Skandal im Forschungsministerium: Sollte die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt werden?
Bundesministerin Stark-Watzinger entlässt ihre Staatssekretärin Sabine Döring. Ist damit das Problem vom Tisch?
Es ist nicht leicht, als Philosophin auf die Titelseiten aller Nachrichtenportale zu gelangen. Und man hätte Professorin Sabine Döring, Spezialistin für die Philosophie der Emotionen, einen besseren Anlass gewünscht. Im Februar 2023 gab sie ihre Professur für praktische Philosophie an der Universität Tübingen auf, um als Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung auf Kornelia Haugg zu folgen. Jetzt hat sich ihre Chefin, Bettina Stark-Watzinger (FDP), nach nicht einmal eineinhalb Jahren von ihr getrennt.
Es begann alles mit pro-palästinensischen Protesten an Berliner Universitäten im Mai. In einem von rund 1400 Akademikerinnen und Akademikern unterschriebenen offenen Brief setzten sich die Unterzeichner für das”Recht auf friedlichen Protest, das auch die Besetzung von Uni-Gelände einschließt”, der Studierenden ein. Ferner sahen es die Unterzeichner als “Pflichten der Universitätsleitung, solange wie nur möglich eine dialogische und gewaltfreie Lösung anzustreben.” Diese Pflicht habe das Präsidium der FU Berlin durch Veranlassung einer polizeilichen Räumung verletzt.
Der – insgesamt recht kurze – Brief schloss mit der Forderung:
“Wir fordern die Berliner Universitätsleitungen auf, von Polizeieinsätzen gegen ihre eigenen Studierenden ebenso wie von weiterer strafrechtlicher Verfolgung abzusehen. Der Dialog mit den Studierenden und der Schutz der Hochschulen als Räume der kritischen Öffentlichkeit sollte oberste Priorität haben – beides ist mit Polizeieinsätzen auf dem Campus unvereinbar. Nur durch Auseinandersetzung und Debatte werden wir als Lehrende und Universitäten unserem Auftrag gerecht.”
offener Brief
Die Autorinnen und Autoren hatten sich gleich am Anfang von dem Inhalt der Proteste distanziert, sondern sich auf die Freiheit der Meinungsäußerung, der Debatte und das Demonstrationsrecht gerichtet: “Unabhängig davon, ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind, stellen wir uns vor unsere Studierenden und verteidigen ihr Recht auf friedlichen Protest, das auch die Besetzung von Uni-Gelände einschließt.”
Fassungslose Ministerin
Ich hatte selbst Anfang Mai über die Eskalation der Proteste an niederländischen Universitäten geschrieben, doch mich aus der deutschen Debatte herausgehalten. Dennoch wunderte ich mich über die Schärfe, mit der Ministerin Stark-Watzinger den offenen Brief verurteilte. Ich konnte insbesondere nicht nachvollziehen, wie sie in dem Einsatz für Grundrechte (mein Verständnis) eine Nähe zu Antisemitismus oder gar dem Terror der Hamas sehen konnte. Gerade bei einer Spitzenpolitikerin der freien Demokraten überraschte mich das.
Auch rund einen Monat später hält sie an ihrer kritischen Deutung fest. In ihrer Erklärung vom 16. Juni lässt sie verlauten:
“Es macht mich bis heute fassungslos, wie einseitig in diesem Brief der Terror der Hamas ausgeblendet wurde. Und wie dort etwa pauschal gefordert wurde, Straftaten an den Universitäten nicht zu verfolgen, während gleichzeitig antisemitische Volksverhetzung und gewalttätige Übergriffe gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger zu beobachten sind.”
Erklärung von Stark-Watzinger vom 16.6.2024
Am Ende der Erklärung macht sie es vor, wie man sich ihrer Meinung nach richtig distanziert: “Abschließend möchte ich klarstellen: Der unfassbare Terror der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat das Leben der Jüdinnen und Juden verändert – nicht nur in Israel, sondern auch bei uns in Deutschland.” Danach folgt ein Absatz darüber, wie schlimm die heutige Lage für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt ist.
Sollen wir jetzt alle Aufrufe für Grundrechte und Frieden in die Antisemitismus-Ecke stellen, wenn darin nicht erst der Hamas-Terror hinreichend verurteilt wurde? Und könnte man die Kritik der Bundesministerin nicht ebenso gegen sie selbst richten? Denn auch viele Zivilistinnen und Zivilisten im Gazastreifen werden gegen ihren Willen von Hamas-Terroristen auf “unfassbare” Weise instrumentalisiert. Laut palästinensischen Angaben wurden Zehntausende von ihnen, Kinder, Frauen und Männer, im Gazakrieg getötet. Diese unschuldigen Opfer sind der Ministerin keine Silbe wert.
