Antidepressiva: “Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich”

Ein Interview über den problematischen Erfolg der häufig verschriebenen Medikamente

Michael P. Hengartner ist promovierter Psychologe und forscht an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Von 2009 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit 2015 ist er auch Dozent für Psychosoziale Medizin an der Universität Zürich und für Psychopathologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seine Forschungsschwerpunkte sind klinische Psychologie, Sozialpsychiatrie und die Verbreitung (Epidemiologie) psychischer Störungen.

Wichtiger Hinweis des Autors: Das Absetzen von Antidepressiva kann zu Entzugserscheinungen oder der Verschlimmerung bestimmter Symptome führen. Bitte unternehmen Sie keine solche Schritte ohne die Betreuung einer erfahrenen Vertrauensperson.

Frage: Herr Dr. Hengartner, warum haben Sie sich mit der Forschung zu Antidepressiva beschäftigt?

Michael P. Hengartner: Hier muss ich etwas ausholen: Als Forscher interessierte ich mich schon früh für die Methoden- und Wissenschaftslehre. Wie zuverlässig ist die Forschung insgesamt? Aber auch speziell die Forschung in der Psychologie oder Psychiatrie? Zudem befasste ich mich viel mit Statistik und der Art und Weise, wie Forschende die Statistik mitunter missbrauchen und fehlinterpretieren.

Natürlich hatten wir inzwischen auch die Replikationskrise in der Psychologie: Warum lassen sich so viele Studienergebnisse nicht wiederholen? Zudem scheint es fast überall einen „publication bias“ zu geben. Das heißt, positive Ergebnisse werden geschönt und publiziert, negative Befunde verschwinden aber in der Schublade. Viele Forscher versuchen, ihre Fachrichtung zu verkaufen – und sind darum voreingenommen.

Ich schaute mir auch Forschung zur Wirksamkeit von Psychotherapie an. Dann stieß ich auf die kritischen Arbeiten zur Wirksamkeit von Antidepressiva der britischen Psychiater David Healy und Joanna Moncrieff, des amerikanischen Psychologen Irving Kirsch oder des dänischen Arztes und Direktors der nördlichen Cochrane-Zenters Peter Gøtzsche. Ich war schockiert über das Ausmaß methodischer Verzerrungen in diesen Antidepressiva-Studien.

Frage: In Ihrem neuen Übersichtsartikel kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Antidepressiva – konkret geht es um die gängigsten Medikamente vom Typ SSRI und SNRI – größtenteils nutzlos und potenziell schädlich sind. Können Sie das kurz erklären?

Das Hauptproblem von Studien zu Antidepressiva ist, dass sie vom Entwurf an falsch sind, auf englisch sagt man: „flawed by design.“ Schon bevor die eigentlichen Beobachtungen beginnen, ist alles darauf ausgerichtet, dass man am Ende möglichst einen signifikanten Effekt zugunsten der Medikamente findet. Dabei sollten randomisierte und Placebo-kontrollierte Studien eigentlich solche Verzerrungen vermeiden.

In der Praxis kann davon aber oft keine Rede sein. So werden etwa vor der Hauptuntersuchung schon Teilnehmer ausgeschlossen, die stark auf ein Placebo, also eine wirkungslose Kontrollsubstanz reagieren. Warum tut man das? Weil so die Wahrscheinlichkeit höher wird, dass das Medikament später eine stärkere Wirksamkeit zeigt als das Placebo.

Dr Michael P. Hengartner, Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Behandlung von Entzugserscheinungen

Frage: Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen?

Michael P. Hengartner: Patienten mit einer diagnostizierten Depression bekommen oft schon ein anderes Medikament verschrieben. Um die Studienergebnisse nicht durch solche Substanzen zu verfälschen, gibt man ihnen wenige Tage vor Beginn der randomisierten Studie erst einmal ein Placebo. Dies wird als Placebo-Washout bezeichnet. Es heißt, dass damit das alte Medikament aus dem Körper gewaschen werden soll. Wer dann schon eine Verbesserung zeigt, also stark auf das Placebo reagiert, der wird aus der späteren Untersuchung ausgeschlossen.

Ein anderes Problem ist, dass durch das Absetzen des alten Medikaments Entzugserscheinungen auftreten können. Denken Sie etwa an Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Ängstlichkeit oder Schlafprobleme. Die wenigen Tage Placebo-Washout vor der Studie sind oftmals zu kurz, als dass diese Symptome vor Studienbeginn bereits abgeklungen wären. Nun muss man wissen, dass das auch Symptome sind, mit denen man die Schwere depressiver Störungen misst.

Das heißt, manche Patienten in der Placebo-Gruppe verzeichnen zu Beginn der Hauptuntersuchung einen höheren Depressionswert, der aber durch den Medikamentenentzug ausgelöst wurde. Bei Personen in der Wirkstoff-Gruppe wiederum tritt kurz nach Beginn der Studie eine deutliche Verbesserung ein, denn die Vergabe von Antidepressiva beendet das Entzugssyndrom unmittelbar. Wenn in Studien von lediglich 4-6 Wochen in der Antidepressiva-Gruppe eine etwas größere Symptomverbesserung verzeichnet wurde als in der Placebo-Gruppe, könnte das nicht für die wirkweise des neuen Medikaments sprechen, sondern schlicht für das Abklingen dieser Entzugserscheinungen.

In den Daten lassen sich diese Effekte leider nicht voneinander unterscheiden. Bei manchen Patienten in der Placebo-Gruppe können die Symptome unmittelbar nach dem Absetzen auftreten, also in der Washout-Phase. Bei anderen geschieht das erst verzögert, während der eigentlichen Untersuchung. Wir wissen aus Studien, dass 10 bis 50 Prozent der Patienten solche Entzugserscheinungen haben können.

Ein ähnliches Problem ist, dass Patienten in manchen Studien Beruhigungsmittel verschrieben werden, etwa Benzodiazepine. Mit diesen dürfen die Ärzte Unruhe oder Schlaflosigkeit, was typische Nebenwirkungen der Antidepressiva sind, nach eigenem Gutdünken behandeln. Der Effekt, der am Ende dem neuen Medikament zugeschrieben wird, könnte also schlicht an der Gabe von Beruhigungsmitteln liegen.

Beeinflusste Beobachter

Frage: Welche Rolle spielen die Fachleute, die die Untersuchungen machen, bei solchen Studien?

Michael P. Hengartner: Ein klassischer Befund aus der Psychologie ist, dass es in experimentellen Studien einen Beobachtereffekt gibt. Das heißt, wenn die Versuchsperson oder der Forscher weiß, zu welcher Gruppe er gehört, dann fällt das Studienergebnis anders aus. Gerade deshalb sollen in solchen Studien weder die Patienten, noch die klinischen Fachleute wissen, wer das Placebo und wer den Wirkstoff bekommt. Man nennt das Doppelverblindung.

In der Praxis funktioniert das aber nicht: Sowohl die Patienten als auch die Fachleute haben oft jahrelange Erfahrung mit den Wirkungen von Psychopharmaka. Das heißt, wenn ein Patient nach einigen Tagen keine der häufigen Nebenwirkungen wie etwa Mundtrockenheit berichtet, dann können beide Seiten vermuten, dass hier ein Placebo verwendet wird, auch wenn niemand das offiziell weiß.

Das kann die Studienergebnisse verfälschen. Schließlich sind die Fachleute diejenigen, die den Patienten Fragen stellen und dann beurteilen, wie stark die Symptome sind – etwa leicht, mittel oder schwer –, woraus dann ein allgemeiner Depressionswert berechnet wird. In Untersuchungen wurde gezeigt, dass rund 90 Prozent der Fachleute nach einiger Zeit wissen, wer das Placebo und wer den Wirkstoff bekommt. Damit ist die Aussagekraft und Gültigkeit der Studien fundamental gefährdet.

