Hurra! Bonner Genforscher finden molekulare Ursache der Internetsucht

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Medien behaupten, Forscher hätten die molekulare Ursache von Internetsucht entdeckt. Das ist natürlich Unsinn. Was wir aus dieser Bananenlogik dennoch über Wissenschaftstheorie und Gen-Verhalten-Zusammenhänge lernen können, lesen Sie hier bei Menschen-Bilder.

Man kann es sich förmlich vor seinem inneren Auge vorstellen: Anstatt fleißig auf die Jagd zu gehen oder Wurzeln zu sammeln, sitzen unsere evolutionären Vorfahren auf Bäumen und wischen mit ihren haarigen Händen auf ihren apePads herum. Vor allem das soziale Netzwerk Bananabook hat es ihnen angetan. Dort können sie gleich online die wichtigsten News abfragen und sich das schweißtreibende Schwingen von Baum zu Baum sparen.

Exkurs in Bananenlogik

Wer gerade mit wem, wo das größte Bananenversteck ist, all das kriegen sie live in ihren Feed gepostet; und weil sie dadurch auf den Bäumen in relativer Sicherheit bleiben, werden die offenbar internetsüchtigen Exemplare dieser Spezies nicht von Säbelzahntigern gefressen. So wird die genetische Grundlage dieses Verhaltens im Laufe der Jahrhunderttausende selektiert – und dieses Gen haben deutsche Forscher nun entdeckt, wenn man einer Pressemitteilung (Die molekularen Ursachen der Internetsucht) der Universität Bonn Glauben schenkt. Es hat den kompakten Namen CHRNA4.

Zugegeben, es wird jeden Tag so viel Falsches im Internet publiziert, dass es eine Sisyphosarbeit wäre, dies auch nur ansatzweise richtigzustellen. Leider gilt dies auch für die Wissenschaftskommunikation. Ich bin immer noch einem alten Kommilitonen dafür dankbar, dass er mich auf diesen Comic (Duty Calls) hingewiesen hat, in dem die vermeintliche Pflicht zur Korrektur karikiert wird.

Unter anderem ist es ihm zu verdanken, dass die Serie „aufgepatst!“ nach mehr als drei Jahren nun erst ihren fünften Beitrag zählt. Im Zweifelsfall kann ich mich mit einem Blick auf die Abbildung selbst therapieren. Davon abgesehen ist es aber auch wenig erbaulich, sich vor allem mit den Fehlern anderer zu beschäftigen, anstatt eigene Ideen zu entwickeln; und gedankt wird es einem in der Regel sowieso nicht, obwohl man meinen könnte, dass es in der Wissenschaft vor allem auch um Kritik und Selbstzweifel auf der Suche nach Erkenntnis geht.

Manche Beispiele treiben mir aber einfach die Tränen in die Augen – oder lösen wahlweise ein erheiterndes Lachen aus, wenn ich sie mir als Beiträge in der Satirezeitschrift Titanic vorstelle. So auch die Pressemitteilung, die sich unter anderem in Meldungen in der Welt (Eine Mutation macht anfälliger für Internetsucht) sowie der Morgenpost (Internetsucht hat genetische Ursachen) niedergeschlagen hat. Im Sommerloch wissen die Journalisten wohl nicht, worüber sie sonst schreiben sollen. Ist das Internetsuchtgen jetzt besser oder schlimmer als Berichte über das Monster von Loch Ness?

Jetzt im Ernst

Gut, wer sich nicht mit Forschung auskennt oder standardmäßig alles glaubt, was er liest (Anmerkung: nicht tun!), der fragt sich jetzt vielleicht, was der Schleim schon wieder auszusetzen hat. Ganz allgemein könnte man freilich anmerken, dass Kausalität ein sehr weites Feld ist. Diese Kritik wäre dann aber auch nicht sehr originell und vom durchschnittlichen Journalisten oder Angestellten einer Pressestelle sollte man auch nicht zu viel wissenschaftsphilosophische beziehungsweise gar metaphysische Kenntnis erwarten.

