Lasst die Studierenden in Ruhe!

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
MENSCHEN-BILDER

Lehre braucht Freiheit. Lasst die Studierenden nicht die Systemfehler ausbaden. Meine Reaktion auf eine Diskussion auf ZEIT-Online.

Wer nur das Bildungssystem nach Bologna kennengelernt hat, der kann mit Fug und Recht fragen, wie es Deutschland jemals zu einer Kultur- und Wirtschaftsnation gebracht hat. Denn heute produzieren wir vor allem eines: Kreditpunkte. Damit bescheinigen wir, beziehungsweise die Universitätsverwaltungen, den Studierenden Lernfortschritt à 25-30 Stunden pro Punkt. So lassen sich beliebig viele Kreditpunkte schöpfen und auf Zeugnisse drucken. Damit hören ihre Vorteile aber auch schon auf.

Die ZEIT-Redakteurin Anne-Kathrin Gerstlauer schrieb kürzlich ein Pamphlet gegen die Anwesenheitspflicht im Studium. Dem entgegneten die beiden Dozierenden Danae Ankel und Stephan Liedtke mit vier Gründen: Planbarkeit, Dozierende seien keine Erzieher, schon gar keine Vorturner und überhaupt sei die Uni kein Kindergarten. Es ist schwierig, noch weiter aneinander vorbeizureden. Beide Seiten haben in gewissen Punkten recht; sie ziehen daraus nur die verkehrten Schlüsse. Denn gerade weil Dozierende keine Erzieher, Vorturner und Kindergärtner sind, gehört die Anwesenheitspflicht nicht an die Universität.

Praktische Grenzen

Der Planbarkeit aber sind in der Praxis Grenzen gesetzt: Man könnte den Studierenden auch neunzigminütige Filme zeigen; das wäre perfekt planbar, doch wofür bräuchten wir dann noch Dozierende? Lehre als Praxis wird durch Fragen, Missverständnisse, Geistesträgheit und höhere Macht wie Krankheitsereignisse in ihrer Planbarkeit beschränkt. Dass sie Performanz ist wie ein Theaterstück und keine Leinwandvorführung, das bestimmt ihren Reiz.

Dazu gehören Unvollkommenheiten. Es sind Bildungsmanager, in der Regel ohne Praxiserfahrung, die uns Absolventen- und Abbruchzahlen zeigen und weismachen wollen, der Mensch sei grenzenlos optimierbar: Durch Quantifizierung, Messung und Kontrolle sollen wir Leistung maximieren und Versagen minimieren. Dieses Modell scheitert aber nicht nur am Menschen. Es scheitert schon daran, dass die Universitäten in den letzten Jahrzehnten immer weniger Geld pro Studienplatz haben; es scheitert auch daran, wie Ankel und Liedtke treffend feststellen, dass die Dozierenden nicht fürs Dozieren ausgebildet sind.

Karl Jaspers schrieb 1946 über Die Idee der Universität, dass die Lehrenden didaktisch ungeschickt sein können, so lange sie als ausgewiesene Forscher die Studierenden mit „dem eigentlichen Prozeß des Erkennens, dadurch mit dem Geist der Wissenschaften, statt mit den toten, lernbaren Ergebnissen“ in Berührung bringen. Verstünden wir so heute die Lehre, dann müssten wir 90% der Studierenden wegschicken. In unserer Wissens- und Informationsgesellschaft erfüllen die Universitäten aber einen viel breiteren Bildungsauftrag. Dennoch herrscht Jaspers’ Lehrmodell noch in vielen Köpfen vor.