Man hat in einigen Studien mittels Fragebögen die Patienten selbst ihre Symptome bewerten lassen. Dann wurden die Effekte kleiner oder verschwanden sogar ganz. Fachleute und Patienten haben also unterschiedliche Meinungen über die Wirkung. Davon abgesehen erfassen solche Depressionsskalen meist nicht, wie es den Patienten im wirklichen Leben geht. Können sie arbeiten? Wie steht es um ihre Beziehungen? Das sind aber Dinge, die für die Betroffenen unabhängig vom Schweregrad ihrer Symptome von großer Bedeutung sind.

Gefährdete Repräsentativität

Frage: Inwiefern sind solche Studien überhaupt repräsentativ?

Michael P. Hengartner: Das ist ein anderer wichtiger Punkt. Neben Menschen, die stark auf ein Placebo reagieren, werden auch Menschen vom Versuch ausgeschlossen, die zusätzliche Probleme haben wie Angst- oder Substanzstörungen, also eine Alkohol- oder Drogensucht. In der Fachsprache nennt man das Komorbidität. Ebenfalls ausgeschlossen werden in der Regel Patienten, die unter psychotischen Symptomen oder Suizidgedanken leiden.

Jeder Kliniker weiß aber, dass Patienten mit der Diagnose Depression oft vielfältige Probleme haben. Die Studien müssten eigentlich nachweisen, welche Effekte die Medikamente in dieser typischen Patientengruppe haben, arbeiten aber mit einer ganz anderen, stärker eingegrenzten Gruppe. Daher lassen sich die Ergebnisse von Placebo-kontrollierten Antidepressivastudien nicht verallgemeinern.

Frage: Sie schreiben auch, dass Antidepressiva das Suizidrisiko erhöhen und die Gesundheit gefährden können. Würden Sie das bitte näher erläutern?

Michael P. Hengartner: Diese Diskussion ist schon mindestens zwanzig Jahre alt. Eigentlich wurde schon Anfangs der 1990er Jahre bekannt, dass die damals neuen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) sowohl bei gesunden Personen als auch bei Menschen mit psychischen Störungen extreme Unruhe auslösen oder Suizidalität verursachen können. Das heißt, sie können unkontrollierbare, aggressive Impulse bekommen, an den Tod denken oder gar konkrete Schritte unternehmen, sich selbst zu verletzen.

Ein Problem war, dass die Wirksamkeits-Studien zu wenige Personen untersuchten, um diese Effekte statistisch signifikant werden zu lassen. Und Sie müssen wissen, dass man in der Forschungswelt die 5%-Signifikanzschwelle verabsolutiert, mehr als es die statistische Theorie rechtfertigt. So haben erst spätere Meta-Analysen mit den Daten tausender Menschen bestätigt, dass Antidepressiva zu einer erhöhten Suizidalität führen können. Der bereits erwähnte David Healy hat hierauf bereits sehr früh hingewiesen und sich damit viele Feinde geschaffen.

Dazu kommt, dass Suizidversuche, wenn sie in der oben beschriebenen Washout-Vorbereitungsphase auftraten, der Placebo-Gruppe angerechnet wurden. Dadurch wurde es unwahrscheinlicher, dass Suizidalität im Zusammenhang mit dem neuen Medikament auffällt. Außerdem ist es schwierig das Problem zu messen, wenn man von fatalen Suizidversuchen absieht. In manchen Studien wurden Gedanken an den Tod oder Selbstverletzungen schlicht als „emotionale Instabilität“ oder „Verschlechterung der Depression“ registriert, um das Problem zu kaschieren.

Gesundheitsgefährdung

Frage: Und was meinen Sie mit Gefährdung der Gesundheit?

Michael P. Hengartner: Hier geht es eher um die langfristige Einnahme von Psychopharmaka, also über viele Jahre hinweg. Man muss sich vor Augen führen, dass es sich um psychoaktive Substanzen handelt. Wie andere Drogen auch. Das heißt, die Medikamente wirken irgendwie im Gehirn, auch wenn sie meiner Meinung nach nicht speziell die depressiven Symptome lindern.

Nun weiß man zudem, dass Serotonin im ganzen Körper wirkt und beispielsweise die Immunfunktion und den Stoffwechsel beeinflusst. So kann es schließlich zu einer Störung lebenserhaltender Körperprozesse kommen. Und natürlich zu neurobiologischen Störungen aufgrund andauernder Veränderung der Gehirnchemie.

Mir geht es nicht darum, Psychopharmaka zu verteufeln. Man muss aber bewusster damit umgehen, was die Substanzen im ganzen Körper machen, und das in die Abwägung von Nutzen und Risiken einbeziehen. Mehrere Studien zeigen inzwischen sehr deutlich, dass die langjährige Einnahme von Psychopharmaka bestimmte Gesundheitsrisiken erhöht.

Frage: Was Sie in Ihrem Artikel zusammenfassen, ist das Ergebnis jahrelanger Forschung. Es handelt sich um wissenschaftliche Veröffentlichungen, die seit Langem in den Bibliotheken stehen. Warum dringt davon so wenig an die Öffentlichkeit?

Michael P. Hengartner: Man muss sich vor Augen führen, dass sich die Mainstream-Psychiatrie stark auf biomedizinische Konzepte und das Verschreiben von Psychopharmaka eingeschossen hat. Das sind die Krankheitsmodelle, die man am häufigsten untersucht und die Behandlungen, die man am häufigsten anwendet. Diese Botschaft wird auch erfolgreich medial verbreitet und aggressiv vermarktet. Die Hoffnungen in die Biologische Psychiatrie waren und sind sehr groß. Kritische Meinungen und Arbeiten wurden hingegen lange ignoriert.

Das lag auch an den systematischen Verzerrungen, über die wir bereits gesprochen haben. Man weiß heute, dass manche Studien eigentlich nur eine bedeutungslose Differenz zwischen Placebo und Antidepressivum von ein bis zwei Punkten auf einer Depressionsskala von 52 Punkten ergeben haben. In der Publikation wurde am Ende aber eine Differenz von über zehn Punkten berichtet, weil man selektiv nur eine Teilmenge der Patienten ausgewertet hat. Ärzte und Forscher haben diese verzerrten Darstellungen dann gelesen und einen falschen Eindruck bekommen.

Natürlich gibt es auch den großen Wunsch durch das Personal in den Klinken und Arztpraxen, den Menschen etwas anzubieten, das wirklich hilft. Diesen Glauben an die Wirksamkeit der Medikamente wollen sich viele verschreibende Ärzte nicht nehmen lassen.

Zunehmende Verschreibungen

Frage: Warum werden dennoch so viele Antidepressiva verschrieben? Sie behaupten sogar, dass es immer mehr werden.

Michael P. Hengartner: Es gibt wahrscheinlich mehr als nur eine einzige Ursache. Ich denke, dass auch die Hilflosigkeit in den Kliniken eine Rolle spielt. Was hat man nicht schon alles bei schwerkranken Patienten versucht? Man will ja auch Hilfe leisten, damit es den Patienten besser geht.

Zudem mangelt es eben auch an Mitteln und alternativen Möglichkeiten. Bei einer akuten, schweren Depression mit psychotischen Symptomen ist beispielsweise eine Psychotherapie schwierig, da die Patienten vielleicht nicht mitmachen oder schnell abbrechen.

Es liegt aber auch daran, dass, wie gesagt, die Wirksamkeit der Medikamente überschätzt wird. Weil diese Meinung so weit verbreitet ist, haben es kritische Arbeiten schwer, durch den wissenschaftlichen Gutachterprozess zu kommen. Die Peer Reviewer, die eigentlich neutral und unabhängig sein sollten, halten diese Sichtweise für falsch und erschweren die Veröffentlichung. Rasch wird man auch als irrationaler Polemiker oder gar Sektierer abgestempelt.

Frage: Wie verhält es sich eigentlich mit den offiziellen Richtlinien für die Behandlungen? Sind diese denn eindeutig?

Michael P. Hengartner: In diesen äußert sich ein weiteres Problem, dass man nämlich an unterschiedlichen Orten verschiedene Meinungen darüber hat, was die beste Behandlung ist. So schreibt etwa die Richtlinie der Amerikanischen Psychiatrievereinigung vor, dass man schon bei milden Depressionen Antidepressiva verschreiben soll. Das entsprechende britische Komitee rät aber strikt davon ab und schreibt vor, in solchen Fällen erst einmal abzuwarten und zu beobachten.