Konkreter formuliert begibt sich aber schnell aufs Glatteis, wer mit Blick auf Gene von Verhaltensursachen schreibt. Gene spielen erst einmal nur eine Rolle bei der Herstellung von Ribonukleinsäuren und es ist im Allgemeinen viel Interpretationsarbeit oder Phantasie nötig, um sich vorzustellen, wie dies unser Verhalten beeinflusst. Insbesondere sind diese Unterschiede probabilistisch, haben wir es also mit (meistens: leicht) erhöhten Wahrscheinlichkeiten zu tun und nicht mit strikter Determination, wie es die Rede von „der molekularen Ursache“ von etwas andeutet.

Wan ist ein Gen ein Gen für etwas?

In einer viel zitierten Arbeit (“A Gene for…”: The Nature of Gene Action in Psychiatric Disorders) des amerikanischen Psychiaters und Genetikers Kenneth Kendler geht es darum, unter welchen Umständen man von einem Gen für etwas, beispielsweise für eine psychiatrische Erkrankung, sprechen kann. Er formuliert darin fünf notwendige und hinreichende Bedingungen, die ich gerne als den Kendler-Test bezeichne:

Die Verbindung zwischen dem Gen und der Störung muss (1) stark und (2) spezifisch sein, sie darf (3) nicht von einem anderen Faktor abhängen, sie muss (4) kausal „benachbart“ und (5) auf der „angemessenen“ Erklärungsebene bestehen. Wer etwas Gespür für Begriffsarbeit hat, der erkennt sofort, dass vor allem die Punkte 4 und 5 mehr als genug abendfüllenden Gesprächsstoff bieten – vielleicht will Herr Precht einmal eine Sitzung seiner neuen ZDF-Philosophieschau diesen Themen widmen.

Um diesen Kommentar nicht ausufern zu lassen, springe ich hier gleich zu der Zusammenfassung – die geneigte Leserin sei auf die Originalarbeit Kendlers verwiesen: Im psychiatrischen Kontext erfüllt wohl kein einziges Gen auch nur eine dieser notwendigen Bedingungen dafür, ein Gen „für“ eine psychiatrische Erkrankung zu sein. Warum Kendler dann an anderer Stelle die Werbetrommel für die genetische Psychiatrie rührt und sich für Förderung in Milliardenhöhe einsetzt, das sei hier nicht weiter hinterfragt.

In die Daten geschaut

Wenn ich jetzt in die Originalarbeit von Christian Montag von der Universität Bonn und Kollegen schaue, dann wird auf den ersten Blick auf die Daten deutlich, dass CHRNA4 schon am ersten Kriterium dafür scheitert, ein Gen für Internetsucht zu sein: Der Zusammenhang ist schlicht nicht stark genug.

Beim verwendeten Studiendesign handelt es sich um eine sogenannte Fall-Kontroll-Studie, das heißt, man hat eine bestimmte Anzahl von Menschen (hier: 132) mit einem bestimmten Kriterium (hier: Internetsucht) und sucht sich dazu eine Kontrollgruppe ohne dieses Kriterium, die in allen anderen Beziehungen der Zielgruppe so gut wie möglich gleicht. Natürlich ist das immer nur begrenzt möglich. Interessant übrigens, dass der Wikipedia-Artikel zur Erläuterung der Fall-Kontroll-Studie schon am Ende des ersten Absatzes warnt: „Keinesfalls kann man allerdings auf eine Ursache/Wirkungsbeziehung schließen.“


Dieser User hat wohl etwas zu lange vor dem Computer gesessen. Vielleicht war er Internetsüchtig? Foto: Harry Hautumn / pixelio.de.

Ich hatte es ja aber gerade über die Daten. Über alle Versuchspersonen hinweg ergab sich der Zusammenhang, dass mit einer bestimmten Allelvariante dieses Gens, genannt T-minus, 36 gegenüber 22 Menschen internetsüchtig waren, also 1,6 zu 1; bei der T-plus-Variante waren es jedoch 96 gegenüber 110, also 0,9 zu 1. Das entspricht einem Quotenverhältnis* (Odds Ratio) von 1,9 und dies ist wiederum gemäß der Kendler-Klassifikation ein „bescheidener“ (modest) Zusammenhang, wie er allgemein zwischen Genen und psychiatrischen Erkrankungen gefunden wird – auf einer Skala von „bescheiden“ (rund 1,5) über „moderat“ (rund 5, z.B. bestimmte Genvarianten und Alzheimer), „stark“ (rund 15, z.B. starkes Rauchen und Lungenkrebs) und „perfekt“ (theoretisch unendlich, wie bei der Mendelschen Vererbung). Der Zusammenhang ist also nicht stark, ganz im Gegenteil, es ist jedoch ein starkes Stück, hier von einer „molekularen Ursache“ zu sprechen. Damit ist bereits Kriterium 1 nicht erfüllt und ist CHRNA4 kein Gen für Internetsucht. q.e.d.

