Neuro-Enhancement: Antidementiva schon im Kindergarten und vor jeder Prüfung eine Dosis von „Fokusin“?

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PillengehirnAus der Perspektive der Suchtprävention mahnt René Kostka zur Vorsicht im Umgang mit „Enhancement-Präparaten“. Außerdem verweist er auf einige fragliche Praktiken der Pharmaindustrie. Eine reine Repression sei jedoch kontraproduktiv.


Pharmakologische Interventionen zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit stellen eine neue Herausforderung für die Prävention dar. Wer möchte nicht fokussierter und schlagfertiger sein und sich dazu noch an alle Namen erinnern? Gegen Versuche, sich auf der kognitiven Ebene zu verbessern, ist im Grunde nichts einzuwenden. Auch spezielle Diät, Meditation, physische Aktivität oder eine liebevolle Zuwendung kann so eine Intervention sein. Die Frage ist: welche Optimierungsmittel in welchem Alter?

Für Patienten mit ganz spezifischen Diagnosen stellen die pharmazeutischen Neuroenhancement-Präparate (NEPs) tatsächlich eine echte Hilfe dar. Berichte über solche positive Wirkung der NEPs animieren aber auch Gesunde dazu, den Versuch zu wagen, damit zu besseren kognitiven Leistungen zu kommen.

Die Suchtprävention soll und muss vorausschauen, sonst wäre sie Therapie und nicht eine vorbeugende Tätigkeit. Welche „offizielle“ Haltung die Prävention dem Neuro-Enhancement gegenüber einnehmen wird, ist noch offen. Es wird vor allem die Datenlage bemängelt. Ich erlaube mir, hier ein paar persönliche Überlegungen zu formulieren, gestützt auf mehr als zwei Jahrzehnte praktische und theoretische Auseinandersetzung mit der Fachdisziplin Suchtprävention.

Gesellschaftlicher Diskurs ist nötig

Mit den Autoren des Artikels „Das optimierte Gehirn“ bin ich einig über die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Diskurses darüber, welche ethischen Aspekte vordergründig sind und welche neuen Fragestellungen eventuell noch juristisch geklärt werden müssen. Wenn ein gesellschaftliches Problem für alle sichtbar wird, ist es meistens zu spät oder mindestens sehr schwierig und teuer zu beheben. Deswegen müssen sich auch Fachleute aus dem präventiven Bereich schon jetzt in diese Diskussion einmischen.

Besonders beim Eingreifen in die neuropsychologischen Systeme sollte man das Prinzip der Vorsicht walten lassen. Wir wissen noch zu wenig über die NEPs in Zusammenhang mit langfristigen Persönlichkeitsveränderungen, aber zumindest die psychische Abhängigkeit kann aus gutem Grund vermutet werden.

Das gleiche Prinzip muss erst recht angewendet werden, wenn die NEPs, aus welcher Quelle auch immer, einen „Persilschein“ bekommen. Es gibt auch schon Untersuchungen, die den NEPs ein Unbedenklichkeitszeugnis im Bezug auf ihr Suchtpotential ausstellen. Dazu folgendes: einer der führenden Advokaten der medikamentösen Behandlung von ADS und ADHS, Professor Joseph Biederman, gab zu, zwischen 2000 und 2007 für seine einseitig positiven Gutachten 1,6 Millionen Dollar von der Pharmaindustrie erhalten, aber nicht deklariert zu haben. Im Widerspruch zu anderen Forschungsarbeiten behauptete Biederman, dass zum Beispiel das Wachstum von Kindern mit ADS, die mit Concerta behandelt werden, nicht verlangsamt wird.