Interessant ist, dass sich beide Gremien, also die amerikanischen und die britischen Psychiater, im Wesentlichen auf dieselben Studien berufen – aber dennoch zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Was soll ein Arzt also machen? Wenn er zudem an Weiterbildungen teilnimmt, die so gut wie immer von der Pharmaindustrie gesponsert sind, wo dann jemand kommt, der ein Loblied auf die Medikamente singt.

Interessenkonflikte

Frage: Inwiefern spielen finanzielle Interessenkonflikte, von denen man immer wieder hört, hier eine Rolle?

Michael P. Hengartner: Diese sind ein sehr großes Problem. Man weiß heute, dass die Meinungsführer in der Psychiatrie stark von den Geldern der Pharmaindustrie abhängig sind. Manche von ihnen haben Verbindungen mit sechs bis acht verschiedenen Unternehmen.

In Einzelfällen ist belegt, dass es um mehrere hunderttausend Dollar geht, die jemand innerhalb weniger Jahre mit Vortragshonoraren, als Berater und in anderen Funktionen verdienen konnte. Manche halten sogar Anteile der Unternehmen, deren Produkte sie eigentlich unabhängig und neutral untersuchen sollen. Solche Leute und deren Mitarbeiter produzieren dann Ergebnisse, die die Regulierungsbehörden erfordern, um die Medikamente auf dem Markt zuzulassen.

Dazu kommt, dass die Pharmaindustrie in der Breite viele der Studien finanziert. Auch Kongresse und Weiterbildungen werden finanziell unterstützt und mit medikamentenfreundlichen Inhalten versehen. Wie soll dann eine neutrale, kritische Meinung, wie wir sie von der Wissenschaft erwarten, noch möglich sein?

Eine Anekdote hierfür: Marcia Angell, früher Chefredakteurin des New England Journal of Medicine, eine der führenden medizinischen Fachzeitschriften, suchte einmal einen bekannten Psychiater ohne Interessenkonflikt. Dieser sollte einen Leitartikel zu einem bestimmten Forschungsthema verfassen. Es war aber so gut wie unmöglich, unter den führenden Persönlichkeiten des Faches so jemanden zu finden.

Frage: Es gibt aber auch Patienten, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die Medikamente ihnen geholfen haben. Wie erklären Sie sich solche Fälle?

Michael P. Hengartner: Wie gesagt, Antidepressiva sind psychoaktive Substanzen, die haben durchaus psychische und körperliche Effekte. SSRIs beispielsweise wirken bei einigen Menschen aktivierend. Das können manche Patienten, die etwa unter Lethargie leiden, als sehr hilfreich empfinden.

Bei anderen kann diese Aktivierung aber auch zu innerer Unruhe, zu Gedankenrasen und Schlaflosigkeit führen. Ich bezweifle nicht, dass Antidepressiva wirken, sondern dass sie spezifisch anti-depressiv wirken. Zudem denke ich, dass diese Effekte längerfristig schädlich sind.

Davon abgesehen ist allein schon die Überzeugung, dass man einen Wirkstoff bekommt, für viele Patienten beruhigend. Was oft nicht berücksichtigt wird, ist dass man zusätzlich zu dem Medikament auch Aufmerksamkeit bekommt, eine Hilfeleistung. Jemand erkundigt sich nach den Symptomen.

Allein das führt oft schon zu einer Besserung. Wahrscheinlich hätten viele Patienten, denen man an Stelle eines Antidepressivums ein Placebo gegeben hätte, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. In der klinischen Praxis wird das aber aus ethischen Gründen nicht durchgeführt.

Alternativen

Frage: Und zum Schluss: Ihre Zusammenfassung der Forschung zeichnet ein eher düsteres Bild der Psychiatrie und Psychopharmakologie. Haben Sie eine Idee, wie eine bessere Alternative aussehen könnte?

Michael P. Hengartner: Ich denke vor allem, dass die Pharmaindustrie nicht länger die Wirksamkeit ihrer eigenen Medikamente bestimmen dürfte. Stellen Sie sich vor, eine Fußballmannschaft dürfte selbst den Schiedsrichter stellen! Jedem leuchtet unmittelbar ein, dass das System Sport so nicht funktionieren würde.

Warum ist es in der Wissenschaft dann anders? Es müsste eine vollständig unabhängige Instanz geben, die die Studie von Anfang bis Ende durchführt und publiziert. Das heißt insbesondere, dass das Ausmaß der Abhängigkeit von der Pharmaindustrie, das leider eine katastrophale Dimension erreicht hat, reduziert werden müsste.

Die Interessenkonflikte beginnen schon dort, wo Fachleute sich Gedanken machen, wie man psychische Störungen überhaupt definiert und diagnostiziert. Im Ergebnis werden mitunter aus Trauer oder Stressbelastung aufgrund kritischer Lebensereignisse psychische Störungen gemacht, die dann pharmakologisch behandelt werden. Auch die Behandlungsrichtlinien dürften nicht von Leuten aufgestellt werden, die für Nebentätigkeiten tausende oder gar hunderttausende Dollar von der Pharmaindustrie bekommen haben.

Frage: Das ist immer noch sehr aus der Perspektive von Fachleuten gedacht. Können Sie etwas mit Blick auf die Patientinnen und Patienten empfehlen?

Michael P. Hengartner: Es ist wichtig, Patienten und Ärzte für das Thema zu sensibilisieren. Gerade bei milden Depressionsformen gibt es Alternativen zur Verschreibung von Psychopharmaka. Außerdem werden mehr als die Hälfte der Psychopharmaka an Leute verschrieben, bei denen überhaupt keine depressive Störung diagnostiziert wurde.

Bei solchen Personen oder bei milden Formen der Störung sollte man eher an soziale oder psychologische Interventionen denken. Keinesfalls sollte man die Medikamente als „Glückspillen“ missverstehen. Es ist doch frappierend, wenn inzwischen in den USA rund 20 Prozent der Frauen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren Antidepressiva verschrieben bekommen!

In vielen Fällen geht es schlicht um Überlastung, Frust oder Stress. Dann sollte man sich auch die Lebensumstände anschauen, die Schlafhygiene, die Ernährung. Man weiß auch, dass körperliche Aktivität und Sport für viele Menschen eine Hilfe sein können. Das sollte bei milderen Formen der Probleme der erste Ansatz sein.

Und selbst bei schweren Depressionsformen hat sich Psychotherapie als wirksame Alternative zu den Medikamenten erwiesen. Vor allem längerfristig scheint die Psychotherapie der medikamentösen Therapie überlegen zu sein und hilft beispielsweise auch dabei, wieder eine Arbeit zu finden, was Medikamente nicht können. Zudem kann Psychotherapie keine schwerwiegenden körperlichen Störungen verursachen. Das ist ein großer Vorteil.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint parallel auf Telepolis – Magazin für Netzkultur.

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77 Kommentare

  1. Der Interviewpartner widerpsricht sich implizit selbst, wenn er einerseits davon spricht, Antidepressiva seien “Grösstenteils nutzlos und potenziell schädlich”, dann aber als Konsequenz seiner Erkenntnis folgendes fordert (Zitat): “Gerade bei milden Depressionsformen gibt es Alternativen zur Verschreibung von Psychopharmaka. Außerdem werden mehr als die Hälfte der Psychopharmaka an Leute verschrieben, bei denen überhaupt keine depressive Störung diagnostiziert wurde.”
    Denn: Kein Psychiater, ja kein Humanmediziner kann es letztlich rechtfertigen, dass (Zitat) “Psychopharmaka an Leute verschrieben, bei denen überhaupt keine depressive Störung diagnostiziert wurde” und wenn Michael P. Hengartner wirklich der Meinung ist, Antidepressiva seien (Zitat) “grösstenteils wirkungslos”, dann müsste er vielmehr empfehlen, diese überhaupt nicht mehr zu verschreiben. Tatsächlich aber empfiehlt Michael P. Hengartner aber nur, Antidepressiva nicht mehr bei schwach Depressiven einzusetzen. Offensichtlich weiss Michael P. Hengartner, dass die Aussage Anitdepressiva seien “Grösstenteils nutzlos und potenziell schädlich” eine Übertreibung ist.