Auch bei den anderen schneidet das Gen nicht besser ab

Man könnte auch die anderen Kriterien testen und wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum selben Ergebnis kommen. Dass 2 und 3 ebenfalls nicht erfüllt sind, darauf deutet schon die Diskussion der Autoren, in der diese Genvariante mit Suchtverhalten allgemein oder auch bestimmten psychischen Merkmalen wie Ängstlichkeit in Zusammenhang gebracht wird. Das Gen ist also gar nicht spezifisch für Internetsucht und der Effekt wahrscheinlich über eine andere Variable vermittelt.

Gar nicht ins Bild passt übrigens, dass die Verbindung zwischen dem Genotyp und der Internetsucht streng genommen nur in der Untergruppe der Frauen in dieser Stichprobe signifikant war, während die meisten Internetsüchtigen eben Männer sind. Bei Frauen ist das relative Risiko übrigens schon 3,4, also näher an der Stufe „moderat“ – da dies aber gerade einmal auf den Daten von 52 internetsüchtigen Frauen beruht, sollte man diese Zahl mit Vorsicht genießen.

Stille Post oder bewusste Übertreibung?

Ich hatte übrigens den Eindruck, dass die Originalarbeit von Christian Montag und Kollegen selbst in angemessenem Stil geschrieben ist. Warum sich manche Forscher dann für die Medien derart zur Übertreibung hinreißen lassen, ist mir jedoch ein Rätsel. Ein angesehener Genforscher hat mir einmal erzählt, er habe es sein Leben lang bereut, dass man ihn in den Medien einst als Entdecker des Narzissmus-Gens gefeiert habe.

Amüsant finde ich allerdings, dass die Pressemitteilung gleich mit diesem einleitenden Statement des Forschers beginnt: „Es zeigt sich, dass Internetsucht kein Hirngespinst ist.“ In der Hirnforschung nennt man es „Neuro-Realismus“, wenn jemand argumentiert, dass es ein psychisches Phänomen nur dann geben kann, wenn wir eine entsprechende Gehirnaktivierung dafür finden. Ein konkretes Beispiel war hierfür, als 2010 die Pressestelle der Radboud Universität in Nijmegen (Niederlande) berichtete, eine Forschergruppe hätte nun zum ersten Mal bewiesen, dass Burn-out echt besteht – weil sie einen Unterschied zwischen Menschen mit und ohne Burn-out gefunden hatte. Solche Ergebnisse sind natürlich nicht objektiv, basieren auf Definitionen, sind je nach Einzelfall mehr oder weniger methodisch konstruiert und eignen sich daher kaum als ontologische Basis.

Wir brauchen keinen Neuro-Realismus

Solche Behauptungen sind Unsinn, der sich aber hervorragend für die wissenschaftstheoretische Lehre eignet. Ob Menschen internetsüchtig sind oder nicht, das erkennen wir daran, wie sie sich fühlen und verhalten, wenn man ihnen das Internet wegnimmt und ob sie sich durch ihren Internetkonsum selbst schädigen beziehungsweise andere Dinge in ihrem Leben übermäßig vernachlässigen. Würden Psychologie oder Psychiatrie nach der neuro- oder gen-realistischen Logik funktionieren, wir hätten sie erst gar nicht gehabt – umgekehrt setzen psychisch-psychiatrische Gen- und Hirnforschung voraus, dass wir überhaupt Phänomene haben, über die wir reden, die wir schließlich operationalisieren und messen können.

Ich danke Florian Rötzer, dessen kritischer Beitrag auf Telepolis (Wissenschaftsblüten: Internetsucht soll genetisch bedingt sein) mich auf diesen Fall aufmerksam machte.

P.S. Wenn Ihnen solche Falschmeldung auf den Geist gehen, dann schreiben Sie doch der entsprechenden Abteilung beziehungsweise Redaktion einmal Ihre Meinung.