Brisante E-Mails
Laut jetzt in den Medien veröffentlichte E-Mails gab schon am 13. Mai ein “Mitglied der Leitung des Ministeriums” den Auftrag, “eine juristische Prüfung einer etwaigen strafrechtlichen Relevanz der Aussagen in den [sic!] offenen Brief” sowie “eine förderrechtliche Bewertung, inwieweit vonseiten des BMBF ggf. förderrechtliche Konsequenzen (Widerruf der Förderung etc.) möglich sind” vorzunehmen. Es eilte: Noch am selben Tag sollte eine Antwort erfolgen, gegebenenfalls unter Einbeziehung von Bundesjustiz- und Bundesinnenministerium.
Ich empfehle selbst, die rund eine Stunde später erfolgte, “zugegebenermaßen etwas irritierte” Reaktion auf die “Prüfbitte” sowie die dann erfolgte schriftliche Präzisierung zu lesen, in der der offene Brief in Bezug zu möglicher Volksverhetzung gestellt wird und es heißt:
“In der Kommunikation der Leitung wurde auch angezweifelt, dass die Hochschullehrer auf dem Boden des [Grundgesetzes] stehen. Kann man dem Schreiben extremistische Aussagen entnehmen? Wenn Aussagen durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind, bewegt man sich doch auf dem Boden des Grundgesetzes. Sehen Sie hier so etwas greifen wie etwa ‘öffentliche Aufforderung zu Straftaten’? Strafvereitelung?”
E-Mail im BMBF, 13.5.2024, nach 11 Uhr
Am Nachmittag folgen dann zwei E-Mails, offenbar von juristisch geschultem Personal des Ministeriums, die die Spekulationen deutlich in die Schranken weisen. Für Beamtinnen und Beamten und diejenigen, die es einmal werden möchten, empfehle ich die Ausführung zum Mäßigungsgebot. Im Endergebnis heißt es:
“In der Gesamtschau erscheint es daher nach hiesigem Verständnis fernliegend, in dem Brief einen Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht, das Mäßigungsgebot oder die Wohlverhaltenspflicht von Beamten zu erblicken, aus dem disziplinarrechtliche Maßnahmen abzuleiten wären.”
E-Mail im BMBF, 13.5.2024, nach 15 Uhr
Missverstandene Staatssekretärin
Laut den Medienberichten ging die Anfrage von Staatssekretärin Sabine Döring aus – und fühlt sie sich nun missverstanden. Tatsächlich heißt es nun in der Erklärung der Bundesforschungsministerin:
“Die für die Hochschulabteilung fachlich zuständige Staatssekretärin Prof. Dr. Sabine Döring hat – wie schon öffentlich bekannt – den zugrundeliegenden Prüfauftrag veranlasst. Ebenfalls hat sie erklärt, dass sie sich bei ihrem Auftrag der rechtlichen Prüfung offenbar missverständlich ausgedrückt habe. Nichtsdestotrotz wurde der Eindruck erweckt, dass die Prüfung förderrechtlicher Konsequenzen auf der Basis eines von der Meinungsfreiheit gedeckten offenen Briefes im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erwogen werde. Das widerspricht den Prinzipien der Wissenschaftsfreiheit. Prüfungen förderrechtlicher Konsequenzen wegen von der Meinungsfreiheit gedeckten Äußerungen finden nicht statt.”
Erklärung von Stark-Watzinger vom 16.6.2024
Und dann folgt die knappe Begründung der Entlassung:
“Der entstandene Eindruck ist geeignet, das Vertrauen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in das BMBF nachhaltig zu beschädigen. Vor diesem Hintergrund und da ich im Prozess der Aufarbeitung zu der Überzeugung gelangt bin, dass ein personeller Neuanfang nötig ist, habe ich den Bundeskanzler darum gebeten, Staatssekretärin Prof. Dr. Sabine Döring in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Ich danke Sabine Döring für ihren Einsatz für Bildung, Wissenschaft und das BMBF.”
Erklärung von Stark-Watzinger vom 16.6.2024
Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
Durch gutes Lesen hätte man diesen Skandal vermeiden können: Der offene Brief bezog sich ausdrücklich auf das “Recht auf friedlichen Protest” sowie das “verfassungsmäßig geschützte Recht, sich friedlich zu versammeln”. Es wird auch auf die von mir schon zuvor diskutierte “mittelbare Drittwirkung” von Grundrechten verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass die Versammlungsfreiheit das Hausrecht auch für öffentlich zugängliche und für öffentliche Zwecke genutzte Orte einschränkt. Mit anderen Worten: Auch öffentliche Universitäten müssen bis zu einem gewissen Grad politische Proteste hinnehmen.