Die Nebenwirkungen sind noch unbekannt

Neben bezahlten Gefälligkeits-Gutachten ist es heute ein offenes Geheimnis, dass sich die Pharmabranche auch noch anderer unlauterer Marketingmethoden bedient. So gibt es zum Beispiel dokumentierte Fälle von Infiltration verschiedener ADS- und ADHS-Selbsthilfegruppen durch Vertreter der Pharmaindustrie. Wer von diesen NGOs eine unabhängige und kritische Haltung den NEPs gegenüber erwartet, muss häufig mit einer Enttäuschung rechnen. Die Rolle der Suchtprävention wäre hier denkbar als die Instanz, die den oft verunsicherten Eltern objektive Informationen über suchtrelevante Aspekte der NEPs anbieten kann. Dafür sind aber mehr Studien und vor allem auch Langzeitstudien nötig. Welche Nebenwirkungen Gesunde bei der Einnahme dieser Medikamente riskieren, ist bisher kaum erforscht.

Aus der suchtpräventiven Perspektive ist es entscheidend, welche Zielgruppe wir avisieren wollen: gut informierte, mündige Erwachsene oder Kinder, die noch von Wissensvorsprung und Empfehlungen ihrer Eltern abhängig sind? Zur ersten Gruppe ein Zitat des Psychoanalytikers Paul Parin aus einem seiner letzten Interviews: „Weshalb soll ich nicht mit chemischen Mitteln meine Schmerzen eindämmen, mich wach machen, aufheitern? Da gibt es sehr nützliche Drogen. Und es gab kaum je ein grosses Volk, das auf den Einsatz von Drogen verzichtet hätte. Wenn es aber um Kinder und Jugendliche geht, sind wir verpflichtet, dem Kinder- und Jugendschutz die oberste Priorität einzuräumen.

Unabhängig von der Datenlage – Bedenken grundsätzlicher Natur sind angebracht, wenn gesunde Menschen Medikamente einnehmen, die für die Verlangsamung von neurodegenerativen Prozessen entwickelt worden sind. Sogar wenn diese indiziert sind, treten immer wieder schwere Nebenwirkungen auf. So hat kürzlich Dr. Ralf Gold, Leiter der Neurologischen Klinik in Bochum, über die Zunahme lebensbedrohlicher Infektionen des Gehirns nach der Therapie mit Tysabri, einem Multiple Sklerose-Mittel, berichtet [1].

Die Medizin, die Pharmaindustrie und die Öffentlichkeit werden sich über die Regeln des Einsatzes von NEPs einigen müssen. Sonst wird Konsum der NEPs grenzenlos und vor allem durch die Werbung und den Peer-Druck geprägt. Hier muss die Prävention auch ihre normative Funktion wahrnehmen. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Widerstand der Schweizerischen Wirtschaftskreise gegen die Gründung eines nationalen Präventions-Institutes.

Anstieg der Produktion von Methylphenidat

Die weltweite Produktion von Methylphenidat stieg von 2,8 Tonnen im Jahr 1990 auf 15,3 Tonnen im Jahr 1997. Besonders häufig wird dieses NEP in den USA verschrieben, wo 85% der weltweit produzierte Menge abgesetzt werden. Leider habe ich keine aktuelleren Zahlen gefunden, aber die „keine Daten“- Klage stimmt trotzdem nicht ganz – so zeigt z.B. die Studie von Setlik, Bond und Ho [2] die parallele Entwicklung von NEPs, Verschreibung und deren Off-Label-Gebrauch in der Periode zwischen 1998 und 2005. Auch ohne diese Untersuchung ist es mehr als wahrscheinlich, dass je mehr von einem Wirkstoff wie Methylphenidat (der in seiner chemischen Struktur dem Kokain ähnlich ist) verschrieben wird, desto mehr davon den Weg zu anderen Konsumenten findet. Konsumenten, die mit diesen Mitteln den Examens- oder Arbeitsstress bewältigen wollen.