*Ursprünglich hatte ich englisch “odds ratio” (Quotenverhältnis) leider falsch mit “relativem Risiko” übersetzt. Beide Berechnungen sind zwar ähnlich, jedoch nicht dasselbe. Eine kurze Diskussion hierzu findet sich z.B. in der Wikipedia. Das Argument des Artikels ist hiervon jedoch nicht betroffen.

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Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

11 Kommentare

  1. Gut erklärt!

    Einfach mal nur ein kurzes Lob: Fundiert, ausführlich und dennoch verständlich erklärt! Besonders der kritische Hinweis auf den “Neuro-Realismus” ist wichtig.

  2. Was ist Internetsucht?

    Mir kam gerade erst der Gedanke, dass es für die LeserInnen vielleicht interessant ist, einmal die Kriterien für Internetsucht bzw. “Internet Use Disorder”, wie es im DSM-5 wahrscheinlich (im Teil für vorläufige Definitionen, die weiterer Forschung bedürfen) heißen wird, zu lesen:

    A. Preoccupation with Internet gaming

    B. Withdrawal symptoms when internet is taken away

    C. Tolerance: the need to spend increasing amounts of time engaged in Internet gaming

    D. Unsuccessful attempts to control Internet gaming use

    E. Continued excessive Internet use despite knowledge of negative psychosocial problems

    F. Loss of interests, previous hobbies, entertainment as a result of, and with the exception of Internet gaming use

    G. Use of the Internet gaming to escape or relieve a dysphoric mood

    H. Has deceived family members, therapists, or others regarding the amount of Internet gaming

    I. Has jeopardized or lost a significant relationship, job, or educational or career opportunity because of Internet gaming use (dsm5.org)

    P.S. @Lucomo, Danke. 🙂

  3. Wissenschaftsesoterik

    … nimmt zu.

    Danke für die Einordung!

    MFG
    Dr. Webbaer

  4. Korrelation genügt dem Abergläubischen .

    als Beweis und viele gestrige und heutige Menschen glauben an Zeichen und Zusammenhänge auch dort, wo es sie nicht gibt. “Alles hat seinen Grund.” wer hat diesen Satz noch nie gehört? Und eine Nachricht, die (Zitat)“behaupt[et], Forscher hätten die molekulare Ursache von Internetsucht entdeckt.” wird noch so gern geglaubt, auch wenn die Korrelation mit einem Gen noch so gering ist.
    Doch die Wissenschaftler wissen das natürlich besser. Wirklich? Auch Wissenschafler zeigen immer wieder erstaunliche Schwächen und einen bias (Tendenz das zu glauben was sie glauben wollen), wenn es um statistische Zusammenhänge geht.

    Nun zum Begriff Neuro-Realismus. Wenn damit gemeint ist, zu jedem von uns erfundenen/gefundenen Krankheitsbild oder Gemütszustand, zu jeder Emotion und jedem Affekt müsse es ein Neurokorrelat als “Fingerabdruck” geben, wobei das Neurokorrelat als Aktivierungsmuster im EEG, PET, FMRI oder sonst in einem bildgebenden oder gar invasiven Verfahren nachgewiesen werden kann, dann steckt hinter diesem Begriff mit Sicherheit ein zu simples Bild der Realität.
    Eine (unter vielen anderen) Begründungen dafür, dass ein solcher neuronaler Fingerabdruck nur in seltenen Fällen zu erwarten ist ergibt sich allein schon aus der Willkür mit der wir neue Krankheitsbilder schaffen. Das “Burn-Out” Syndrom beispielsweise ist schwierig von dem abzugrenzen, was man schon als Depression kennt.
    Der Begriff “Neuro-Realismus” ist wohl einfach ein Fall von “digitaler Demenz”, wobei derjenige, der den Begriff erfunden hat und ihn für erklärungsmächtig hält von digitaler Demenz erfasst wurde. Wer digital denkt liebt 1:1-Beziehungen und andere logisch-relationale Relationen wie wir sie aus dem Datenbankdesign kennen.

    Die Realitä mit der sich Mediziner und Biologen beschäftigen ist aber nicht digital.