  2. AD werden hauptsächlich an Personen ohne Diagnsoe verschrieben. Dieser Befund wurde mehrfach repliziert (z.B. Mojtabai & Olfson, 2011; Health Affairs, 30:1434-1442). Der Kommentator scheint die wissenschaftliche Literatur sehr schlecht zu kennen, wenn er denkt, dass Ärzte Antidepressiva nur an Personen mit klinischer Diagnose verschreiben. Und meine Aussage “Antidepressiva grösstenteils nutzlos und potenziell schädlich” wurde soeben durch die aktuellste Meta-Analyse (Cipriani et al., 2018; Lancet) bestätigt: Von den 21 untersuchten Antidepressiva waren bezüglich vorzeitiger Behandlungsabbrüche (Dropouts) lediglich 2 Wirkstoffe (Agomelatine und Fluoxetine) signifikant wirksamer als Placebo. 18 Medikamente unterschieden sich nicht von Placebo und 1 Wirkstoff (Clomipramine) war sogar signifikant schelchter als Placebo. Da die subjektiven Symptom-Ratingskalen wie die Hamilton Depressionskala hauptsächlich die WirksamkeitsERWARTUNG der Patienten und Beurteiler abbilden, sind die Abbruchraten das objektivere und zuverlässigere Wirksamkeitskriterium. Wenn AD wirklich wirksam wären, warum wird die Behandlung mit Ihnen gleich häufig abgebrochen wie bei einer wirkungslosen Placebopille? Ausserdem: Die durchschnittliche Effektstärke beruhend auf Symptom-Ratingskala, ausgedrückt als standardisierte Mittelwertsdifferenz, war lediglich 0.3 (Cipriani et al., 2018; Lancet). Dies bedeutet, dass AD und Placebo in ihrer “Wirksamkeit” zu 88.1% überlappen und dass ein Antidepressivum lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von 58.4% wirksamer als Placebo ist (zur Erinnerung: ein Null-Effekt wäre 50%). Das entsprechende Number Needed to Treat ist ca. 10. Das heisst, 10 Patienten müssen Antidepressiva einnehmen, damit bei 1 Person eine minimale Verbesserung gegenüber Placebo verzeichnet wird. Dies ist ganz klar Evidenz dass Antidepressiva grösstenteils nutzlos sind. Über potentielle Schäden macht die aktuellste Meta-Analyse wenig Angaben, aber immerhin wird im Anhang berichtet, dass jedes der untersuchten 21 Medikamente ausser Agomelatine mehr Abbrüche aufgrund unerträglicher Nebenwirkungen verursacht als Placebo. Eine frühere Meta-Analyse von Jakobsen und Kollegen (BMC Psychiatry, 2017; 17:58) bestätigt zudem, dass in Antidepressivagruppen signifikant häufiger “serious adverse events” (SAE) auftreten als in Placebogruppen. Als SAE bezeichnet man unerwünschte Effekte, welche lebensbedrohlich oder schwer beeinträchtigend sind und zu Tod, Behinderung oder Hospitalisation führen. Somit sollte auch klar sein, dass diese Medikamente potentiell schädlich sind, selbst in kurzzeitigen Trials von lediglich 6-8 Wochen. Dass einzelne dieser Nebenwirkungen extrem schwerwiegend und gefährlich sein können, haben auch andere Autoren umfassend detailliert (z.B. Carvalho et al., 2016; Psychotherapy and Psychosomatics, 85:270-288). Darum wiederhole ich meinen Standpunkt: Antidepressiva sind mehrheitlich wirkungslos und potenziell gesundheitsschädigend. Dies lässt sich wie oben dargestellt wissenschaftlich bekräftigen.

  3. @Ego: Meta-Analyse im Lancet

    Das ist die Studie von Cipriani und Kollegen, die Herr Hengartner am Anfang seiner Antwort diskutiert hat.

    Dazu kommt, dass auch diese Studie auf Daten basiert, die den im Interview besprochenen systematischen Verzerrungen unterliegen.

  4. @Michael P.Hengartner: Gesamthaft denke ich folgendes: aufgrund einer oder ein paar Studien Antidepressiva als grösstenteils wirkungslos zu beurteilen ist problematisch. Es kann durchaus sein, dass Antidepressiva weniger wirksam sind als oft behauptet und zudem ist es auch möglich, dass nicht alle Patienten gleich gut auf eine medikamentöse Behandlung oder auf ein bestimmtes Antidepressivum ansprechen. Im Detail hätte ich noch folgendes: Sie schreiben (Zitat): “AD werden hauptsächlich an Personen ohne Diagnsoe verschrieben.” Klar ist das so. Nur ändert das nichts daran, dass sich diese Praxis wissenschaftlich nicht rechtfertigen lässt. AD sind diesbezüglich übrigens keine Ausnahme. Auch Antibiotika werden häufig ohne Indikation verschrieben, allerdings heute in Ländern wie Deutschland viel weniger als noch vor ein paar Jahren. Heute sind es nur noch Länder wie Italien oder Indien, wo ein Patient ungefragt ein Antibiotika wegen irgend eines Symptoms einer Infektionskrankheit erhält. Auch bezüglich der Abgabe von Antidepressiva wird sich das so entwickeln. Länder mit höherem Standard werden Diagnosen einfordern, andere Länder geben sie weiterhin wie Zuckerpillen ab.

  5. Ein Grund, warum immer mehr Menschen den Weg der Schulmedizin verlassen ist der, dass sowohl in der Psycholopie, als auch die Physiologie betreffend meist nur eine Verwaltung stattfindet und die Behandler immer noch dem Mythos an Heim fallen, dass sie heilen könnten. Was für eine Egomanie!

    Im Bereich der energetischen Psychologie ist längst bekannt, dass es immer nur um Selbstheilugn und etwas geht, dass ich als “Heilhilfe” bezeichne.

    Seit etwa 12 Jahren bin ich in diesem Bereich tätig. Ob mit “Der Sanfte Weg” oder neuerdings auch mit der Craniosacralen Behandlung. Ich erlebe Psychologen als Teilnehmer von solchen Ausbildungen, die mitteilen, dass sie diese Weiterbildung machen, weil sie mit ihrem Studium nicht weiter kommen und inzwischen mehr Berichte schreiben, als für Klienten da sein zu können.

    Berichte von Behandlungsdauern über Jahrzehnte, die kaum oder keine Erfolge mit sich bringen sind eher die Regel, als eine Seltenheit.

    Um so faszinierender empfinde ich es, dass sich psychische “Störungen”, grundsätzlich handelt es sich auch hier nicht um eine faktische Störung, sondern um eine Kompensation wie ich meine, zum Teil nach nur einer Behandlung im Bereich der energetischen Psychologie, erheblich ändern/auflösen.

    In jedem Fall erlebe ich, dass ein Angehen auf intellektueller Basis kein einziges Trauma lösen helfen kann. Was auf emotionaler Basis, mit Hilfe einer Körperbehandlung, in jedem Fall eine Änderung mit sich bringt. Selbst dann, wenn die Umstände vom Grundsatz her eine solche Behandlung theoretisch nicht möglich machen sollten.

  6. Interessanterweise wird die Cipriani-Studie auch von der Nachrichtenagentur Reuters verbreitet – allerdings mit einer völlig anderen Beurteilung, heisst doch der Titel des Reuters-Artikel Study seeks to end antidepressant debate: the drugs do work. Dort liest man (übersetzt von DeepL): Eine umfangreiche Forschungsstudie, die versucht hat, eine langjährige Debatte darüber beizulegen, ob Antidepressiva wirklich wirken oder nicht, hat herausgefunden, dass sie tatsächlich wirksam sind, um akute Depressionen bei Erwachsenen zu lindern.
    Die internationale Studie – eine Meta-Analyse, die die Ergebnisse von 522 Studien mit 21 häufig verwendeten Antidepressiva und fast 120.000 Patienten zusammenfasst – enthüllte eine Reihe von Ergebnissen, wobei sich einige Medikamente als wirksamer als andere erwiesen und einige weniger Nebenwirkungen hatten.

