Neue Studie: Betreiben 12,4 Prozent der Studierenden in Würzburg Gehirndoping?
Ein Blick auf den instrumentellen Substanzkonsum in Medizin, Informatik und Wirtschaftswissenschaften
Das Thema Gehirndoping – oder, wie es auch genannt wird: Neuroenhancement – beschäftigt mich seit inzwischen rund 20 Jahren. Vielleicht schrieb ich 2005 den ersten deutschsprachigen Artikel hierzu, “Dragee zum Glück?”
Meine Leserinnen und Leser werden wissen, dass ich es zum großen Teil für einen Hype halte. Jedenfalls dann, wenn man suggeriert, Menschen könnten durch Drogen, Psychopharmaka oder gar Gehirnstimulation außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln. Schaut man anders darauf, nämlich als Beispiel für instrumentellen Substanzkonsum, dann erscheint es ziemlich normal.
Dass wir nämlich psychoaktive Stoffe verwenden, um einen bestimmten Geisteszustand zu erreichen, zu verlängern oder zu unterdrücken, ist Teil unserer Kultur. Das beginnt schon mit der Tasse Kaffee gegen den Mittags-Dip. (Ein kleiner Spaziergang täte es wohl auch, dauert aber länger.) Oder einem Glas Bier oder Sekt für mehr Geselligkeit.
Neuroenhancement in Würzburg
Der Arzt Maurice Martin Hajduk hat nun im April 2024 seine medizinische Doktorarbeit mit dem Titel “Darf es etwas mehr sein? Neuroenhancement im Studium – eine Befragung an Würzburger Hochschulen” vorgelegt. Dafür befragte er Studierende aus der Medizin, Informatik und den Wirtschaftswissenschaften zu ihrem nicht-medizinischen Substanzkonsum. Von 5564 zur Teilnahme eingeladenen Kommilitoninnen und Kommilitonen füllten immerhin 1010 seinen Fragebogen aus, insbesondere Studierende aus der Humanmedizin.
Für seine Untersuchung definierte Hajduk Neuroenhancement breit als “die Einnahme von Substanzen zur Bewältigung der Herausforderungen im Studium (z. B. zur Beruhigung oder geistigen Leistungssteigerung), ohne dass diese aufgrund einer Diagnose ärztlich verschrieben wurden.” Darauf folgte eine Aufzählung von Beispielen: “Als Neuroenhancer werden Methylphenidat (Ritalin®) , Modafinil (Vigil®), Dexamphetamin (Elvanse®), Atomoxetin (Strattera®), Betablocker (Concor®), Antidepressiva (Venlafaxin®), Antidementiva (Aricept®), Koffeintabletten, Kokain, MDMA (Ecstasy), Amphetamine (Speed), Cannabis und andere verwendet.”
Ergebnisse
Auf die zentrale Frage antworteten 125 Studierende beziehungsweise 12,4 Prozent der Befragten mit “ja”. Doch, wichtig: Das bezieht sich auf die Lebenszeitprävalenz. Dabei wurden an erster Stelle Koffeintabletten genannt (67 von 1010 oder rund 7 Prozent), gefolgt von Cannabis (45 oder 4 Prozent) und dem bekannten ADHS-Mittel Methylphenidat (43 oder ebenfalls 4 Prozent).
Immerhin beließ es Hajduk nicht dabei, sondern erhob er auch die Häufigkeit des Konsums. Demnach hatten 63 oder 6 Prozent das mindestens einmal in den letzten drei Monaten getan, 33 oder 3 Prozent nannten einen wöchentlichen und 14 oder 1 Prozent einen täglichen Konsum.
Wieder einmal sehen wir: Wenn man genau auf die Zahlen schaut, verschwindet der Hype von selbst. Dass die Antworten so bescheiden ausfallen, liegt wohl an der Ausklammerung des Freizeitkonsums solcher Substanzen; und dass beispielsweise Kaffee oder Energydrinks nicht aufgezählt wurden.
Das verdeutliche eine gewisse Willkür: Wenn jemand eine Koffeintablette aus der Apotheke nimmt, soll das als Neuroenhancement gelten. Aber wenn jemand dieselbe Menge Koffein aus zwei Energydrinks oder vier Tassen Kaffee zu sich nimmt, dann ist es kein Gehirndoping?
Schlussbemerkung
Jedenfalls zeigt sich wieder einmal, dass auch junge Leute nicht alles schlucken, bloß um etwas länger zu lernen. Dass das viel nutzen würde, ist bis heute auch gar nicht belegt. Das passt zu meiner Einschätzung, dass es sich beim angeblichen Massenphänomen Neuroenhancement vor allem um eine Erfindung einiger Akademiker und der Medien handelt – im Fahrwasser der “Neurophorie” der frühen 2000er.
Der Doktor der Medizin zitiert keine der zahlreichen und eher kritischen Arbeiten meines Kooperationspartners Boris B. Quednow, Professor für Pharmakopsychologie in Zürich, oder von mir. Vielleicht haben sie nicht in sein Schema gepasst oder hat er nicht ordentlich recherchiert.
Da mag man mir den Hinweis auf ein Fehlerchen erlauben, das mir auch beim Überfliegen der Doktorarbeit auffiel: Hajduk unterschied, wie in der Aufzählung oben gesehen, “MDMA (Ecstasy)” und “Amphetamine (Speed)”. Im Plural sind Amphetamine aber kein Stoff, sondern eine Stoffgruppe, also ein Oberbegriff. Was er meinte, was schlicht “Amphetamin”. Denn das A in MDMA steht selbst für Amphetamin und zählt zur Gruppe der Amphetamine.
Wer es genauer wissen will, der kann gerne einen kostenlosen Blick in meine immer noch aktuelle Gehirndoping-FAQ werfen.
Hier erfahren Sie mehr über “Gehirndoping”
Stephan Schleim beschäftigt sich seit rund 20 Jahren mit “Neuroenhancement” oder “Gehirndoping”. An der Universität Groningen hat er kürzlich einen kompakten “Gehirndoping-Bericht” in drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Niederländisch) sowie das Open-Access-Buch “Mental Health and Enhancement: Substance Use and Its Social Implications” als Teil eines vom Niederländischen Forschungsrat (NWO) finanzierten Forschungsprojekts über Neuroethik publiziert.
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Nur als Ergänzung
Es gibt Reisetabletten mit Koffeinzusatz. Die wirken und der Koffeinzusatz “weckt Tote auf”. Gekauft in Spanien.
Ob das zum Gehirndoping zählt ?
Danke für den Hinweis. Diese Grenzziehung ist letztlich willkürlich. In der hier vorliegenden Studie ging es, glaube ich, um Koffeintabletten aus der Apotheke. In anderen Ländern gibt’s die im Supermarkt oder der Drogerie. Ist es in Land A Gehirndoping aber in Land B nicht?
In Land D aber auf jeden Fall eine Einnahmequelle für Apotheken. 🤷🏻♂️