Leider ist nicht zu vermeiden, dass allgemeine Freiheiten von Einzelnen missbraucht werden. Ich hatte selbst über die Proteste an niederländischen Universitäten geschrieben, dass die Mehrheit friedlich vorgeht, doch eine Minderheit auf Krawall und Zerstörung aus zu sein scheint. Sollen wir darum aber die Freiheit für alle abschaffen, weil sie von Einzelnen missbraucht wird? Dann könnten wir den demokratischen Rechtsstaat gleich aufgeben.
An dem Skandal ist besonders brisant, dass neben straf- und beamtenrechtlichen Fragen gleich das Einziehen bereits erteilter Fördermittel ins Spiel gebracht wurde – und zwar von oberster Stelle. Um politische Einflussnahme in der Wissenschaft zu verhindern, oder zumindest zu erschweren, liegt die Entscheidung über die Zuteilung und – in seltenen Fällen – Widerrufung von Forschungsgeldern aber bei den unteren Fachabteilungen; also dort, wo die Förderung auch beantragt wird.
Spekulation
Trotz der Entlassung ihrer Staatssekretärin bleibt die Bundesforschungsministerin weiterhin in der Kritik. Meines Erachtens hat sie sich damit keinen Gefallen getan, den offenen Brief gleich in die Ecke von Antisemitismus und Hamas-Verharmlosung zu stellen, übrigens über ein halbes Jahr nach dem furchtbaren Terrorangriff. Diesen Standpunkt hat sie in ihrer Erklärung vom 16. Juni nun noch einmal unterstrichen.
Vielleicht wollte die Staatssekretärin ihrer Ministerin einen Gefallen damit tun, rechtliche Sanktionen gegen die Unterzeichner des offenen Briefs zu prüfen. Was ihre Gründe auch waren: Dieser Eifer fiel ihr jetzt auf die Füße. Ich bin gespannt, ob sie an die Universität Tübingen zurückkehren kann – und ob Bundesministerin Stark-Watzinger durch die Entlassung nun selbst entlastet ist.
Die größere Frage wäre, wie es in dem heutigen Wettbewerbsmodell um die Wissenschaftsfreiheit bestellt ist. Man kann nicht nur durch eine Entlassung oder Widerrufung von Mitteln Einfluss nehmen – sondern eben auch durch die Steuerung von Geldströmen. Die Universitäten sind heute in vielen Ländern so kaputt gespart (Erstmittel), dass sie finanziell an den Fördertöpfen hängen (Zweit- und Drittmittel). Durch die Definition von Förderungswürdigkeit geben die Forschungsfinanzierer zumindest indirekt Kriterien dafür vor, wer sich im Konkurrenzkampf durchsetzt und letztlich in der Wissenschaft Karriere macht.
Vor genau zehn Jahren wies ich in einer Forschungsarbeit zur “kritischen Neurowissenschaft” schon einmal darauf hin, dass die vorhandene Anreizstruktur nicht unbedingt der Wahrheit dient. Oder wissen Sie, welcher Mechanismus in der Wissenschaft – aber auch in der Gesellschaft insgesamt – spezifisch die Fakten- und Wahrheitstreue belohnt?
P.S. Rücktrittsforderung
In einem von zurzeit (Stand 17. Juni, Nachmittag) über 2800 Akademikerinnen und Akademikern unterzeichneten zweiten offenen Brief wird der Rücktritt der Bundesforschungsministerin gefordert. Darin heißt es:
“Repressive Überprüfungen von Wissenschaftler:innen, die ihre kritische Haltung zu politischen Entscheidungen öffentlich machen, sind aus autoritären Regimen bekannt, die eine freie Diskussion auch an Universitäten systematisch behindern. Bereits der Anschein, die freie, gesellschaftliche Diskussion werde staatlich beschnitten, schadet unserer demokratischen Gesellschaft und dem Ansehen des Wissenschaftsstandorts Deutschland in der Welt.”
zweiter offener Brief
Allerdings wird darin Stark-Watzinger vorgeworfen, die umstrittene Prüfung von Konsequenzen selbst eingeleitet zu haben. Dafür gibt es nach meinem Kenntnisstand keine Beweise. Ob sich die Ministerin bei so viel Gegenwind aus den Hochschulen im Amt halten kann, ist aber fraglich. Auch aus der Opposition schallen Rücktrittsforderungen. Der “personelle Neuanfang”, von dem die FDP-Politikerin in ihrer Erklärung sprach, dürfe sich nicht nur auf die Staatssekretärin beschränken.
Aktualisierung
Am 10. September 2024 wurde Sabine Döring mit der folgenden Aussage zitiert:
“Nachdem die Wissenschaft ohnehin nicht glaubt, dass ich eine förderrechtliche Prüfung beantragt hätte, das Verwaltungsgericht Minden nun bescheinigt, dass das BMBF deutlich gemacht habe, dass ich es nicht war, hoffe ich, dass wir heute erfahren, wer es war.”
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