Es wäre tendenziös, NEPs schon jetzt als die neuen Suchtmittel zu bezeichnen. Vielleicht stellt sich die bedenklichste Langzeitfolge als eine Neigung zu depressiven Verstimmungen, Angststörungen oder einem erhöhten Suizidrisiko heraus, wie es bei neueren SSRI-Antidepressiva der Fall ist. Genau solche Informationen fehlen uns zu NEPs. Klar ist, dass die Pharmaindustrie einen riesigen Markt wittert und durch verschiedene Kanäle die Nebenwirkungsfreiheit und Unbedenklichkeit dieser Mittel propagiert. Ebenso ist es aber möglich, dass klinische Untersuchungen den NEPs ein eindeutiges Suchtpotential attestieren werden.

Reine Repression ist kontraproduktiv

Sucht- und Drogenpolitik, die hauptsächlich auf Repression aufgebaut ist, hat bei anderen psychoaktiven Substanzen eine kontraproduktive Wirkung gezeigt: Preiszerfall und steigende Konsumraten. Es wäre unklug und es ist auch zu spät, die NEPs verbieten zu wollen. Noch nicht zu spät ist es für die Suche nach einem verantwortungsbewussten, der Situation angepassten Umgang mit den Neuroenhancers. Auf der individuellen Ebene wird dieser drogenmündige Umgang mit den NEPs ein Kontinuum zwischen Abstinenz und gezieltem Einsatz sein.

P.S. Fokusin ist kein real existierendes Mittel – so wird in der satirischen TV-Serie „Die Simpsons“ ein Medikament genannt, das sowohl Schulkinder, wie auch Laborratten schön brav hinter ihren Pulten sitzen lässt.

[1] Spiegel No.39, 21.9. 2009
[2] „Adolescent Prescription ADHD Medication Abuse Is Rising Along With Prescriptions for These Medications” – Jennifer Setlik, G. Randall Bond and Mona Ho; Pediatrics No. 3; 2009; 124; 875-880.

LINKTIPPS: Informationsseite von Stephan Schleim zum "Cognitive Enhancement".
Gehirn&Geist-Sonderseite "Neuro-Enhancement" mit zahlreichen Artikeln und weiteren Informationen zum Thema


René Kostka arbeitet an der Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich und befasst sich dort vor allem mit Grundlagen, transkulturellen Fragen sowie der Beratung von Eltern. Bei diesem Kommentar handelt es sich um seine persönliche Meinung, keine institutionelle Stellungnahme.

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5 Kommentare

  1. Epigenetische Veränderungen

    Zum Suchtpotential von NEPs wird ja schon länger diskutiert und geforscht, doch ich vermisse in den vielen Beiträgen rund um das NE-Memorandum das Topic ‘Epigenetik’.
    Könnte es sein, dass die biologisch-chemischen Eingriffe in Hirnprozesse auch epigenetische Veränderungen, etwa bei unserer allgemeinen Erkenntnis- und Leidensfähigkeit, bewirken und somit möglicherweise – im Positiven wie im Negativen – vererbbar sind?! (Und also auch Dispositionen für Suchtentstehung)

  2. @oxnzeam – Epigenetische Komplikationen

    “Könnte es sein, dass die … Eingriffe in Hirnprozesse auch epigenetische Veränderungen … bewirken und somit … vererbbar sind?!”

    Dass es zu epigenetischen Veränderungen kommt, könnte ich mir schon vorstellen, dass diese aber vererbt werden, nicht. Soweit ich weiß, betreffen die auf diese Weise erworbenen Modifizierungen der DNA entweder nicht die Keimzellen oder sie werden zu Beginn der Embryogenese entfernt. Sonst hätte Lamarck ja doch Recht gehabt 😉

    (Aber vielleicht wissen andere Genaueres?)

  3. Ob es eine konkrete Studie gibt, weis ich nicht, aber zumindest ein Phänomen ist den Verschreibenden bekannt und wird so erklärt:

    Depressive haben zu gar nichts Kraft und Lust, zu beginn einer Behandlung mit Antidepressiva kehrt zuerst die Kraft / Motivationsfähigkeit zurück, bevor die depressiven Gefühle selbst weggehen. In dieser Anfangszeit finden viele die Kraft für den Selbstmord, den sie zuvor nicht hatten.

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