende!

  8. @Redeyes: Schöne Liste, danke.

    @Mussi: Wenn Sie täglich mit Whisky und Zigaretten entspannen, gehören Sie zur Zielgruppe dieser “Präventionsprogramme”.

  9. @Konrad: totalitäre Züge

    Dieser Gedanke ging mir auch durch den Kopf – ich habe es im Text dann aber mal beim “Top-Down-Neoliberalismus” belassen, um die Diskussion nicht gleich zu eskalieren.

    Duden: totalitär = mit diktatorischen Methoden jegliche Demokratie unterdrückend, das gesamte politische, gesellschaftliche, kulturelle Leben [nach dem Führerprinzip] sich total unterwerfend, es mit Gewalt reglementierend

    Und BMI ab 25 – es war von Übergewicht die Rede. Fettleibigkeit und Adipositas (ab BMI 30?) sind wohl andere Kategorien. Unter 20 gilt es übrigens als Untergewicht. Auffälliges Muster? Es geht um statistische Mittelwerte und wir wissen, dass sich diese nicht unmittelbar aufs Individuum übertragen lassen.

  10. Stephan Schleim,
    Macht und Reichtum sind bei jungen Männern die bessere Alternative.
    Für Frauen sind Schönheit und Romantik wichtig. Eine Umfrage in Spanien bei den 10-jährigen ergab, 75 % der Mädchen wollen Prinzessin oder Model werden.
    70 % der Jungen wollen Stierkämpfer werden.

    Mussi,
    die deutsche Sprache kennt nur das Wort Glück. Die romanischen Sprachen kennen gleich mehrere Begriffe.
    Spanisch z.B. la buenaventura, la felicidad, la dicha, suerte.

  11. Das Problem ist hinterhältig-vielgestaltig.
    Die Natur hat “uns” ein Belohnungssystem ins Gehirn implantiert, was in erster Linie dazu diente, ein erfolgreiches Überleben “lohnenswert” zu gestalten. Wir homo sapiens sapiens haben nun herausgefunden, dass es diverse Stoffe in der Natur gibt, die dieses Belohnungssystem direkt aktivieren können, auch ohne die vorherige Stufe des “erfolgreich überlebt Habens” – und ich denke, dass wir alle aus diesem Kräutergarten schon seit Jahrtausenden kennen. So lange diese Stoffe selten und/oder in ihrer Wirkung begrenzt sind und/oder in gelegentlichen rituellen Gemeinschaftshandlungen angewendet werden, ist da wohl noch kein Problem. Wenn man aber mit beispielsweise 3-4 Flaschen 36%igen Alkohols sich alleine jederzeit volllaufen lassen kann oder sich eine hochwirksame Chemikalie beliebig unverdünnt mal so eben einspritzen kann, wird das “Belohnungssystem” zwar aktiviert, aber damit ad absurdum geführt.
    Der andere Fall liegt darin, dass wir von der Natur für eine gewisse Lebensweise “konstruiert” worden sind, ein mühsames, anstrengendes Leben zum Überleben. Mit unserer Technik haben wir es uns einfach gemacht, wir jagen die Beute nicht mehr mit viel Aufwand, sie hängt schon tot und zerstückelt am Haken hinter der Theke oder ist bereits eingetütet/eingebüchst im Regal. Selbst zu diesem Ort müssen wir nicht mehr laufen, wir können uns mit leichtem Tritt aufs Gaspedal dorthin fahren lassen. Damit gerät unsere Physiologie gleich 2x aus dem Takt, wenig Aufwand für ganz viel Ertrag, so war das in der Evolution für den homo sapiens sapiens niemals vorgesehen. Im Endeffekt gerät unsere Physiologie aber nochmals aus dem Takt, weil in dem so Eingetüteten/Eingebüchsten nicht nur mehr Zucker und/oder mehr Salz und/der mehr Kalorien als natürlich vorgesehen drin sind, sondern auch jede Menge anderer Chemikalien ( Zuckerersatz, Konservierung, Textur, Geschmack, Farbe ), deren Auswirkungen wir auf unsere Physiologie noch überhaupt nicht verstanden haben, geschweige denn, was sich alles aus der Verpackung im Inhalt wiederfinden lässt.

    Und nun kommen da so ein paar Schlaumeier, die wollen mir ( meinem Belohnungssystem für erfolgreiches Überleben ) vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe?

  12. @Krankheitskosten

    Ich will gar nicht mal unbedingt so alt wie möglich werden. Eher noch mit weniger Krankheitseinschränkungen geplagt werden. Nebenbei bin ich einfach nikotinsüchtig, das ist eher ein Faktum als eine Eigenschaft, die ich mir einfach so aussuchen kann.

    Nebenbei habe ich mal gelesen, dass Raucher natürlich früher sterben, aber dafür dennoch weniger Krankheitskosten als Nichtraucher verursachen. Wohl weil sie etwas öfter einen schnellen kostengünstigen Abgang machen. Die Krankenkassen geben 80 % ihres Budgets für die letzten beiden Lebensjahre aus, wenn dann jemand einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleidet, und der Notarzt nur noch den Tod feststellen kann, dann ist das für die Krankenkasse ein riesiger Glücksfall. Wer auf diese Art vorzeitig verstirbt, der verursacht nur 20% der durchschnittlichen Krankheitskosten, wenn man das über das ganze Leben des Versicherten rechnet.

    Die Gleichung gesünderes Leben = weniger Krankheitskosten geht öfter überhaupt nicht auf. Die Art und Weise des Endkampfes zum Lebensende hin ist da maßgeblicher.

    Warum also weiter Raucher ärgern? Werbeverbot und wirksamer Jugendschutz wäre doch schon eine ordentliche Maßnahme. Sieht so aus, als ginge es hier wirklich nur um Steuereinnahmen, die das Suchtpotential von Tabak einfach gnadenlos ausnutzen. Nicht das Rauchen nicht ungesund wäre. Aber deswegen ist das nicht so teuer.

