Gruß von Frederick oder: Wer hat hier die meisten Nüsse?

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Schmetterling im Garten des Klosters Eberbach in der Nähe von WiesbadenWas für einen Sinn hat das Leben in einer messbaren und quantifizierbaren Welt? Die Antwort, die ein Mäuserich aus einem Kindermärchen darauf gibt.

Es war als Kind eine meiner Lieblingsgeschichten, die Erzählung vom Mäuserich Frederick: Während die anderen Mäuse das Jahr über fleißig Nüsse für den Winter sammeln, lässt sich Frederick die Sonne auf den Bauch scheinen. Er liegt auf der Wiese, kaut dort Grashalme, genießt die Blumen und schaut Bienen und Schmetterlingen zu. Ab und an fragt ihn eine der geschäftigen Mäuse nicht ganz ohne Vorwurf, was er dort eigentlich macht. Sonnenstrahlen sammeln für den Winter, seine freiherzige Antwort, die natürlich bei den Nüssesammlern auf Unverständnis stößt. Doch immerhin: Sie lassen ihn gewähren, schicken ihn nicht zum Psychiater und geben ihm im Winter sogar von ihren Nüssen.

Chinesische Mäuse: Mit diesem Gastgebergeschenk wurde ich in der vorzüglichen Bar China Pa in Taipei, Taiwan bedacht. Der Besitzer hat hier eine Anzahl verschiedener Zeichnungen und Schriftzeichen für Mäuse versammelt.

Doch der Winter ist kälter und dauert länger als erwartet. Die mühsam gesammelten Vorräte nehmen bedrohlich ab und noch stets ist der Frühling nicht in Sicht. Schließlich sind sie völlig aufgebraucht und die Mäuse liegen mit leeren Bäuchen in der Höhle und klagen über den Hunger. Jetzt schlägt Fredericks Stunde: Als die meisten schon die Hoffnung aufgegeben haben, erzählt er von seinen Erlebnissen auf der Wiese, von den Blumen, Schmetterlingen und Bienen. Es scheint, als würde die Sonne aus seinem Inneren strahlen und tatsächlich wärmen seine Geschichten die anderen Mäuse von innen, lassen sie sie ihre leeren Mägen vergessen. Der Schnee schmilzt, der Frühling kommt, die Mäuse sind gerettet.

Frederick, zehn Jahre später

Frederick war dann viele (Schul-)Jahre lang in meinem Gedächtnis verschüttet. Man könnte auch sagen, er schlummerte und wartete auf den richtigen Moment, um mir auf die Schulter zu tippen. Ein solcher Moment war meine Abiturprüfung 2000. Der reguläre Schulbetrieb war für uns Dreizehntklässler vorbei, die letzten Kurse waren beendet und nun galt es, für die großen Abschlussprüfungen zu lernen. Bloß, darauf hatte ich nicht die geringste Lust.

Ich dachte mir, wenn ich nun doch schon vierzehn (sic!) Schuljahre hinter mir habe, dann müsste ich doch perfekt vorbereitet sein; und wenn nicht, was sollte ich dann in den Wochen bis zur Prüfung noch lernen? Ich rang und focht mit mir selbst, zwang mich, die Bücher aufzuschlagen, doch konnte kaum einen Satz zu Ende lesen. Stattdessen packte ich mein nagelneues Fahrrad und fuhr damit durch meine geliebten Weinberge, durch tiefe Wälder und über weite Felder. Dort war die Welt in Ordnung; und dort begegnete ich manchmal anderen, meistens älteren Wandersleuten, die hatten noch Zeit für einen Plausch und erzählten mir von ihrem Leben.

Geliebte Weinberge: Hier mit Blick auf Bingen aus einer Gastwirtschaft in der Nähe des Germania-Denkmals in Rüdesheim am Rhein.