Es wird Unmögliches verlangt

Von den heutigen Dozierenden wird Unmögliches verlangt: Sie sollen nicht nur ohne Vorbereitung und Ausbildung mit den Massen der Studierenden zurechtkommen, sondern obendrein exzellente Forscher sein. Dabei konkurrieren sie aber mit den Forschern der Helmholtz-, Leibnitz- und Max-Planck-Institute, die nicht nur international hervorragend vernetzt sind, sondern auch so gut wie keine Lehrverpflichtungen haben. Das hindert die Institutsleiter freilich nicht daran, die größten Talente von den Unis wegzurekrutieren und den Rest in die akademische Armutsfalle tappen zu lassen, nämlich die Anstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Diese Missstände sind alle in zahlreichen Positionspapieren dokumentiert, doch die Bildungspolitiker ließen dies Jahrelang am Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern abprallen. Dozierende wie Danae Ankel und Stephan Liedtke bezahlen, ebenso wie zehntausende andere, diese Systemfehler mit einem Blutzoll: Sie geben auf dem mit befristetem Verträgen gepflasterten Weg die besten Jahre ihres Leben dafür, die universitäre Lehre am Laufen zu halten. Dafür verdienen sie Anerkennung und Respekt – es ist aber absurd, mit diesen Systemfehlern eine Anwesenheitspflicht für die Studierenden zu begründen!

Universitäre Lehre braucht Freiheit

Ja, wir können die Anwesenheit von Menschenkörpern verpflichtend machen. Daraus folgt aber nicht die für ansprechende Lehre nötige geistige Anwesenheit. Was nutzt der Schein der Teilnahme, wo doch mit Bologna der Teilnahmeschein so gut wie abgeschafft wurde? Gerade weil wir keine Kindergärtner sind, wollen wir keine Smartphones am Eingang einsammeln; gerade deshalb sollen die, die nicht mitmachen wollen, lieber zuhause bleiben und niemanden stören; gerade deshalb ist es nicht unsere Verantwortung, wie sie die Prüfungsleistung erbringen. Die Freiheit zu scheitern gehört dazu, in diesem Punkt hatte Jaspers recht:

Der Freiheit der Lehre entspringt die Freiheit des Lernens. Keine Autorität, keine vorschriftsmäßige Lebensführung und schulmäßige Studienleitung darf den Studenten beherrschen. Er hat die Freiheit, zu verkommen.

Wenn wir, wie Ankel und Liedtke, das humanistische Bildungsideal zitieren, dann sollen wird den Kräften in den Studierenden zur Geburt verhelfen, nicht sie in Bildungshaft nehmen. „Wer kommt denn überhaupt noch, wenn er nicht muss?“, fragen die Autoren. Eine Antwort darauf suche ich seit Jahren mit einem Café Scientifique, kürzlich sogar mit einem ganzen Extrakurs über Genderforschung. Die Regeln: keine Kreditpunkte, keine Klausuren – aber auch keine künstlichen Ketten. Resultat: Fünf bis fünfundzwanzig Studierende kommen und die meisten haben sogar die Texte gelesen! Ein Kollege macht mit seinem Journal Club ähnliche Erfahrungen. Solange diese Studierenden kommen und mitmachen, ist die Universität noch nicht tot.

Wir werden von Bildungsmanagern, die Unmögliches von uns verlangen, zum Scheitern verurteilt. Lasst uns aber doch nicht diejenigen, die am wenigsten dafür können, inzwischen nämlich die in den 1990er Geborenen, dafür bezahlen: Dass Bildungspolitiker ohne Vision 1999 den Geist der Akademie zu Grabe getragen haben (PDF); und zwar am jenem Ort, an dem Gesandte zahlreicher Universitäten elf Jahre vorher noch mit der Magna Charta Universitatum die akademische Unabhängigkeit beschworen haben, nämlich in Bologna.

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19 Kommentare

  1. “„Wer kommt denn überhaupt noch, wenn er nicht muss?“, fragen die Autoren.”

    Das ist ja gerade das Ziel (des Studiums): Gerne zu kommen ohne zu müssen. Dann wird doch erst das Studium zum Studium, oder habe ich irgendetwas verpasst? Komisch, dass sowas in der Zeit steht, man könnte meinen, dass die es besser wüssten.

  2. Dem Artikel kann ich nur voll und ganz zustimmen . Ich fürchte nur , daß die Bologna-Politik nicht der Inkompetenz , sondern einem bewußten Willen entspringt , das Ideal der Bildung wird ganz bewußt und gezielt in die Tonne gerteten.
    Daran wird nur etwas zu ändern sein , wenn die entsprechenden Kräfte entmachtet werden.

  3. Gibt es noch mehr solche Initiativen wie Dein Café Scientifique oder den Journal Club? Dazu würde ich gern mehr wissen/lesen. Wer kann dazu beitragen?