    Krankheitskosten kann man woanders einsparen. Ich kenne einige Menschen, die gerade vor diesem ausgiebigem Behandlungsausmaß zum Lebensende hin richtig Angst haben, und versuchen, sich mit Patientenverfügungen davor zu schützen. Und das, obwohl sie das überhaupt nicht selber bezahlen müssen.

    Hier haben sich offenbar Gewohnheiten eingebürgert, die unser Krankenkassensystem für Umsätze zweckentfremden, die von den Versicherten so gar nicht gewünscht werden. Wenn man wirklich Krankheitskosten einsparen will, sollte man erst mal hier ansetzen.

  13. @Tobias: Kosten & Sterben

    Du meinst es wahrscheinlich nicht so – aber für mich hört sich das ein bisschen wie einen Ratgeber in “effizientem Sterben” an.

    Mein Standpunkt war ja, nicht am Ende zu sparen, sondern am Anfang, indem man einen gesünderen Lebenswandel ermöglicht (nicht erzwingt).

    Und zu den Patientenverfügungen: Das sagt sich aus der heutigen (mehr oder weniger gesunden) Sicht so leicht, man wolle nicht “dahinvegetieren”. Aber ich denke, wenn man erst einmal in der Situation ist, dass dann doch viele Angst vorm Sterben haben. Ich finde es aber schwer, hier allgemeingültige Aussagen zu treffen, weil so viel vom Einzelfall abhängt.

    Siehe auch: Sterbehilfe bei “vollendetem Leben” – oder “Entsorgung” der Alten?

  14. @Kuhn: Untergewicht

    Ja, danke für den Hinweis. Unter 20 geht es wohl erst einmal um eine Empfehlung, nicht weiter abzunehmen.

    Gut, dass ich das nicht in den Hauptartikel geschrieben habe. 😉

    Aber in der Sache bleibt es bei der Schlussfolgerung, dass der BMI ein grobes und allgemeines Maß ist, das sich nicht auf jeden Einzelfall übertragen lässt.

  15. Auch hier gibt wikipedia einen guten Überblick über die verschiedenen Definitionen von Gesundheit.
    Ich halte die von Parson in unserer Gesellschaft momentan für massgeblich. Sie basiert stark auf dem Gedanken der Funktion.
    Und hier,Redeyes,ist sicher Kritik anzubringen.

  16. Karl Maier,
    Belohnungssystem,
    Arbeitsteilung ist effektiver als Einzelarbeit. Dass die “belohnend” wirkt und die Menschen in faul und fleißig einteilt, ist die andere Seite.
    Mit dem Alkohol haben sie Recht. Da ich regelmäßig kein Kola trinke, habe ich durch Zufall gemerkt, was das für ein Teufelszeug ist. Ein Schnapsglas voll Kola und man ist ein anderer Mensch.

  17. Der fürsorgliche Staat
    Gesundheitsfürsorge, Suchtprävention, Alkohol- und Süssmittelverzicht würde ich nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit (Zitat) dem kapitalistischen System bringen.
    Denn es stimmt einfach nicht, dass, wer länger und gesünder lebt, weil er weder Tabak noch Alkohol frönt noch zu viel isst, weniger Kosten verursacht. Wer gesund lebt, stirbt später, allerdings sterben auch gesund Lebende und bevor sie sterben erkranken sie mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer chronischen Krankheit, die sie möglicherweise bettlägerig, jedenfalls pflegebedürftig machen. Die Zahl der Alzheimerfälle beispielsweise steigt stärker als linear mit dem erreichten Alter (und Frauen sind stärker betroffen als Männer). Alzheimerkranke sind in hohem Masse pflegebedürftig. Ein rein kapitalistisch orientiertes System würde allen Pensionierten, die erkranken den Suizid nahelegen, denn das wäre die billigste Lösung. Doch das passiert nicht und auch deshalb steigen die Gesundheitsausgaben Jahr für Jahr.

    Fazit: Der Staat ist nicht nur kapitalistisch, er ist -teilweise zum eigenen Schaden – auch fürsorglich. Präventionsmassnahmen rentieren nicht, sie bringen nur weniger Leid oder verschieben das Leid auf später.

  18. @Stephan 12.03. 07:58

    „Aber ich denke, wenn man erst einmal in der Situation ist, dass dann doch viele Angst vorm Sterben haben. Ich finde es aber schwer, hier allgemeingültige Aussagen zu treffen, weil so viel vom Einzelfall abhängt.“

    Ja aber es nützt doch nichts gegen die Todesangst, den Tod mit aller Gewalt noch ein paar Monate aufzuschieben.

    Klar kommt die praktizierte Maximalbehandlung vielen entgegen. Sollen sie es machen, da sag ich jetzt nichts gegen.

    Aber genauso viele werden dann doch eher gedrängt, von Ärzten wie von den eigenen Angehörigen, noch mal alles zu versuchen, auch wenn die Chancen minimal sind.

    Ich persönlich wünsche mir einen schnellen Abgang, auch gerade gegen die Todesangst. Die verlängert sich doch nur über Wochen, Monate und manchmal Jahre, je mehr man dagegen unternimmt. Dann lieber im Leben leben, und dann eben den Sprung ins kalte Wasser, und ein Ende ohne ewiges hin und her.

    „…indem man einen gesünderen Lebenswandel ermöglicht (nicht erzwingt).“

    Das allemal macht richtig Sinn. Auch was den übermäßigen Arbeitsstress betrifft, der ist wohl ein richtig dicker Punkt in der Sammlung der Risikofaktoren. Und ein Punkt, der wirklich praktisch auch zu bearbeiten wäre. Hier spielen auch die medizinischen Behandlungskosten wiederum selbst eine Rolle, denn überflüssige medizinische Maßnahmen wegzulassen würde ganz direkt weniger Arbeit für Ärzte und weniger Kosten für die Versicherten bedeuten. Und damit auch Arbeitsstress reduzieren helfen.