Die Prüfungen kamen und ich schrieb sie im Schnitt zwei bis drei Punkte schlechter als vorher; und damit hatte ich noch Glück! Gerade in Physik hatte ich Mut zur Lücke bewiesen und wurden tatsächlich diejenigen Themen geprüft, die ich noch einigermaßen wiederholt hatte. Dass ich die Nächte vorher vor Aufregung kaum schlafen konnte, hat sicher auch nicht positiv gewirkt. Dennoch, ich habe es nicht bereut und freue mich heute, die Gedanken von damals in unserer Abizeitung verewigt zu haben (Frederick und das Abitur).

Frederick, zwanzig Jahre später

Eigentlich hätte mir der Mäuserich im letzten Jahr auf die Schulter tippen müssen. Doch in jenem Sommer habe ich mein neues Buch geschrieben, war ich selbst zu sehr mit Nüsse sammeln beschäftigt, um auf Fredericks Rat zu hören.

Viel ist passiert in diesen elf Jahren. Ein Studium mit großem Erfolg abgeschlossen, eine Doktorarbeit geschrieben, die sogar mit einem Preis ausgezeichnet wurde, erst postdoktoraler Forscher und dann plötzlich Assistant Professor an der Universität Groningen geworden. Das übliche Lebenslauf-Blabla.

In diesen Jahren habe ich aber auch einen Tinnitus bekommen, Haarausfall und gute drei Jahre lang Schmerzen an einer beunruhigenden Stelle, deren Ursachen jedoch auch im Kernspin-Weltmeisterland Deutschland kein Arzt finden konnte. Der Rat meines ersten Arztes in den Niederlanden war übrigens, nach Hause zu gehen und die Schmerzen zu ignorieren. Das Gesundheitssystem hier kann einen Deutschen schon sehr verwirren. Jedenfalls sind die Schmerzen nach und nach verschwunden.

Was hat nun Frederick damit zu tun? Ich habe ihm zu wenig Platz eingeräumt und mich stattdessen von den Erfolgen in der Wissenschaft vereinnahmen lassen. Ich habe versucht, meine Rolle in diesem System zu erfüllen und überzuerfüllen; dieser Vorstellung, der Mensch sei mess- und quantifizierbar und lasse sich so verstehen, meine Fron zu leisten. Freunde, die einen lieber erfolgreich als glücklich sehen, trugen ihren Teil dazu bei. Dabei wusste es Frederick doch besser.

Frederick in zehn Jahren?

Glaube ich den Nachrichten, die ich jeden Tag lese, dann leben wir in einer verrückten Welt. Ständig ist da von Märkten die Rede, die man beruhigen müsse, so als handle es sich um einen traumatisierten Menschen. Da sind Banker, für die schon Änderungen im Promillebereich die Welt bedeuten. So viele Kriege, Krisen und Hungersnöte überall; ratlose Politiker und Wissenschaftler, die alle etwas anderes erzählen.

Wir haben alle zu wenig auf Frederick gehört, waren alle zu viel mit dem Sammeln und Zählen von Nüssen beschäftigt; und wo ist er jetzt, uns vom Sommer und den Sonnenstrahlen zu erzählen? Würden wir ihm überhaupt zuhören oder nicht vielmehr denken, keine Zeit für diesen Unsinn zu haben? Sammeln wir nicht lieber wieder Impact-Punkte, deren Logik die meisten gar nicht kennen, oder übertrumpfen wir uns nicht lieber im Einwerben von Drittmitteln? Spekulieren wir nicht lieber wieder mit den neuesten Innovationen der Finanzmathematik, die eigentlich niemand wirklich versteht, getrieben von der Gewinnsucht und der Hoffnung, dass die Rechnung am Ende aufgeht oder wenigstens nicht wir die Zeche dafür bezahlen müssen?

Ich denke, dass bei weitem zu viel Arbeit auf der Welt erledigt wird und dass immenses Leid durch den Glauben erzeugt wird, Arbeit sei tugendhaft. (Bertrand Russell, 1932: In Praise of Idleness, dt.: Lob des Müßiggangs; meine Übersetzung)

Und weil wir denken, dass das alles noch nicht reicht, glauben wir, uns mit den neuesten Methoden oder gar Medikamenten und Drogen noch schlauer und leistungsfähiger machen zu müssen. Frederick, weißt du, wieso es mit uns so weit gekommen ist?