  4. Nur zur Überschrift ga-anz kurz angemerkt:
    Der Studierende meint genau so wie der Student im Altlatein das substantivierte PPA, es liegt hier also kein sprachlich entscheidender Unterschied zum Studenten vor, der Student kann weiblich wie männlich sein und das Genus meint nicht den Sexus.

    Dies natürlich nur ganz am Rande angemerkt,
    es gilt sich allgemein von Verklemmung zu lösen und bundesdeutsche Punkte-Systeme werden anzunehmenderweise die institutionalisierte Verklemmung meinen, was sonst?

    MFG
    Dr. W

  5. Ich hatte in meinem siebensemestrigen Bachelorstudiengang keine einzige Vorlesung, Übung, Seminar etc. mit Anwesenheitspflicht. Ich kann die generelle Kritik am Bologna System in dieser Hinsicht also nicht nachvollziehen. Mehr Freiheit hätte ich nicht haben können.

  6. Nun ja, es steht jeder Dozentin, jedem Dozenten frei, eine freiwillige Extra-Veranstaltung anzubieten. Das Mieten eines Raumes dafür geht i.d.R., natürlich im Rahmen der freien Kapazitäten, problemlos. Im Sommer waren wir sogar schon draußen und wurden nur vom Sicherheitspersonal gebeten, die von drinnen mitgenommenen Stühle nicht draußen stehen zu lassen.

    Ferner hindert auch niemand die Studierenden daran, selbst eine Lern- oder Lehrveranstaltung zu organisieren, ob mit oder ohne Dozierende, an der Uni, in einem Café, auf der Wiese oder zuhause.

  7. Glückwunsch! Wenn Sie uns noch verraten, was und wo Sie studiert haben, dann wird das ganze etwas informativer.

    Der Aufhänger der Diskussion in der ZEIT (siehe die verlinkten Artikel) war, dass dort wohl gerade die Anwesenheit per Gesetz abgeschafft wurde, einige Dozierende sie aber weiterhin vorschrieben.

  8. Das mag sprachwissenschaftlich gesehen alles stimmen, ich habe aber gelernt, dass es für manche Menschen einen psychologischen Unterschied macht, ob man sie als Studenten/Studentinnen oder als Studierende anspricht.

    Diesen psychologischen Unterschied wünsche ich zu berücksichtigen. Das hindert freilich manche nicht daran, an Stelle des Inhalts eines Artikels den Sinn des Worts “Studierende” zu diskutieren.

  9. (…) ich habe aber gelernt, dass es für manche Menschen einen psychologischen Unterschied macht (…)

    Und dbzgl. ist halt weiter oben ein Zusammenhang mit dem bundesdeutschen Punktesystem hergestellt worden.

  10. Verstünden wir so heute die Lehre, dann müssten wir 90% der Studierenden wegschicken.

    Begründung?

    Das hindert die Institutsleiter freilich nicht daran, die größten Talente von den Unis wegzurekrutieren und den Rest in die akademische Armutsfalle tappen zu lassen, nämlich die Anstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter.

    Warum soll es auch den akademischen Berufen wesentlich besser gehen als den ganzen Rest der Gesellschaft?
    Die Tendenz ist nun mal allgemein schlecht.

    Ja, wir können die Anwesenheit von Menschenkörpern verpflichtend machen. Daraus folgt aber nicht die für ansprechende Lehre nötige geistige Anwesenheit.

    Das ist an Fachhochschulen sowieso Pflicht und der Azubi kennt es nicht anders. Gut, zumindest letzteres ist wohl auch die schlechtere Alternative zu einem Studium, schon klar.

    Ich halte es für ein bisschen naiv, Körper und Geist so zu trennen.

  11. ad 1) In dem Zitat sagt Jaspers, dass Dozierende keine didaktischen Fähigkeiten brauchen, denn die Studierenden müssten nur mit dem Geist der Forschung in Kontakt kommen. Wie viele Menschen wollen, können aber Forscher werden? Wenn Unis nur ForscherInnen ausbilden sollen, müssen wir eben mehr als 90% der Studierenden an einen anderen Ort schicken; alles andere wäre unehrlich.

    ad 2) “Ja, warum soll es irgendeinem Mensch in der Gesellschaft gut gehen, wenn es doch so vielen Menschen beschissen geht?” Merken Sie nicht, wohin diese Logik führt? Wissenschaftlicher Mitarbeiter machen oft die Drecksarbeit; dass auch andere Drecksarbeit machen, macht das nicht besser, sondern sogar schlechter. Ihre Logik lullt die Menschen ein, anstatt sie zu ermächtigen.

    ad 3) Sie mögen es naiv finden oder wie auch immer: Aus körperlicher Anwesenheit folgt aber eben keine geistige Anwesenheit. Wenn Sie daran Zweifel haben, dann kommen Sie mit in eines meiner Seminare und dann werden Sie dort performativ falsifiziert.