    Gerade die Ärzte selber arbeiten sich mit am meisten kaputt. Nicht nur zu Coronazeiten. Und die Kosten der Krankenversicherung hat man selber noch am wenigsten in der Hand, dem kann man persönlich kaum ausweichen. Deshalb ist das ja auch so teuer geworden. Hier hat sich über Jahrzehnte ein Kostenfaktor entwickelt, der einen guten Teil des modernen Stresses ausmacht, dem wir uns aussetzen.

  19. Zivilisation = Realisation der Idee vom richtigen Leben
    Man spricht beispielweise von der civilisation française und meint damit eine auch staatlich getragene, organisierte Form des Lebens, des Denkens, des sprachlichen Ausdrucks und vieler weiterer ineinander greifender kultureller Erscheinungen. Jede Zivilisation hat eine Vorstellung vom richtigen Leben innerhalb des Raumes, die die Zivilisation aufspannt und sie gibt auch viele Verhaltensweisen vor, beispielsweise wie Männer und Frauen miteinander umgehen oder welche Ausschweifungen in der Jugend erlaubt sind oder als normal betrachtet werden.

    Die moderne westliche Zivilisation des späten 20. Jahrhunderts enthält starke moralisch/ethische Komponenten, wozu das Bestreben nach Sicherheit, gesundem Lebensstil und (politischer) Korrektheit einhergeht. Es ist eigentlich keine Zivilisation der grossen Ziele mehr, sondern eine Zivilisation der Schadensvermeidung /Schadensbegrenzung. Die Idee dahinter: Tu nichts Schlechtes, dann tust du bereits genug Gutes.

    Wenn die (Zitat Titel Stephan Schleim) Regierungen sich ein gesünderes Volk wünschen dann ist das Ausdruck eines Bestrebens der Schadensminimierung der heutigen westlichen Zivilisation.
    Wenn Stephan Schleim dahinter totalitäre Tendenzen erkennt, so muss man sagen, dass jede Zivilisation Druck auf ihre Mitglieder ausübt. Das hat bereits Sigmund Freud erkannt („ Das Unbehagen in der Kultur“). Totalitarismus geht allerdings noch viel weiter. Dort gilt: Bist du kein Freund/Verfechter des Systems, so bist du ein Feind und bist deines Lebens nicht mehr sicher.

  20. @Martin Holzherr

    Ein rein kapitalistisch orientiertes System würde allen Pensionierten, die erkranken den Suizid nahelegen, denn das wäre die billigste Lösung. Doch das passiert nicht und auch deshalb steigen die Gesundheitsausgaben Jahr für Jahr.

    Das ist nicht wahr, die billigste Lösung maximiert nicht das Bruttosozialprodukt.
    für mich eine der bedeutendsten Missallokationen im “Kapitalismus”

  21. @Holzherr 12.03. 14:26

    „Die moderne westliche Zivilisation des späten 20. Jahrhunderts enthält starke moralisch/ethische Komponenten, wozu das Bestreben nach Sicherheit, gesundem Lebensstil und (politischer) Korrektheit einhergeht.“

    Haben wir hier nicht eher den Mainstream der Massenmedien, plus nochmal die Lehrpläne an Schulen und Universitäten? Dieses verliert offenbar an Reichweite. Moderne Zeiten bringen eine rasante Beschleunigung für neue Gedanken und Sichtweisen, wie auch für Unwesen in destruktiven Haltungen mit sich.

    Jeder kann heute im Internet seine eigenen Inhalte reinsetzen, und muss nicht erst Journalist werden und eine Anstellung bei einem etabliertem Medium finden. Und kann auch nicht gekündigt werden, wenn es dem Arbeitgeber nicht mehr gefällt, was man so verbreitet.

    Eine Diversifizierung des Meinungsspektrums ist jetzt zunächst die Folge, unterm Strich könnte allerdings tatsächlich auch eine authentischere Auseinandersetzung dabei herauskommen. Zumindest soweit, wie der Horizont des individuellen Menschen es zulässt.

    @Redeyes 12.03. 16:20

    „die billigste Lösung maximiert nicht das Bruttosozialprodukt.“

    In der Tat ist eine Maximalbehandlung das Optimum an Umsatz, auch dann, wenn der Umsatz selbst unnütz ist. Der Kapitalismus will quantitativ wachsen, eine Qualitätssteigerung ist möglich, aber zweitrangig.

  22. @Tobias: Todesangst

    Ich glaube nicht, dass das Ego so funktioniert, also so “vernünftig”. Es sei denn, man ist ein wirklicher Guru oder Stoiker.

    In der Regel wollen wir Unangenehmes doch verdrängen, sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene.

    Ich denke ja auch, dass es Sterbehilfe bei aussichtslosen Krankheiten mit erheblichem Leiden geben sollte; aber, wie gesagt, lässt sich hier kaum eine allgemeingültige Formel finden.

    Wenn man nur mit starken Schmerzmitteln in einem Dämmerzustand am Leben erhalten wird, scheint mir das auch erst einmal nicht sehr sinnvoll. In dieser Situation ist man selbst wohl auch nicht mehr dazu in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen.

    (Nebenbei: Zufällig ging es in der letzten Sitzung eines Meditationskurses gerade ums Sterben. Der Lehrer erzählte, dass er eine Zeit als Freiwilliger im Hospiz arbeitete. Er meinte, die meisten Menschen würden so sterben, wie sie lebten – also sich zum Beispiel die ganze Zeit die Lieblingsfernsehsendungen anschauen würden; einige wenige würden sich aktiv mit dem Sterben auseinandersetzen und dann auch noch einmal einen Erkenntnissprung erreichen.)

  23. @Holzherr: Formal ist es aber nun einmal so, dass sich – jedenfalls in einer Demokratie – das Volk die Regierung wählt und nicht umgekehrt. Wo ist ihr eidgenössischer Nationalstolz geblieben? Grüße übrigens aus ZH.