  5. Okay, wenn der Schleim und der Blödbär das toll finden, ist es falsch. Stimmt schon….

  6. Ich habe das Paper nicht gelesen, daher kann ich nur mutmassungen aufgrund dieses Artikels anstellen.
    QTL
    Wenn man dieses Konzept hernimmt, was ich mal den Autoren des Papers unterstelle, dann stimmt deren Aussage durchaus. Ohne eine gutgehende Zuchtstudie ist das halt schwer zu überprüfen. Doch eigentlich verstehe ich die Auffregung nicht wirklich. Es gibt ein Gen, dass irgendwie (moderat) mit Spielesucht korreliert. Gut. Also ist es ein Gen für Spielesucht.
    Wobei ich gerne mal wissen möchte, wie sich die Genvarianten bei anderen Süchten schlagen.
    Das Sucht (unter anderem) mit mehreren QTLs (genen) zusammenhängt ist glauche ich bekannt und vor allem zu erwarten.
    Folglich ist das Ergebnis, dass jemand ein Gen findet das mit Spielesucht ungefähr zu überraschend wie wenn jemand behauptet das Wasser Durst löscht.
    Ich tippe mal da wollte / musste eine Arbeitsgruppe einfach etwas “Werbung” für sich machen, damit sie genug Geld für die wirklich wichtige Arbeit auftreiben können.
    Das ist in etwa so, wie wenn jemand schreibt seine Arbeit kann helfen Krebs zu heilen. Jeder wird das schreiben und sagen, selbst wenn es seeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeehr weit hergeholt ist

  7. @KeinAnfang: Nein

    Es gibt ein Gen, dass irgendwie (moderat) mit Spielesucht korreliert. Gut. Also ist es ein Gen für Spielesucht.

    Nein, ich habe doch gerade ausführlich im Text und mithilfe des Kendler-Tests erklärt, warum es eben kein Gen für Internetsucht ist – und noch weniger eine “molekulare Ursache” derselben, wie man die Pressemitteilung vollmundig betitelt hat.

    Die Pressestelle der Uni Bonn scheint sich auf diese hyperbolischen Überschriften spezialisert zu haben, denn gerade heißt es dort auf der Startseite, Forscher entschlüsseln Manie-Gen: Bei der bipolaren Störung kommt es zu euphorischen Phasen, deren molekularer Ursprung nun entdeckt wurde.

    Zu analysieren, warum die Forscher weder ein Manie-Gen entschlüsselt haben, noch einen molekularen Ursprung der Manie entdeckt haben, überlasse ich jetzt aber gerne jemand anderem; die Gründe dafür habe ich schon im Text genannt.

  8. Selbstreferentiell

    Zweifellos gehört ausgeprägtes Suchtverhalten im Sinne affekthaften Strebens und fortwährenden Wühlens dazu, um das Bonner “derlei” überhaupt verzapfen zu können. Aber jeder Wissenschaftler hat nur ein oeuvre, die famose Erkenntnisfähigkeit seiner selbst – das ist seine Eitelkeit und damit beschäftigt er sich, das treibt ihn an. Da liegt es nahe, daß Suchtkranke über Sucht “forschen” und etwas herausfinden.

    Andererseits wird einigen kreativ Schaffenden zugebilligt, daß gerade “die Qualität” ihrer Sucht Arbeiten von größtem Wert hervorbringe – wenn er denn, sagen wir, ein Komponist wie Mozart, Strauss, Zappa etc., etc. sei. Sucht ist so vielfältig, natürlich und notwendig wie es Menschen gibt – ohne “temporäre” Sucht keine Konzentrationsfähigkeit -, und “Sucht” gilt erst dann als advers, wenn sie zu irrationalem Verhalten führt.

    Jeder ist süchtig – nur anders. Man darf also vermuten, daß dies zur conditio humana gehöre, und daß Gene das zumindest nicht verhindern.