Wer hat die meisten Nüsse?

Eigentlich sind wir Punktesammler noch dümmer als die Mäuse, denn die Nüsse haben wenigstens einen inneren Wert: man kann sie essen. Einen Goldbarren kann man als Briefbeschwerer benutzen und er glänzt; darüber hinaus hat er seinen Tauschwert und der hat sich in zehn Jahren verfünffacht. Andere Investitionen haben ihren Tauschwert verloren. Kein Goldbarren, kein Wertpapier kann aber, was ein Stück Brot, ein Dach über dem Kopf oder ein Kleid am Leib können, nämlich zu nähren, vor Wind und Feuchtigkeit zu schützen und zu wärmen.

Sonnenuntergang: Auf der friesischen Insel Ameland.

Und natürlich ist da noch die Liebe. Unser Reichtum an Lächeln, den wir jedem Menschen schenken können, ohne dadurch selbst ein Stück ärmer zu werden; Vertrauen und Respekt, die wir einander geben können, sodass wir alle gewinnen, ohne dass ein anderer dafür schuften muss; Zärtlichkeit, mit der wir ausdrücken können, wie viel uns jemand bedeutet. Aber uns fehlt die Zeit, vier Wochen Urlaub im Jahr müssen reichen, dabei ist Zeit doch nichts, was man hat oder nicht hat, so wie das Stück Brot oder den Goldbarren, sondern etwas, das man sich nimmt, nämlich für das, was einem wichtig ist. Genauso wie Frederick es auch getan hat.

Frederick, ich will in den kommenden zehn Jahren wieder mehr auf dich hören. Ich will nicht ständig zuhause meine Arbeits-E-Mail abrufen deshalb kein schlechtes Gewissen bekommen; und, nein, ich will nicht erwachsen werden, wenn das bedeutet, nicht mehr in der Sonne liegen und träumen zu dürfen.

Ich widme diesen Beitrag meinen Schulkameradinnen und Kameraden von damals, die sich vielleicht ab und zu meiner erinnern. Die Zukunft ist unser.

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Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

9 Kommentare

  1. Zunkunft

    “Die Zukunft ist unser.”

    Nein. Die Vergangenheit.

    “All our times have come
    here but now they’re gone.”

    (Blue Öyster Cult: The Reaper)

  2. Vergangenheit

    Sorry, wenn ich das mal so sage, aber das mag vielleicht auf deine Generation zutreffen.

    Ich denke schon, dass die Leute, die rund 2000 ihr Abitur gemacht haben, allmählich in lenkende Funktionen kommen, oder? Vielleicht kommt jemand noch auf eine gute Idee, was wir mit dem ganzen Chaos anfangen sollen.

  3. @ Schleim

    Ich hab’ 1977 Abi gemacht…

    Du hast ja recht. Ich sollte mich des Chaos schämen, das ich den Nachfolgern hinterlassen werde. Zu meiner Entschuldigung: ich fand schon eines vor.

  4. Das

    Sorry, wenn ich das mal so sage, aber das mag vielleicht auf deine Generation zutreffen.

    …war richtig gemein. Muss ich mir merken. 😉

  5. Kunst

    Naja, Helmut, aus diesem Chaos hast du aber doch ein paar schöne Gedichte und Geschichten destilliert. Was willst du mehr? Darüber hätte der Mäuserich Frederick sich sicher herzlich gefreut.

  6. … Zeit FINDEN

    Ich wünsche Ihnen ein grenzenloses Maß notwendiger Zufriedenheit, … genau so viel Zeit zu finden, die die notwendig sein wird, Frederik zuhören zu können. Ich bin überzeugt, unser „wollen“ (… und sei es deswegen, sich mehr Zeit nehmen „zu müssen“) steht uns im Wege! Ich höre aus Frederiks reden, das für ihn wohl „wollen“ aufgehört hat zu existieren. Dies zum Vorbild zu nehmen, bedarf es weniger an bewusster Kraftanstrengung als vielmehr am entspannenden Los-lassen, … etwas sein-lassen zu können!

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