  24. @ Stephan Schleim:

    “Aber in der Sache bleibt es bei der Schlussfolgerung, dass der BMI ein grobes und allgemeines Maß ist, das sich nicht auf jeden Einzelfall übertragen lässt.”

    So ist es. Der BMI ist ein Maß, das für epidemiologische Studien recht praktikabel ist, weil sich die Ausgangsdaten (Körpergröße und Gewicht) einfach ermitteln lassen und es dabei meist nicht auf den Einzelfall ankommt. Für die individuelle Bewertung sind andere Maße geeigneter.

  25. Zitat Stephan Schleim : „ Formal ist es aber nun einmal so, dass sich – jedenfalls in einer Demokratie – das Volk die Regierung wählt und nicht umgekehrt.„ als Antwort auf meine Behauptung/Feststellung, dass wir alle einem kulturellen Druck ausgesetzt sind, der uns zum richtigen Denken/Verhalten bringen will.

    Letztlich ging es mir darum, zu sagen, dass die staatlichen und nicht-staatlichen Anstrengungen, dass die „Propaganda“, die uns zu sich gesünder verhaltenden Bürgern machen will nur Teil eines viel grösseren Pakets ist zu dem eben auch Dinge wie die Gleichsstellungspolitik, das Bestreben nach Nachhaltigkeit, Anti-Sexismus, politische Korrektheit bis hin zur Gendersprache, die Propagierung einer veganen Lebensweise und die Verteufelung des Fleischkonsums und vieles mehr gehört. Für mich sind das keine getrennten Dinge. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Verbannung von Rauchern aus den Wirtsstuben (den Restaurants) und der Verteufelung von Fleisch, denn beides lässt sich in die Kategorie „DU MUSST GESÜNDER LEBEN“ (ein neues Gebot) einordnen. Tatsächlich habe ich bis vor kurzem ähnlich gedacht wie Stephan Schleim und Entscheidungen für oder gegen Tabak, für oder gegen Fleisch den individuellen Vorlieben zugeordnet. Klar sind sie das, aber eben nicht nur. Auch wie man mit seinen Kindern umgeht ist heute nicht eine rein individuelle Entscheidung, sondern es gibt gesellschaftliche Einflüsse und eine halboffizielle Meinung, dazu, was richtig und was falsch ist.

    Gruss von meinem Kurzaufenthalt in Triest

  26. @Holzherr:Gutmenschen
    Dann gibt es nur eine Lösung: Schrumpfung in der Demographie.

  27. @ Martin Holzherr:

    “Auch wie man mit seinen Kindern umgeht ist heute nicht eine rein individuelle Entscheidung, sondern es gibt gesellschaftliche Einflüsse und eine halboffizielle Meinung, dazu, was richtig und was falsch ist.”

    Heute gibt es Kinderrechte. Früher gab es ganz andere “gesellschaftliche Einflüsse”: https://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_Haarer

    Der Hinweis darauf, dass der Appell, sich gesund zu verhalten, mit Verhaltensnormierungen einhergeht, ist natürlich trotzdem richtig und wird in der Gesundheitssoziologie seit langem kritisch reflektiert. Schon 1993 hat z.B. Hagen Kühn mit Blick auf die amerikanische Gesundheitspolitk von “Healthismus” gesprochen und Julie Zeh hat solche Überlegungen mit ihrem Roman Corpus Delicti 2009 in weiten Kreisen hierzulande popularisiert.

    Auch das ist an sich nichts historisch Neues, Gesundheitslehren waren immer gesellschaftliche Ordnungslehren. Nur die Form ist heute anders, passend zum modernen Selbstverantwortlichkeitsdenken.

  28. @Stephan 12.03. 17:46

    „Ich glaube nicht, dass das Ego so funktioniert, also so “vernünftig”.“

    Gerade ziemlich alte Menschen haben mit dem Sterben oft weniger Probleme. Insbesondere nachvollziehbar, weil die Angst vor dem Tod doch vernünftigerweise eigentlich die Angst um verpasstes Leben sein sollte. Wer hier potentiell noch viel vor hat, z.B. weil er eher noch jung ist, der hat auch mehr Angst vor dem Tod.

    „In der Regel wollen wir Unangenehmes doch verdrängen,…“

    Neben den Ärzten, die einen zu Maximalbehandlungen drängen, sind es vor allem auch die eigenen Angehörigen. Die haben wiederum ihre eigenen Interessen, wollen einen z.B. nicht verlieren, und vor allem wenn sie jünger sind, haben sie ein unentspannteres Bild vom Tod. Der Todkranke selber hat sich meistens viel früher mit dem baldigen Tod abgefunden als sein Anhang.

    „…wie gesagt, lässt sich hier kaum eine allgemeingültige Formel finden.“

    Unbedingt, wer die Maximalbehandlung will, sollte sie auch bekommen. Wer aber nicht, den sollte man auch in Ruhe lassen, nicht nur seitens der Ärzte, sondern vor allem seitens der eigenen Angehörigen.

  29. Kultur, Übergewicht, Alkohol und Rauchen
    Jeder kann dick oder zum Raucher und Trinker werden, doch in Japan ist die Wahrscheinlichkeit übergewichtig zu werden um vieles kleiner als in den USA oder in Mexiko. In Japan spucken selbst die Snackautomaten Miniportionen aus verglichen mit denen in den USA und zuhause wird Grüntee getrunken anstatt Cola.Restaurants in den USA servieren regelmässig Überportionen (zur Kundenbindung), in Japan nicht.
    Ähnliches gilt für das Rauchen und Trinken. Wer jung ist und Raucher als Kollegen hat, beginnt viel eher mit dem Rauchen und wenn Feste/Parties immer auch mit Alkoholkonsum einhergehen, dann kommt man eher auf den Geschmack, als wenn das nicht so ist.

    Denn Essen, Trinken und Rauchen geschehen immer in einem Umfeld und im weiteren Sinn ist dieses Umfeld kulturell bestimmt. Beim Rauchen speziell als Suchtkrankheit gilt: wer verhindert, dass Jugendliche zu Rauchen beginnen, vermindert die Zahl der Raucher einer ganzen Generation deutlich.