    Aber alle 21 Medikamente – darunter sowohl patentfreie Generika als auch neuere, patentierte Medikamente – waren effektiver als Placebos oder Scheinmedikamente, wie die Ergebnisse zeigten.

    Cipriani sagte, dass diese Ergebnisse nun “die besten verfügbaren Beweise für die Information und Anleitung von Ärzten und Patienten” boten und die Menschen mit Depressionen beruhigen sollten, dass Medikamente helfen können.
    Antidepressiva können ein wirksames Mittel sein, um schwere Depressionen zu behandeln, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass Antidepressiva immer die erste Behandlungslinie sein sollten”, sagte er zu einem Briefing in London.
    Die Studie, die in der medizinischen Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, fand einige Unterschiede in der Wirksamkeit der 21 Medikamente.

    Im Allgemeinen wurden neuere Antidepressiva wegen weniger Nebenwirkungen tendenziell besser vertragen, während das wirksamste Medikament zur Verringerung depressiver Symptome Amitriptylin war – ein Medikament, das erstmals in den 1950er Jahren entdeckt wurde.

    Einige bekannte Medikamente – wie der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Fluoxetin, der unter der Marke Prozac vertrieben wird – waren etwas weniger wirksam, aber besser verträglich.

    Beurteilung: Für die Nachrichtenagentur Reuters kommt die Cipriani-Metastudie zum Schluss, dass Antidepressiva wirksamer sind als Placebo und dass die neueren Antidepressiva auch besser toleriert werden als ältere – wobei ältere aber ebenfalls wirksam sind.

  7. Es ist sehr zu begrüßen, dass Herr Hengartner das Problem fachlich fundiert benennt. Jeder, der sich ein wenig mit der Materie auseinandersetzt, muss zu einem gleichen oder sehr ähnlichen Schluss kommen. Die neue Meta-Analyse von Cipriani und Kollegen bestätigt das.
    Das ist natürlich in krassem Widerspruch zur aktuellen Verschreibungspraxis. Diese ist von massiven Interessenskonflikten geprägt, d.h. es gibt eine sehr unglückliche finanzielle Verquickungen zwischen hochrangigen PsychiaterInnen (welche dann die Verschreibungsleitlinien mitbestimmen) und der Pharmaindustrie. Leider bekommen dadurch FachärztInnen, die sich nicht selber in die Fachachliteratur vertiefen können (die wissenschaftliche Ausbildung dazu fehlt vielen dazu, sowie die Zeit) in ihren Fortbildungen ein sehr verzerrtes Bild über die Wirksamkeit von Antidepressiva. Umso wichtiger ist es daher, dass unabhängige Wissenschafter die Evidenz darstellen wie Herr Hengartner dies getan hat.

  8. Der Guardian (politisch eher links und damit tendenziell psychiatriekritisch) schreibt zur Cipriani-Studie gar (übersetzt von DeepL): Millionen mehr Menschen auf der ganzen Welt sollten Pillen verschrieben oder Gesprächstherapien angeboten werden, die bei mittelschweren bis schweren Depressionen gleichermaßen gut funktionieren, sagen die Ärzte und stellen fest, dass nur jeder sechste Mensch in der reichen Welt eine angemessene Behandlung erhält – und einer von 27 in den Entwicklungsländern. Wenn Krebspatienten oder Herzpatienten dieses Niveau der Unterbehandlung erlitten hätten, gäbe es einen öffentlichen Aufschrei, sagen sie.
    “Depression ist der größte Einzelfaktor für das globale Niveau an Behinderung, die wir haben – eine gewaltige Herausforderung für die Menschheit”, sagte John Geddes, Professor für epidemiologische Psychiatrie an der Oxford University. Es betrifft rund 350 Millionen Menschen weltweit, und die Zahl der Fälle stieg von 2005-2015 um fast 20%.
    Fazit: Der Guardian empfiehlt aufgrund der Cipriani-Studie eine Ausweitung der Antidepressionstherapie und zwar sowohl medikamentös als auch psychologisch/psychotherapeutisch.

  9. @Martin Plöderl (Zitat): Die neue Meta-Analyse von Cipriani und Kollegen bestätigt das [AD sind unwirksam]. Das ist natürlich in krassem Widerspruch zur aktuellen Verschreibungspraxis.
    Doch im Guardian, der die Cipriani-Studie aufgreift liest man dazu (übersetzt von DeepL):

    “Antidepressiva sind ein wirksames Mittel gegen Depressionen. Unbehandelte Depressionen sind ein großes Problem, weil sie die Gesellschaft belasten”, sagte Andrea Cipriani vom NIHR Oxford Health Biomedical Research Centre, der die Studie leitete. Die Debatte über Antidepressiva sei leider oft ideologisch gewesen, sagte Cipriani. Manche Ärzte und Patienten zweifeln daran, ob sie überhaupt arbeiten und weisen auf den großen Placebo-Effekt hin – in Studien verbessern sich auch die mit Dummy-Pillen verabreichten Pillen bis zu einem gewissen Grad. Einige Leute verdächtigen Drogenfirmen, Studienergebnisse zu fälschen. Manche Patienten wollen einfach keine Pillen für einen psychischen Gesundheitszustand nehmen.

    Übersetzt mit http://www.DeepL.com/Translator

  10. Cipriani und Kollegen schreiben ja selbst “We found that all antidepressants included in the metaanalysis were more efficacious than placebo in adults
    with major depressive disorder and the summary effect sizes were mostly modest.”
    Mit modest ist eine durchschnittliche Effektstärke von d = 0.30 gemeint (im Vergleich zu Placebo).
    Das ist erstens eine Effektstärke, die unterhalb der klinischen Relevanz liegt, und zweitens sind diese Effektstärken höchstwahrscheinlich Überschätzungen aufgrund der Studienmethodik.

    Die Interessenskonflikte bzgl. Pharmaindustrie fallen leider nicht in der Bereich der Verschwörungstheorien. Peter Gotzsche und David Healy bringen in ihren Büchern fundierte Quellen, die das gut aufzeigen.

  11. Der Studienautor Andrea Cipriani hat sich letztlich aufgrund der Studie für eine verstärkte Verordnung von Antidepressiva stark gemacht. Sie schreiben: Das ist erstens eine Effektstärke, die unterhalb der klinischen Relevanz liegt, und zweitens sind diese Effektstärken höchstwahrscheinlich Überschätzungen aufgrund der Studienmethodik. Wenn, dann kann Andrea Cipriani – der Autor der Metastudie – am besten abschätzen ob seine Ergebnisse Überschätzungen sind, wie sie sagen.
    Mir scheint, die Metastudie von Andrea Cipriani hat gezeigt, dass Antidepressiva nicht immer wirken und über eine grosse Patietenkohorte betrachtet, nur schwach wirksam sind. Dazu kommt noch, dass 80% der Patienten die Antidepressivaeinnahme nach einem Monat stoppen. Doch Andrea Cipriani selbst ist überzeugt, dass Antidepressiva in der Gesamtbilanz sich positiv auswirken – und das trotz bekannten, zum Teil schweren Nebenwirkungen (vor allem älterer Antidepressiva).