  9. @Stephan Schleim Nein->Nein

    Sorry, wenn ich das jetzt missverständlich ausgedrückt habe.
    Mit den von ihnen herangezogenen Bewertungen stimmt das natürlich.
    Wenn man einen QTL Kontext heranzieht, aber eben nicht.
    Wobei man dann besser von einem Locus, als von einem Gen spricht, was aber in der Genetik durchaus verwirrend aber synonym verwendet wird. In meiner Tätigkeit als Populationsgenetiker sind mir Genen FÜR eine Eigenschaft begegnet, die 1-2% der Variablilität erklären. Voll durchgefallen, bei ihrem Test, trotzdem wäre es unsinnig zu sagen der Locus ist nicht ein Locus für z.B.: Krankheitsresistenz.
    Worauf ich hinaus will ist dass die Aussage dieses Gen ist ein “Gen für Spielesucht” eher trivial ist und keiner weitere Beachtung bedarf.
    Um jetzt von der Spielsucht wegzukommen und dem Menschen.
    Es gibt Loci, die für Trockenheitsresistenz verantwortlich sind. Als echtes Gen (also eine für eine mRNA kodierender Abschnitt) hat es vielleicht eine ganz andere Aufgabe, aber einige Varianten davon können vielleicht (mithelfen) das die Pflanze besser Trockenheit übersteht. Es ist daher (im entsprechenden Kontext) korrekt zu sagen, es ist ein Trockeheitsresizenzgen, auch wenn es vielleicht nur für 10% steht. Das ist einfach die Praxis. Als Züchter etwa ist es mir egal, dass man das Gen vielleicht eher als DNA Reperaturgen bezeichnen sollte. Ich tippe so ist es auch oben von Forscherseite.
    Das jetzt VIEEEEEEEEEEELE andere Faktoren SICHER eine Rolle spielen ist wohl unbestritten. Ein “Trockenheitsresistenzgen” bedarf einer der Trockenheit und dann auch wieder des Regens sonst ist es sinnlos.
    Das Gene sicher neben Erbkrankheiten, unserem Aussehen AUCH (aber natürlich nicht NUR, was zugegebenermassen gerade nicht so modern zu sagen ist) unser Verhalten beeinflussen ist offensichtlich. Alleine etwa das wir sprechen können und aufrecht gehen beeinflusst doch unser Verhalten, ebenso spielen Hormone eine Rolle und daher wenn jemand sagt er hat “Gene gefunden unter Umständen einen Einfluss haben wie wir uns verhalten” (das wäre die bessere Formulierung, aber sehr sperrig) was solls.

    Wie du schreibst scheint die Uni gerne so zu machen.
    Ich will noch mal sagen, alles was du sagt ist richtig, trotzdem ist es auch im Sinne der Praxis unwesentlich. Ich habe das eine Zeit auch gemacht und es ist heute einfach Standard die eigene Forschung als Bahnbrechend, Radikal, Überwältigen, Einzigartig darzustellen. Je maher Leute darüber reden, desto besser, selbst wenn sie (zu recht) die Formulierungen als für Aussenstehende Verwirrend kritisieren.
    Ich Tippe die Uni versucht nur gegenüber ihren Geldgebern gut da zu stehen und/oder die Forscher gegenüber den Projektförderern. Es handelt sich dabei umd zwei Dinge.
    a) Interen korrekte Formulierungen, die aber außerhalb des Fachwelt keinen Platz haben
    b) Werbung wie toll wir sind und was wir nicht vielleicht alles mal heilen können (Stichwort Krebsneid)
    Es ist ein Aufregerthema und ich wünschte mir ICH hätte das gemacht. Menschliches Verhalten mit Genen zu verbinden löst Diskussionen aus und verkauft sich daher gut. Noch besser wenn dann ein bekannter Aufreger daran hängt wie etwa die Internetsucht.

  10. @KeinAnfang: seriös vs. unseriös

    Meine Sichtweise und den Kendler-Test habe ich im Text erklärt – man muss nicht zwingend diesem Modell folgen, sondern kann natürlich ein anderes Modell zur Beschreibung von Gen-Effekten und deren Bedeutungen anwenden. Das kann dann m.E. aber zu absurden Konsequenzen führen (das sogenannte Internetspielsuchtgen ist dann womöglich auch ein Nikotin- und Alkoholsuchtgen, ferner ein Depressions- und Angsstörungsgen – gibt es Beispiele für gelungene Therapien selbst bei Genen mit größerem Effekt? usw. usf.).

    Du schlägst nicht wirklich ein theoretisches Alternativmodell vor, sondern verweist auf die Pragmatik: Es wird eben so gemacht, es hört sich gut an, erzeugt Aufmerksamkeit und ist auch noch zum Einwerben von Forschungsgeldern nützlich.

    Ich bleibe dabei: Die Aussage, es handle sich dabei um eine molekulare Ursache von Internetsucht (Titel Pressemitteilung) ist falsch; und das Versprechen, daraus vielleicht eine Therapie zu entwickeln, weit her geholt.