  30. @Holzherr: Folgen

    Ich gönne jedem Menschen seinen Alkohol-, Fleisch- oder Zigarettengenuss. (Ich trinke gerade selbst ein Glas Kakao. Das ist mein “Frühstück”. Zwei Mahlzeiten am Tag reichen auch.)

    Man sollte aber auch über die Folgen nachdenken: Gerade die massenhafte Fleisch- und Fischproduktion ist extrem schlecht für die Umwelt.

    Die Gerade in liberalen und libertären Kreisen verbreitete Vorstellung, wir Menschen seien autarke Inselchen, ist eine Illusion, die für Gesellschaft und Umwelt schwere Schäden verursacht.

  31. P.S. Zum Fleischkonsum

    Vielleicht eine Klärung: Auch wenn ich selbst seit meinem 16. Lebensjahr (mit wenigen Ausnahmen) auf Fleisch und Fisch verzichte, zwischendurch auch einmal ganz vegan lebte, würde ich es darum trotzdem nicht verbieten.

    Ein weiser Mensch sagte einmal: Wichtiger als die letzten 10% sind die ersten 90% unseres Verhaltens. Das gilt sicher auch fürs Essen. Diesen Massenkonsum reduzieren, dann tut man nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Umwelt und Gesellschaft etwas Gutes.

    Wie so oft funktioniert hier das Prinzip der Externalisierung der Kosten: Die finanziellen Gewinne (z.B. des Fleischkonsums) werden privatisiert, doch ein großer Teil der Kosten (denken wir an Brandrohdungen in den Urwäldern) wird der Allgemeinheit aufgebürdet. Die Produkte müssten also eigentlich viel teurer sein, wie auch beim CO2-Ausstoß.

  32. @Kuhn: Danke für den Hinweis. Und dass Sie sich in einem Gesundheitsblog immer noch trauen, als Autor mit einem Glas Wein abgebildet zu sein… 😉

  33. @Tobias: endliches Leben

    Der Neuropsychiater Ludger Tebartz von Elst, der hier bei den Interviews schon zu Gast war, hat letztes Jahr dieses (vom Verlag leider sehr teuer angebotene) Büchlein über den Transzendenten Trieb geschrieben. Will heißen: Wir Menschen haben ein (nicht notwendigerweise religiöses) Bedürfnis, zu etwas Größerem zu gehören; das kann auch ein Sportverein, können Kunstwerke, Bücher, Kinder… sein.

    Ich halte das für eine Bewältigungsstrategie des Egos, das mit seiner eigenen Endlichkeit nur schwer umgehen kann. Wenn ältere Menschen nicht mehr so sehr am Leben hängen, liegt das dann nicht vor allem an den erfahrenen Einschränkungen, Wehwehchen und chronischen Erkrankungen?

    Das Verlangen nach Unsterblichkeit hat es doch wohl in allen Zeiten schon gegeben.

  34. Zitat Stephan Schleim: Das Verlangen nach Unsterblichkeit hat es doch wohl in allen Zeiten schon gegeben.

    Der Held im Gilgamesch-Epos ist ein Halbgott, der Unsterblichkeit wieder erlangen will und dafür bereit ist, auf Vergnügen zu verzichten. Am Schluss bleibt ihm nur unsterblich zu werden als der, welcher eine Stadtmauer um Uruk erbauen liess.

    Allerdings: Wer unsterblich werden will, will meist auch ewig jugendlich bleiben. Älter werden bedeutet eben auch physisch näher an den Tod zu rücken. Jedenfalls meistens.

  35. Prävention, Konsum und Kultur
    Die niederländische Regierung will Rauchen, Trinken von Alkohol und übermässiges Essen vor allem über Massnahmen auf der Konsumseite (Rauchen, Alkohol) und über Informationskampagnen (Übergewicht) angehen. Rauchen soll über unattraktiv aussehende Schachteln und Verteuerung reduziert werden, Trinken über das Verbot, die Einschränkung von Aktionen und übermässigem Essen soll mit Informationskampagnen begegnet werden.

    Besser aber wären kulturelle Änderungen. Keine Filme im Fernsehen und Kino mehr in denen geraucht wird oder nur Filme in denen die Raucher negativ herüberkommen. Keine öffentlichen Anlässe mehr an denen Alkohol 🍷 ausgeschenkt wird. Auch nicht bei Lesungen, Vernissagen, etc.
    Fernsehserien in denen die positiv besetzten Typen weder zu dick noch zu dünn sind mit detaillierter Darstellung ihres Ess- und Trinkverhaltens. Dazu unkonventionell Agierende, die aber unkonventionell sind ohne zu rauchen oder zu trinken.
    Vom Staat finanzierte Verbreitung einer neuen Esskultur, in der etwa langsames Essen in Kombination mit Gesprächen und dem Trinken von kalorienarmen Getränken propagiert wird.

    Fazit: Die Kultur bestimmt den Konsum, nicht umgekehrt – ausser von der Kultur ist nur noch der Konsum übriggeblieben.

  36. @Kuhn 12.03. 21:31

    „Kritik an der gesundheitlichen Verhaltensnormierung aus einer ganz eigenen Ecke:…“

    Sich eher Geisteswelten zuzuwenden, und nicht nur das nackte biologische Leben allein zu sehen, das ist meine ich wirklich eine gute Idee. Eine Gesundheitsreligion ist denn wohl vor allem dem geistigem Vakuum zu verdanken, das einem grundsätzlichem Ausschluss von Geisteswelten unweigerlich folgt.

    Das ist auch keine vernünftige Lebenseinstellung, wenn man sich ständig zwischen gesunder Ernährung und Vorsorgeuntersuchungen bewegt. Das Leben selber ist doch interessant, alles nur in die Lebenserhaltung zu investieren, ist meine ich irgendwie grundsätzlich verkehrt.