  12. @Martin Holzherr: Ich habe im Interview und im Kommentar oben erläutert, warum die meines Erachtens korrekte Schlussfolgerung dieser Befunde wäre, dass Antidepressiva im Durchschnitt mehrheitlich wirkungslos sind. Dass gewisse Autoren und Medien eine andere Botschaft verbreiten, ist ein anderes Problem, zu welchem sich Martin Plöderl weiter unten auch äussert. Stellen Sie sich doch bitte folgende Frage: Ist ein Medikament wirksam, wenn die durchschnittliche Differenz zum Placebo auf einer subjektiven Symptomratingskala ungefähr 2 Punkte ausmacht (von 52 möglichen)? Denn zudem können über 90% der Beurteiler korrekt bestimmen, ob ein Patient Placebo oder Wirkstoff erhält, somit bildet sich in diesen 2 Punkten Differenz hauptsächlich die Erwartungshaltung der Beurteiler ab. Und in rund ein Druttel aller Studien waren Betuhigungsmittel zugelassen, welche natürlich in der Antidepressiva-Gruppe häufiger verschrieben werden als in der Placebo-Gruppe, da sie zur Bekämpfung von Antidepressiva-Nebenwirkungen wie innere Unruhe, Schlaflosigkeit oder Nervosität verwendet werden. Somit könnten die 2 Punkte Differenz zum Placebo auch eine direkte Folge der Beruhigungsmittel sein. Und wie bereits geschrieben: Bezüglich vorzeitiger Behandlungsabbrüche (Dropout-Rate) gibt es im Durchschnitt keinen Unterschied zu Placebo (und lediglich 2 Medikamente von 21 welche statistisch signifikant besser abschneiden als Placebo). Aber eben, mit der statistischen Signifikanz ist das so eine Sache. Bei so grossen Stichproben wie wir es hier haben, sind selbst unbedeuten kleine Effektstärken signifikant. Ganz ehrlich Herr Holzherr: Sieht so ein überzeugender wissenschaftlicher Nachweis aus, dass Antidepressiva wirkungsvoll sind? Mir ist es wirklich ein Rätsel wie man einen solch vernichtenden Befund als Evidenz für Wirksamkeit interpretieren kann. Und nur weil dies Medien und einzelne Autoren der Studie so interpretieren, ist es noch lange nicht korrekt. John Ioannidis, einer der Co-Autoren der Studie, interpretiert die Befunde jedenfalls ganz anders (siehe hierzu: https://peh-med.biomedcentral.com/articles/10.1186/1747-5341-3-14).

  13. Könnte es nicht sein, dass Dr Michael P. Hengartner ebenfalls Depressionen häufiger diagnostizieren und behandeln will – nur eben nicht medikamentös, sondern psychotherapeutisch.
    Das wäre dann der grösste Witz, denn es ginge bei dieser Diskussion dann nur darum, sich gegenseitig Patienten streitig zu machen.

  14. @Holzherr: Der Papst hat gesagt…

    Sie führen wissenschaftliches Denken hier ad absurdum. Ein notwendiges Kriterium wissenschaftlicher Tätigkeit ist, dass andere Personen (ggfs. mit vergleichbaren Kenntnissen) nachvollziehen können, was jemand berichtet, und man eben nicht blind der Autorität eines Fachkundigen glauben muss!

    Wenn, dann kann Andrea Cipriani – der Autor der Metastudie – am besten abschätzen ob seine Ergebnisse Überschätzungen sind, wie sie sagen.

    Ich gebe zu bedenken, dass das Autorenteam über zwanzig finanzielle Verbindungen mit der Pharmaindustrie ausweist und Sie die zahlreichen, im Interview genannten Gründe, warum deren Datengrundlage eben nicht zuverlässig ist, völlig außer Acht lassen.

    Wissenschaftlichkeit bedeutet auch, dass man nicht gebetsmühlenartig dieselben, bereits widerlegten Behauptungen wiederholt; so funktioniert allenfalls Werbung – oder Propaganda.

  15. @Stephan Schleim: Andrea Cipriani’s Metastudie ist letztlich nur eine Studie unter vielen. Er selbst beurteilt aber das Resultat seiner Studie als starken Hinweis darauf, dass Antidepressiva wirksam sind und dass sie (wie auch Gesprächstherapien) häufiger verschrieben werden sollten. Interessant sind auch die Reaktionen von Nachrichtenagenturen und Zeitungen (Guardian, BBC), die in diese Beurteilung Andrea Cipriani’s eingestimmt haben und sie sogar noch verstärkt haben. Wenn man auf der BBC-Seite liest: Das Royal College of Psychiatrists sagte, dass die Studie “endlich die Kontroverse über Antidepressiva ins Bett bringt”. .. Der leitende Forscher Dr. Andrea Cipriani von der Universität Oxford sagte der BBC: “Diese Studie ist die endgültige Antwort auf eine langjährige Kontroverse darüber, ob Antidepressiva bei Depressionen wirken.

    “Wir haben festgestellt, dass die am häufigsten verschriebenen Antidepressiva bei mittelschwerer bis schwerer Depression wirken und ich denke, dass dies eine sehr gute Nachricht für Patienten und Kliniker ist.
    also, wenn man das liest, kann man doch nicht die Resultate und die Beurteilung dieser Studie durch den Studienautor ins Gegenteil verkehren wie das hier Dr Michael P. Hengartner macht.
    Die Aussagen einer Studie ins Gegenteil verkehren, das machen Contrarians gern, zum Beispiel Klimaleugner. Das gehört praktisch zu ihrem Werkzeugkasten. Wenn nun auch Psychologen zu diesem Mittel greifen, dann kommen wir tatsächlich ins Zeitalter der Fake News auch in der Wissenschaft.

  16. Ergänzung: Auf der BBC-Webpage, die über die Antidepressiva-Metastudie berichtet, wird sogar versucht, potenziellen Patienten (Depressiven) die Angst vor Antidepressiva zu nehmen, indem sie die Story eines Komikers (die häufig depressiv sind) auftischt, die so geht (übersetzt von DeepL): Christian Talbot, ein Komiker, sagte, dass er zuerst anfing, Antidepressiva vor dreieinhalb Jahren zu nehmen, nachdem er herausgefunden hatte, dass Gesprächstherapien für ihn unwirksam waren.

    Sein Arzt sagte ihm, dass seine Depression auf seine niedrigen Serotoninwerte zurückzuführen sei, von denen man annimmt, dass sie die Stimmung, die Emotionen und den Schlaf beeinflussen.

    Christian sagte, dass er anfangs zögerte, Antidepressiva einzunehmen, weil er befürchtete, dass sie ihn “taub” machen oder seine Sinne trüben könnten.

    Aber er sagte, als er sie nahm, waren die Ergebnisse “sofort vorteilhaft”.

    “Es war nicht so, dass ich fühlte, dass eine riesige Veränderung über mich kam, aber ich fühlte mich buchstäblich so, als gäbe es ein Gewicht, das mir von den Schultern fiel. Ich war weniger ängstlich und fühlte mich ausgeglichener.”

    Er sagte, er fühlte, dass es ein Stigma bei der Einnahme der Drogen gab.

    “Ich weiß nicht, ob die Leute Angst vor ihnen haben oder ob sie sich schämen, weil es ein Medikament ist, wie alles andere auch, außer es ist für eine psychische Gesundheitsproblematik und nicht für ein physisches Problem.”

    Beurteilung: Offensichtlich sieht der Studienautor Andrea Cipriani und sehen die “Health Reporter” bei BBC und vielen anderen Medien in Antidepressiva ein Mittel zur deutlichen Verbesserung des Befindens von depressiv Erkrankten. Das geht so weit, dass sie sogar für Antidepressiva Werbung machen – unter anderem mit Aussagen von bekannten Patienten (Promis).
    Es kann natürlich sein, dass diese Medien und Studienautoren alle einer Täuschung unterliegen. Doch aus der hier besprochenen Studie lässt sich das jedenfalls nicht ableiten.

  17. @Martin Holzherr

    Offensichtlich sieht der Studienautor Andrea Cipriani und sehen die “Health Reporter” bei BBC und vielen anderen Medien in Antidepressiva ein Mittel zur deutlichen Verbesserung des Befindens von depressiv Erkrankten. Das geht so weit, dass sie sogar für Antidepressiva Werbung machen – unter anderem mit Aussagen von bekannten Patienten (Promis).