    Ich habe das eine Zeit auch gemacht und es ist heute einfach Standard die eigene Forschung als Bahnbrechend, Radikal, Überwältigen, Einzigartig darzustellen.

    Es ist vielleicht zum Standard geworden (übrigens m.E. zum Glück nicht in allen Bereichen), weil manche Kollegen Marketing- und Werbestrategien angewendet haben und damit im Wettebewerb eine Zeit lang Erfolg hatten. Daraus folgt aber nicht, dass dies ewig so weiter funktioniert.

    Es gibt genügend andere Kollegen, die nicht nur auf den schnellen Hype, sondern auf langfristige, kleine aber robuste Fortschritte aus sind. Ich gehe selbst davon aus, dass die Wahrnehmung der Forschung in den kommenden Jahren wieder umkippen wird. Manche Kollegen stellen beispielsweise eine Zunahme an “neuroskeptischen” Fachpublikationen fest (The rise of neuroskepticism). Mein eigener Beitrag über Neuro-Mythen landete zu meiner eigenen Überraschung nicht nur auf der Titelseite von G&G, sondern wurde dann noch von Spiegel Online gekauft und dort ca. 500.000 mal abgerufen. So etwas zieht dann Vortragseinladungen, Anfragen, ein Buch zu schreiben usw. nach sich.

    Der Öffentlichkeit kann man nicht x-mal das Versprechen geben, bald die Ursachen einer Erkrankung zu finden und dann neue Therapien entwickeln zu können (man denke einmal an die Genetik von Chorea Huntington, die um ein vielfaches einfacher ist, trotzdem nicht genetisch geheilt werden kann). Irgendwann wird man auch einmal Lösungen sehen wollen.

    Die (genetisch-neurowissenschaftlichen) psychiatrischen Forscher haben in den letzten Jahrzehnten so viel Versprochen, sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn ihnen jetzt keiner mehr glaubt. Die Pharma-Industrie hat sie bereits so gut wie vollständig fallen gelassen (Das Ende der Psycho-Pharmazie?), Hyman und Insel versuchen sich in teils schon grotesk anmutender Lobby-Arbeit (Neuroscientists unite for ‘Moon shot’) und dabei steht das ganze Gehirnmodell der psychiatrischen Erkrankungen auf wakkeligen Füßen. Wir werden sehen, wo wir in ein paar Jahren sind… Selbst wenn das Gen die Ursache der Erkrankung wäre (was es nicht ist), wer sagt denn, dass es der beste und pragmatischste Ort für die Behandlung ist?

    Bei der Krebsforschung – für die heutzutage auch die Genetik ausschlaggebend ist – haben Kollegen, die versucht haben, die einschlägigen Befunde der letzten Jahre zu replizieren, dies nur in erschreckend wenigen Fällen tun können: 11% (Raise standards for preclinical cancer research). Dies ist nicht nur ein Problem für die jeweiligen Experimente selbst, die Millionen bis Milliarden verschlungen haben, sondern auch für bis zu mehreren hundert Publikationen, die jeweils darauf aufbauen (siehe die Diskussion darin).

    Du wärst also gerne als Entdecker des Internetsuchtgens gefeiert worden – denkst du denn selbst, dass die hyperbolische Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation ewig so weiter gehen wird und man nicht gerade auch in Zeiten finanzieller Knappheit die Vesprechen mit dem, was am Ende dabei herausgekommen ist, vergleichen wird?

  11. Hierzu Passend: Schulz über Wissenschaft

    Wissenschaftliches Vorgehen ist es, jede einzelne Studie im Detail zu betrachten und darauf abzuklopfen, ob sie systematische Schwächen hat. Wenn sie die hat, müssen die Schwächen in der Argumentation ehrlich benannt werden. Im Zweifel ist die Studie zu verwerfen. Wissenschaft besteht darin, nach Fehlern in einer Argumentation zu suchen. Wer eine Theorie aufstellt, muss nach Argumenten suchen, die dieser Theorie entgegenzustehen scheinen, und zeigen, dass die Theorie der kritischen Überprüfung standhält. Eine Theorie kritisch zu überprüfen ist nicht primär Aufgabe ihrer Kritiker sondern ihrer Befürworter. (Joachim Schulz, Quantenwelt)

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