    @Stephan 13.03. 09:44

    „Ich halte das für eine Bewältigungsstrategie des Egos, das mit seiner eigenen Endlichkeit nur schwer umgehen kann.“

    Also ich glaube tatsächlich, dass wir zum Teil Geisteswesen sind, und dass unsere geistige Seite Teil einer größeren, universellen Geisteswelt ist. Nach dem Tod löst sich dann unsere geistige Seite im universellem Geist wieder auf, genau dahin, wo sie auch hergekommen ist.

    Das habe ich mir nicht ausgedacht, um mit meiner Endlichkeit klar zu kommen, sondern um meine Endlichkeit tatsächlich zu überwinden.

    „Wenn ältere Menschen nicht mehr so sehr am Leben hängen, liegt das dann nicht vor allem an den erfahrenen Einschränkungen, Wehwehchen und chronischen Erkrankungen?“

    Klar spürt man, wenn man zunehmend altert, dass es gegen ein Ende geht. Und oft werden die Wehwehchen immer mehr. Je eingeschränkter man im Laufe der Zeit wird, desto unattraktiver wird das eigene Leben, und es kann sogar eine richtige Todessehnsucht daraus werden, die man nicht mit normaler Suizidalität gleichsetzen sollte. Wenn man mit seinem Leben wirklich durch ist, dann kann man auch gehen. Wenn der Körper zusehens nicht mehr kann, wird es einfach Zeit zu sterben.

    Das kann dann wirklich auch eine Motivation sein, etwa eine aufwändige Krebsbehandlung abzulehnen, wenn sie mit viel Leid verbunden ist, und kaum Aussicht auf Erfolg hat, aber dennoch angeboten wird.

    „Das Verlangen nach Unsterblichkeit hat es doch wohl in allen Zeiten schon gegeben.“

    Ich sehe dieses Verlangen so, dass wir tatsächlich auch Geisteswesen sind, und deshalb auch zu Ideen und Kulturen neigen, die versuchen, Geisteswelten zu integrieren.

    Sollte die Medizin Wege finden, das Altern aufzuhalten, und dann noch so, dass man im Prinzip körperlich jung dabei bleibt, dann hätten wir eine neue Situation. So wird man dann wohl auch Wege finden, 150 oder 200 Jahre Lebenszeit irgendwie mit Lebenssinn zu füllen. Ich weiß nicht, ob mir das gelingen würde. Da müsste ich mir erstmal eine neuen Plan machen. Und vielleicht mit 80 nochmal ein Studium anfangen, um die viele zusätzliche Lebenszeit auch zu nutzen. Und vor allem, damit es dann nicht einfach irgendwann nur noch langweilig ist, wenn man dann 130 ist, und doch schon ziemlich viel vom Leben kennt.

  37. Was Helden, Menschen in Büchern tun, ist Vorbild für alle
    Zitat aus Allegro Pastell von Leif Randt:

    Als Paar nach dem Sex auf dem Balkon zu sitzen und schweigend grünen Tee zu trinken, war einfach schöner, als zu rauchen, dachte Jerome. Er musste schmunzeln, was Tanja sofort bemerkte, sodass auch sie zu lächeln begann.

    Merke: Leben/Alltag (auch+gerade abgebildet) ist auch Product (und Ideen/Normen) Placing.

  38. Gesundheit kommt ja wohl von innen heraus, aus der Überzeugung dass man etwas tun muss, handeln muss. Viele handeln erst wenn sie Krankheiten erlebt haben oder wenn sie durch andere leidvolle Erlebnisse zur Überzeugung kommen das sie in dieser Stressgesellschaft ihr Leben falsch gestalten. Viele sind aber auch in diesem Hamsterrad so gefangen, dass sie gar nicht ausbrechen können, dass diese Leistungsgesellschaft mit ihnen Russisch Roulette spielt, dass sie von dieser Gesellschaft ausgesaugt und ausgespuckt werden. Drogen sind da nur ein vermeintlicher Rettungsanker und die leeren Sprechblasen der Politiker nimmt man dann in diesem Hamsterrad schon gar nicht mehr wahr. Sind die Niederlande denn noch “ein Volk” , bzw. was ist ein Volk , heute wo jeder sein eigener Gott sein will , wo Parallelgesellschaften aus Arm und Reich, aus Religionen, Migranten, bestehen , wo diese wahrscheinlich unterschiedliche Vorstellungen von “Gesundheit” haben.

  39. Stephan Schleim, und andere
    mit Umweltgiften ist auch die Atemluft gemeint. Wer an einer Hauptverkehrsstraße wohnt hat keine Wahlmöglichkeit.
    Unser Trinkwaser ist mit Nitraten am Grenzwert, wir haben keine Wahl.

    Bei den Lebensmitteln haben wir die Wahl. Einfache Mahlzeiten wie Quark und Kartoffeln schmecken gut.

    Und bei der Bewegung haben wir die Wahl. Wir fahren mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto.

    Männer haben die Wahl.. Alleinerziehende Mütter haben keine Wahl, die müssen sich den Gegebenheiten beugen. Die brauchen staatliche Hilfe.

  40. Tabakverbot für nach 2010 Geborene in Dänemark
    Gemäss Ab Jahrgang 2010: Dänemark erwägt Tabakverkaufsverbot für künftige Generationen gilt:

    Die dänische Regierung zieht offenbar in Betracht, den Verkauf von Tabakwaren für Menschen ab dem Geburtsjahrgang 2010 stufenweise zu verbieten.

    »Unsere Hoffnung ist, dass alle Menschen, die 2010 und später geboren wurden, nie mit dem Rauchen und der Nutzung nikotinbasierter Produkten anfangen«, wurde Gesundheitsminister Magnus Heunicke bei der Vorstellung der Pläne zitiert.