  12. In Mainz ist es so. Es gibt Anwesenheitspflichten in den Vorlesungen nicht mehr. Doch für Seminare, Übungen und Tutorien gelten sie weiter, wie im Zeit-Artikel beschrieben. Wer öfter als zweimal fehlt, egal warum, hat die Veranstaltung nicht bestanden und darf alles komplett nachholen. Das ist eine Gängelung sondergleichen. Die Veranstaltungen werden nämlich in nachfolgenden Semestern nicht weniger.

    Zu den Vorlesungen. Es gibt Professoren, die beherrschen die Vortragskunst, deren Vorlesungen machen Freude und sind grundsätzlich gut besucht und andere tun es weniger. Ich habe nichts gegen Powerpointvorträge, doch auch das will gelernt sein. Professoren, die die kompletten Inhalte ihrer VL auf die Folien projizieren, müssen sich nicht wundern, wenn die Studenten ausbleiben. Wenn dann noch von Erstsemestern Vorwissen abverlangt wird, das diese noch nicht haben können, reduziert sich die Zahl der Teilnehmer einer Veranstaltung rasend schnell.

    Der Terminplan für Veranstaltungen nach Rahmenplan ist zudem sehr eng. Wer zum Studium arbeitet, kann das kaum in Regelstudienzeit schaffen. So haben wieder diejenigen Studenten einen Vorteil, die von ihren Eltern unterstützt werden. Bildungsgerechtigkeit sieht ganz anders aus.

  13. Ich möchte hier noch ergänzen. Ja es gibt schon viele Menschen die schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen. Doch man darf nicht vergessen, dass ein wissenschaftlicher Mitarbeiter eine langwierige und hochwertige Ausbildung genossen hat,dafür auch hochwertige Arbeit leistet und noch immer bezahlt wird, wie ein Hilfsarbeiter.

  14. Ja, das ist freilich eine berechtigte Ergänzung. Ich *musste als Doktorand auch von ca. 1000 Euro netto für 40 bis 60 Stunden pro Woche, wenn es sein musste manchmal auch nachts und sowieso oft am Wochenende, schuften. Für die jährliche Prämie der Lebensversicherung (Stichwort: Altersvorsorge) oder meinen ersten Laptop 2006, damit ich auch unterwegs produktiv sein konnte, musste ich Nebenjobs annehmen. Urlaub hatte ich in jener Zeit keinen.

    * Dieses Müssen existierte freilich vor allem in meinem Kopf. Hätte ich damals schon gewusst, was ich heute über Arbeitsrecht weiß, hätte ich mich nie auf solche Zustände eingelassen.

  15. Ja, wann gab es denn in Deutschland jemals Bildungsgerechtigkeit?

    Ich kann die Lektüre von Webers “Wissenschaft als Beruf” sehr empfehlen. Schon vor hundert Jahren war es so, dass man am besten nur dann WissenschaftlerIn wird, wenn man schon finanziell ausgesorgt hat. Seitdem es die Sozialerhebungen der Studierendenwerke gibt, also seit vielen Jahrzehnten, bestätigen sie soziale Selektion durch die Universitäten; doch beginnt diese natürlich viel früher, schon in den Grundschulen.

    Was beschweren wir uns aber? So lange die Studienstiftung in aller Ruhe ihre Bürgerskinder rekrutieren kann, die Violine spielen und ihr Büchergeld fürs Kiffen ausgeben, ist die Welt doch heile?!

  16. Oh, gut, dass ich das nun auch weiß.
    Ich denke, von Weber steht noch einiges auf dem Plan. Danke für den aufschlussreichen Artikel, Schöne Ergänzung zum Zeit-Artikel.

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