    Mit solchen Aussagen wäre ich vorsichtig, denn „Für Arzneimittel, die psychotrope Wirkstoffe mit der Gefahr der Abhängigkeit enthalten und die dazu bestimmt sind, bei Menschen Schlaflosigkeit oder psychische Störungen zu beseitigen oder die Stimmungslage zu beeinflussen, darf außerhalb der Fachkreise nicht geworben werden.“
    Quelle: https://www.it-recht-kanzlei.de/1/II.Arzneimittel_mit_psychotropen_Wirkstoffen/werbung-arzneimittel-hwg-novelle.html

  18. Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Antidepressiva der Depressionsverbreitung entgegenwirken kann. Ich bezweifle darum, dass noch mehr Antidepressivaverschreibungen helfen würden. Die Verschreibungsrate hat sich seit den 80er-Jahren vervielfacht, und doch blieb die Häufigkeit der Störung mehrheitlich unverändert hoch. Die Invalidisierung und Beeinträchtigung durch die Störung hat jedoch parallel zu den Verschreibungsraten zugenommen. Ein wichtiger Punkt worüber man sich ruhig ein paar Gedanken machen könnte.

    Und noch etwas bezüglich Medien und führende Forscher können sich unmöglich irren: Doch, das tun sie sogar sehr häufig. Ein Beispiel: Benzodiazepine können zu schwerer Abhängigkeit führen. Dergleichen Befunde wurden bereits in den frühen 60er Jahren publiziert (kurz nach Markteinführung), und doch behaupteten Pharmaindustrie und führende Psychiater noch über 20 Jahre lang, dass dies anti-psychiatrischer Unfug sei. Erst als Ende der 80er Jahre die SSRI (moderne Antidepressiva) auf den Markt kamen, welche die Benzodiazepine als Therapie der Wahl bei Angststörungen ablösten, waren Pharmaindustrie und Mainstream-Psychiatrie bereit, die hohe Suchtgefährdung einzugestehen. Dies ist durchaus kein Einzelfall: Dass Neuroleptika (Medikamente gegen Psychosen) neurologische Störungen verursachen können, wurde auch rund 20 Jahre lang hartnäckig negiert. Etc. etc…

  19. Es nimmt schon etwas Wunder, dass man für sich in Anspruch nimmt, von Cipriani et al. unterstützt zu werden, wenn deren Interpretation eindeutig eine andere ist: “All antidepressants were more efficacious than placebo in adults with major depressive disorder. ” “Alle Antidepressiva waren effektiver als Plazebo in Erwachsenen mit schwerer Depression”

    Und es ist ja nicht nur die Mainstream-Presse, die dieses Urteil für plausibel hält. Auch der Kommentar in the Lancet selbst von Parikh und Kennedy schließt “The demonstration of the extent of antidepressant superiority over placebo reassures patients and health-care professionals of the efficacy of treatment despite high placebo response rates.” “Die Demonstration des Ausmaßes der Überlegenheit von Antidepressiva über Placebo gibt Patienten und Leistungserbringern trotz der hohen Response-Raten bei Placebo ein Stück Sicherheit, was die Effektivität der Behandlung angeht.” – ganz abgesehen davon, dass die Studie offensichtlich den Peer-Review-Prozess von The Lancet überstanden hat.

    Und Medscape Deutschland titelt “And the 3 winners are … Metaanalyse der Universität Oxford generiert Hitliste der wirksamsten und verträglichsten Antidepressiva”

    Die Studie in ihr exaktes Gegenteil umzudeuten, weil einem die Interpretationen anderer Leute nicht gefallen, entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit. Letztendlich ist aber Wissenschaft nicht die Meinung eines Einzelnen (weswegen mir allerdings auch das Format eines Interviews bei so einem kontroversen Thema problematisch erscheint).

    In dem Zusammenhang ist umso fragwürdiger, dass – trotz laut Webseite entsprechender Zertifizierung – es an recht grundlegenden GCP-Kenntnissen zu mangeln scheint, denn die Beschreibung der Bedeutung von SAEs ist hanebüchen. Weder sind SAEs notwendigerweise lebensbedrohlich, noch sind SAEs notwendigerweise Effekte des geprüften Wirkstoffs. Tatsächlich gilt jede Krankenhauseinweisung und jede Verlängerung eines Krankenhausaufenthaltes bereits als SAE. Und dafür zählt alleine der zeitliche Zusammenhang mit der Studie, nicht aber der ursächliche. SAEs beschreiben eben NICHT Effekte sondern Ereignisse. Ob diese im Zusammenhang mit dem Wirkstoff stehen, muss jeweils untersucht werden. Wenn sich der Proband beim Abendessen eine schwere Lebensmittelvergiftung zuzieht und deswegen ins Krankenhaus eingewiesen wird, dann ist das ein SAE. Ob die Depression ursächlich in die Lebensmittelvergiftung involviert war, oder ob z.B. der Salat schon ab Händler oder Hof EHEC-verseucht war, muss dann geklärt werden. Zitat aus der deutschen GCP-Verordnung: “Unerwünschtes Ereignis ist jedes nachteilige Vorkommnis, das einer betroffenen Person widerfährt, der ein Prüfpräparat verabreicht wurde, und das nicht notwendigerweise in ursächlichem Zusammenhang mit dieser Behandlung steht.”

    Das Thema “Interessenskonflikt” nur im Kontext der Industrie zu diskutieren, ist ein alter Hut. Tatsächlich haben wir schon etliche Wissenschaftsskandale gehabt, auch und gerade im medizinischen Bereich, bei denen die Industrie in gar keiner Weise involviert war. Letztendlich reicht schon der Drang nach Ruhm und Ehre – oder auch nur der Wunsch, das nächste Buch möge sich besonders gut verkaufen – um einen Interessenskonflikt herbeizuführen. Das sture “Industrie bäh, industriekritisch hurrah” verkennt nicht nur die o.g. Wissenschaftsskandale und das regelmäßig doch recht dürftige statistische Handwerkszeug vieler “unabhängiger” Forscher, sondern auch, dass Menschen wie Matthias Rath und Andrew Wakefield nicht dadurch seriöser wurden, dass sie sich gegen die Industrie gerichtet haben.

    Da darf doch bitteschön im wissenschaftlichen Kontext etwas mehr kommen, als der grundsätzliche Hinweis auf Interessenskonflikte unter dem Motto “wären alle ehrlich, würden mehr Leute mir recht geben”. Im Zeitalter von Impfgegnern und Klimawandelleugnern ist die Art und Weise, wie hier mit der Interpretation einer Studie umgegangen wird, hochgradig bedenklich.

  20. @Mona: Werbung ist es nicht direkt, was der oben verlinkte BBC-Artikel macht. Aber er will am Beispiel eines bekannten Komikers aus Grossbritannien – Christian Talbot – aufzeigen, dass die Einnahme von Antidepressiva kein Stigma bedeuten muss und dass durch eine solche Einnahme nicht automatisch „die Sinne getrübt“ werden oder der Patient belämmert wird. Der BBC-Health Reporter möchte die Widerstände von Depressiven gegen eine medikamentöse Therapie abbauen, weil er davon ausgeht, dass viele Betroffene nicht adäquat therapiert werden.

  21. @Oliver H: Wer ist der beste Spin-Doktor?

    Sie werfen eine gute Frage auf, nämlich wer hier der beste Spin-Doktor ist, die Studienergebnisse also am geschicktesten für seine eigenen Zwecke verkauft.

    Wenn ich hier kombiniere, was Hengartner & Plöderl schreiben, dann könnte man genauso gut sagen:

    Studie findet trotz systematischer Verzerrungen durch Interessenkonflikte, Design-Fehler und schlechte wissenschaftliche Praxis nur klinisch irrelevanten Effekt für Antidepressiva

    Ich fürchte nur, dass der Lancet die Studie dann nicht akzeptiert hätte. Über die Gründe hierfür habe ich an anderer Stelle geschrieben. Das Peer Review ist im Übrigen intransparent, interessengeleitet und eben nur so gut wie die Peer Reviewer, über die wir nichts wissen. Wie rechtfertigen Sie Ihr blindes Vertrauen, wenn es um so viel Geld und Macht geht und außerdem schon so viel Betrug aufgedeckt wurde?

    Ich zitiere mal aus dem Ärzteblatt, worauf ein Leser freundlicherweise verlinkt hat:

    Zu den 522 Studien, die die Metaanalyse berücksichtigt, muss angemerkt werden, dass 409 (78 %) von Pharmaunternehmen finanziert wurden. Die Autoren stufen 46 (9 %) Studien mit einem hohen Verzerrungspotenzial ein, 380 (78%) als mäßig und 96 (18 %) als niedrig.