    Dänemark wäre nicht das erste Land, das künftigen Generationen das Rauchen per Gesetz vollständig verbieten will. In Neuseeland wird ab dem Jahr 2025 ein generelles Verkaufsverbot von Tabakwaren gelten. Personen, die beim Inkrafttreten des Gesetzes mit dem Namen »Smokefree 2025 Action Plan« 14 Jahre oder jünger seien, können demnach niemals legal Tabakprodukte kaufen.

    Tabak soll also vollständig verschwinden indem er zur illegalen Substanz/Droge wird.

    Meine Perspektive: Was die Moderne in Bezug auf Drogen von der Vormoderne unterscheidet ist die Vielzahl von Drogen und missbräuchlich verwendeten Medikamenten zur Beeinflussung von Stimmung und psychischem Zustand. Viele Menschen schlucken/rauchen/spritzen mehrere Substanzen um sich in die „richtige“ Stimmung zu bringen. Die Moderne ist also ein Zeitalter der Polytoxikomanie. Vielleicht braucht es wirklich so drastische Massnahmen wie in Dänemark, Neuseeland und vielleicht bald auch den Niederlanden, um eine neue Generation von allen psychotropen Substanzen zu entwöhnen oder sie sie gar nie kennen zu lassen.

  41. Die Alternative zur Illegalität: Drogen per Rezeptschein
    Tabak und vielleicht bald schon Alkohol zu illegalen Substanzen zu machen ist nicht ohne Probleme, denn es verbannt viele Menschen und ihren Konsum in die Illegalität. Eine Alternative könnte sein, dass man Tabak, Alkohol, Cannabis und wer weiss noch was in der Apotheke per Rezeptschein erhält. Damit könnte man den Konsum legalisierem/ermöglichen, hätte gleichzeitig aber eine Kontrolle über die Personengruppe, die solche Substanzen konsumiert.

  42. Übergewicht, Tabak, Alkohohol und Medikamentenmissbrauch sind stark kulturell beeinflusst
    Zitat Stephan Schleim im obigen Beitrag:

    In einem kapitalistischen System geht es immer ums Geld: Kosten müssen runter, Gewinne müssen rauf. Das hat auch Auswirkungen aufs Gesundheitssystem, das inzwischen in vielen Ländern nach Marktprinzipien eingerichtet ist.

    Für viele leben wir in einer kapitalistischen Kultur und das würde dann bedeuten, dass der Kapitalismus auch für das verbreitete Übergewicht und den Tabak- und Alkoholkonsum verantwortlich ist, wenn man (kapitalistischen) Lebensstil und (kapitalistische) Kultur für verantwortlich dafür hält ob Übergewicht und Sucht sich verbreiten.

    Wie aber erklären man dann aber, dass Übergewicht und Fettsucht in Japan kein Problem ist (nur 3-5% Japaner sind adipös), wo doch Japan genau so ein kapitalistisches Land ist wie Deutschland oder die USA. Japaner essen pro Tag durchschnittlich 200 Kilokalorien weniger als US-Amerikaner und ernähren sich vorwiegend von Fisch, Gemüse und Sojaprodukten, womit ihre Ernährungsweise sich trotz ähnlichem Wirtschaftsmodell radikal von demjenigen der USA unterscheiden. Japan ist zwar kapitalistisch, aber nicht US-kapitalistisch. Wenn Stephan Schleim vom Kapitalismus als Mutter aller Über spricht, dann meint er wohl den US-Kapitalismus und nicht die Marktwirtschaft an und für sich.
    Meine Sicht: Die USA üben eine starke Softpower über Kino, Netflix, andere Medien, über US-Shopping-Malls, Online-Dienste und viele weitere Kanäle auf Westeuropa und Lateinamerika aus. Damit verbreitet sich auch der ungesunde Ess- und Lebensstil ( samt Fastfood und übergrossen Portionen) der USA um die ganze Welt und nur gerade Inselnationen wie Japan vermögen sich dem mit ihrer eigenen Kultur entgegenzustemmen. Das ist allerdings etwas übertrieben, denn neben den Ländern, die aus Armut kein Übergewichtsproblem haben gibt es neben Japan noch weitere wohlhabende Länder ohne Übergewichtsproblem. Nämlich Singapur und Südkorea.
    Mir scheint, ein marktbasiertes, also kapitalistisches System determiniert nicht per se die Esskultur und das Verhalten gegenüber Drogen und Medikamenten – ausser man setzt Kapitalismus mit US-Kapitalismus samt US-Lebensstil gleich.

    Generell gilt wohl, dass auch in den USA oder in Deutschland für sehr viele Übergewicht und Drogenkonsum kein Problem sind, dass aber alle Anfälligen unzähligen (Konsum-)Einflüssen eingesetzt sind, die, wenn man ihnen nachgibt, geradewegs zu Übergewicht, Rauchen, Saufen, Medikamentenmissbrauch und Party- und Freizeitdrogengebrauch führen.

    Kultur statt Konsum: Die US-Kultur ist eine Kultur des Konsums und ein typisches US-Tagebuch wird wohl einer Einkaufs-/ und Konsumliste ähneln. Doch das muss nicht so sein. Wir hier in Europa sollten wieder entdecken, dass Kultur noch etwas anderes ist als nur Konsum.

  43. Martin Holzherr
    17.03.2022, 11:30 Uhr

    Ich darf mich mal ausnahmsweise selber zitieren:

    Der andere Fall liegt darin, dass wir von der Natur für eine gewisse Lebensweise “konstruiert” worden sind, ein mühsames, anstrengendes Leben zum Überleben. Mit unserer Technik haben wir es uns einfach gemacht, wir jagen die Beute nicht mehr mit viel Aufwand, sie hängt schon tot und zerstückelt am Haken hinter der Theke oder ist bereits eingetütet/eingebüchst im Regal. Selbst zu diesem Ort müssen wir nicht mehr laufen, wir können uns mit leichtem Tritt aufs Gaspedal dorthin fahren lassen. Damit gerät unsere Physiologie gleich 2x aus dem Takt, wenig Aufwand für ganz viel Ertrag, so war das in der Evolution für den homo sapiens sapiens niemals vorgesehen. Im Endeffekt gerät unsere Physiologie aber nochmals aus dem Takt, weil in dem so Eingetüteten/Eingebüchsten nicht nur mehr Zucker und/oder mehr Salz und/der mehr Kalorien als natürlich vorgesehen drin sind, sondern auch jede Menge anderer Chemikalien ( Zuckerersatz, Konservierung, Textur, Geschmack, Farbe ), deren Auswirkungen wir auf unsere Physiologie noch überhaupt nicht verstanden haben, geschweige denn, was sich alles aus der Verpackung im Inhalt wiederfinden lässt.

    Und obwohl ich mich selbst nicht immer daran halte, habe ich mir wenigstens so ungefähr vorgenommen, nur das zu essen, wo ich noch sehen kann, woher es kommt – und, was ich auch ohne Probleme roh essen könnte – könnte, nicht muss.

  44. @Maier: Ja, ich denke auch, dass man es biologisch so auf den Punkt bringen könnte: In unseren “Wohlstandsgesellschaften” ist es viel zu leicht geworden, an kalorienreiche Nahrung heranzukommen. Daran sind unsere Körper nicht gewöhnt. Und daher kommt es dann zu den bekannten Wohlstandserkrankungen.

  45. Sucht als (Mit-)Ursache von Mord, als Ursache von Straftaten
    Im NZZ-Forschung und Technik -Artikel «In den meisten Fällen müssen wir sagen: So richtig gestört ist das nicht» vom19.3.2022 liest man:
    Frage: „Worunter leiden die seelisch kranken Straftäter? [etwa 30% aller Straftäter]“
    Friederike Höfer:

    Ungefähr 80 Prozent von ihnen leiden unter Suchterkrankungen oder nehmen Drogen in schädlichem Ausmass. Ein weiterer kleiner Teil hat Persönlichkeitsauffälligkeiten oder Persönlichkeitsstörungen. Eher selten sind Straftäter, die eine Schizophrenie oder Psychosen entwickelt haben. Dabei sind die häufig hervorragend behandelbar. Selten sind echte Psychopathen, die in den Medien dafür überrepräsentiert sind.

    Drogenkonsum ist also nicht nur selbstschädigend, es ist nicht allzu selten auch ein wichtiger (Mit-)Grund für schwerwiegende Straftaten, denn wer süchtig ist, dessen Welt verengt sich. Eine Süchtige ist per se keine reflektierende Person mehr. Bei ihr fehlen oft die inneren Bremsen und die natürliche Zurückhaltung, die den meisten anderen innewohnen.

  46. @Stephan 18.03. 08:53

    „In unseren “Wohlstandsgesellschaften” ist es viel zu leicht geworden, an kalorienreiche Nahrung heranzukommen. Daran sind unsere Körper nicht gewöhnt. Und daher kommt es dann zu den bekannten Wohlstandserkrankungen.“

    Und doch werden wir seltener krank und werden auch viel älter. Mangelernährung ist ein vielfach schlimmeres Gesundheitsrisiko als Übergewicht. Und gerade starke körperliche Beanspruchung ist noch viel destruktiver für den gesamten Körper als unserer zivilisatorische Bewegungsmangel.

    Es geht auch im Leben gar nicht darum „fit“ und sportlich zu sein. Ich vermute hier ein Missverständnis einer regelrecht religiös gedeuteten Evolutionstheorie: Wer fit ist, ist der Bessere, also trainiere ich mich entsprechend, und versuche in jeder Hinsicht fit zu ein und fit auszusehen, so kann ich meiner biologischen „Bestimmung“ nachkommen.

    Dabei will die Evolution von uns überhaupt nichts. Der Geeignete (engl. fit = passend) setzt sich zwar durch, allerdings nur über die Gene, die er hat. Die lassen sich aber mit Fitnesstraining nicht beeinflussen: Wenn Deine Gene nichts taugen, dann kannst Du soviel trainieren wie du willst, es ändert überhaupt nichts. Macht auch nichts, es kann Dir völlig egal sein, welche menschlichen Gene sich zukünftig durchsetzen. Wie viele von Deinen dabei sind, das muss jetzt wirklich nicht deine Sorge sein. Das geht schon seinen Weg. Dein eigenes Leben als Individuum ist trotzdem deins, und das musst Du leben.

    Ob nun dick und träge oder fit und sportlich. Die Mitteldicken werden sogar älter als die Schlanken, und richtige Leistungssportler ruinieren ihre Gesundheit fast schon so gründlich wie Drogensüchtige.

    Nix gegen Sport, und Leistungsfähigkeit zahlt sich auch beim nächsten Umzug aus. Aber das kann man glaube ich ganz schnell übertreiben.

  47. @Tobias Jeckenburger (Zitat): „ Ob nun dick und träge oder fit und sportlich. Die Mitteldicken werden sogar älter als die Schlanken, und richtige Leistungssportler ruinieren ihre Gesundheit fast schon so gründlich wie Drogensüchtige.„

    Richtigstellung 1: Übergewicht hat wenig mit Sport zu tun. Denn man kann die Einnahme von zu viel Kalorien nicht über eine sportliche Betätigung kompensieren – ausser man betreibt exzessiv Sport so wie professionelle Sportler, die jeden Tag mehrere Stunden Sport betreiben.

    Richtigstellung 2: Die Mitteldicken werden nicht älter als die Schlanken. Das ist ein Märchen, welches durch kürzlich durchgeführte, gross angelegte Studien mit sehr viele Teilnehmern widerlegt wurde. Und diese Studien ergaben, dass nicht nur Adipöse, sondern bereits Übergewichtige (BMI > 25) ein grösseres Risiko beispielsweise für die Ausbildung einer Herz-Kreislauferkrankung oder eines Diabetes haben. Beides Krankheiten, die das Leben verkürzen. Eine vollständigere Liste aller mit Übergewicht und Adipositas einhergehenden Erkrankungen finden sie hier.

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