    Ähnlich wie eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied, kann eine Meta-Analyse nur bedingt besser sein, als die Daten, auf denen sie beruht: bullshit in, bullshit out.

    Wenn also 82% (73%+9%) der Studien (die 78% sind ein Tippfehler im Ärzteblatt) mindestens moderat verzerrt sind – und zwar im Sinne der Wirksamkeit von Antidepressiva –, wer wundert sich dann über einen moderaten Effekt?! Außer vielleicht den Holzherren auf dieser Erde, die es nicht müde werden, dieselben Lobbekundungen immer wieder zu zitieren.

    P.S. Im Interesse der Übersichtlichkeit möchte ich Sie bitten, auf die “Antworten”-Funktion zu verzichten und Ihre Kommentare am Ende einzureihen.

  22. Ein grundlegendes Prinzip der Wissenschatstheorie besagt, dass ein Paradigmenwechsel ursprünglich immer von einer kleinen, abweichenden Forschergruppe ausgeht, die oftmals hart und mit ungerechtfertigten Argumenten von den herrschenden Meinungsführern angegangen wird (welche das in ihren Augen unwiderruflich gültige Paradigma verteidigen wollen), bis sich die neue Erkenntnis durchsetzt und zu einem Umdenken führt. Es gibt hierzu hunderte Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte (zB die kopernikanische Wende vom geo- zum heliozentrischen Weltbild). Ich will hier aber bei der Psychiatrie bleiben: Hier 3 neuere Beispiele wie die Erkenntnisse einzelner Contrarians, wie das Herr Holzherr despektierlich formuliert, sich zu allgemein akzeptierten Fakten gewandelt haben (d.h zu anerkannten Paradigmen):
    1) Benzodiazepine können bereits nach einigen Woche schwere Abhängigkeit verursachen.
    2) Neuroleptika können nach längerer Einnahme neurobiologische Störungen wie Tardive Dyskinesie verursachen.
    3) Auch moderne Antidepressiva können schwere Entzugssyndrome verursachen (wird vereinzelt noch negiert, aber die wissenschaftliche Evidenz lässt im Grunde keine Zweifel daran offen).

  23. @Oliver H
    Ein SAE kann tatsächlich ein zufälliges Ereignis sein. Nur dann würde es nicht gehäuft in der Experimentalgruppe auftreten. Wenn Lebensmittelvergiftungen, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, nur bei Antidepressiva auftreten, nicht aber bei Placebo, was ziehen wir dann für Schlüsse? Und Sie sollten etwas genauer lesen, denn ich schrieb „lebensbedrohlich ODER schwer beeinträchtigend“ und dass dies eben auch Hospitalisationen einschliesst. Also im Grunde genau das, was Sie ja auch als SAE definieren.
    Und dass man sich mit kritischen Methoden und Daten-Analysen oftmals keine Freunde macht, ist ein alter Hut. Früher wurden solche Forscher als Sektierer (d.h. Scientologen) beschimpft, heute ist scheinbar der Begriff Impfgegner en vogue. Apropos Moden; Hätten (oder haben) Sie die Kritiker, welche früh und gegen den vehementen Wiederstand der Führungsriege wiederholt aufgezeigt haben, dass Benzodiazepine süchtig machen und Neuroleptika neurologische Störungen verursachen können, auch mit Argumenten ad hominem als Impfgegner und Klimaerwärmungsleugner beschimpft? Diese Meinungen waren lange Zeit nämlich auch sehr unpopulär und haben viele feindselige Reaktionen wie Ihre oben verursacht.
    Und wie Stephan Schleim oben schreibt: Den Standpunkt, den Sie und viele andere so vehement verteidigen, beruht mehrheitlich auf moderat bis stark verzerrter Evidenz, über deren Ursprung ich im Interview, in der Kommentarspalte und auch in meinem Review ausführlich geschrieben habe. Oder wollen Sie tatsächlich leugnen, dass es einen Reporting- oder Conflict-of-Interest-Bias gibt? Oder dass die Mehrheit der Assessoren (Fachleute, welche die Symptome einschätzen) nicht effektiv verblindet sind und darum ein Beobachter-Bias auftritt? Die Literatur hierzu finden Sie in meinem Review. Und wenn Sie wirklich denken, dass ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo irgendetwas über die Wirksamkeit von Antidepressiva aussagt, dann müssen Sie zwingend nachlesen, wie Satistiker wie Jacob Cohen die statistische Signifikanz erkäutern (zB hier: https://www.ics.uci.edu/~sternh/courses/210/cohen94_pval.pdf). Nur so nebenbei: Bei ausreichend grosser Stichprobengrösse kein ein Gewichtsunterschied zwischen zwei Personen-Gruppen von lediglich 100 Gramm ohne weiteres statistisch signifikant sein. Aber würden Sie dann auch behaupten, dass Gruppe A deutlich schwerer ist als Gruppe B und dass dieser Unterschied praktisch relevant ist? Würden sie ein Medikament zur Gewichtsreduktion als wirksam und klinisch wertvoll bezeichnen, wenn die durchschnittliche Gewichtsreduktion 100 Gramm ist (und das Medikament nebenbei bei rund der Hälfte aller Patienten sexuelle Funktionsstörungen verursacht)? Die Befunde einer Meta-Analyse könnten doch niemals irreführend oder falsch sein… Doch, das sind sie sogar relativ oft: http://www.jclinepi.com/article/S0895-4356(11)00009-6/abstract

  24. Sorry, ich will ja nicht den Klugscheisser markieren, aber “die Gelehrten und die, die meinen sie seien es auch”, die toben sich ja hier genüsslich aus.

    Ich sag`s so wie es nun mal ist, hat halt weniger direkt mit dem Inhalt zu tun, wie bei vielen anderen Schreibern auch… Einfach, dass es mal gesagt ist.

    Wir hier in der Schweiz sagen nie und nimmer

    Züricher Hochschule… (Solche Ausdrucksweisen beim Lesen & Hören verursachen nach neusten Studien unheilbaren Ohrenkrebs)

    Wir sagen – und es heisst übrigens auch so, ich meine, die bezeichnen sich da in dieser Hochschule selbst so:

    Zürcher Hochschule…

    Ich weiss, ist nur ein i

  25. @Michael P. Hengartner (Zitat): Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Antidepressiva der Depressionsverbreitung entgegenwirken kann. Der Verbreitung/Entwicklung von Depressionen können Antidepressiva nicht entgegenwirken. Sie ändern jedoch die Behandlung, die Therapie. Die meisten klinisch aktiven Psychiater sind jedenfalls der Ansicht, dass Antipsychotika die Behandlung und Prognose von Psychiatriepatienten wesentlich verbessert haben und dass ihr Einsatz hauptverantwortlich ist für den Rückgang von chronischen Psychiatriepatienten. Heute werden kaum noch Patienten für immer weggesperrt – etwas was früher häufig vorkam. Die meisten Psychiater schreiben diese verbesserte Prognose den Antipsychotika zusammen mit einer verbesserten, mehr am Patienten orientierten Therapie zu. Die meisten Psychiater würden auch folgendem widersprechen (Zitat): „Die Invalidisierung und Beeinträchtigung durch die Störung hat jedoch parallel zu den Verschreibungsraten zugenommen. “ Nein, die Mehrheitsmeinung unter Psychiatern ist vielmehr, dass Depressionen an und für sich relativ häufig sind und früher einfach zu selten diagnostiziert wurden.

  26. Beim 34c3 gab es eine schöne Präsentation die aufzeigt, warum die Wiederholbarkeit von Studien fehlschlägt. In der heutigen Wissenschaft werden im wesentlichen Ergebnisse präsentiert. D.h. alle Fehlschläge werden nicht publiziert. D.h. man kann im Zufall Signifikanz finden. Das zeigt der Vortragende sehr anschaulich an einem Beispiel, wo er mit reinen Zufallszahlen arbeitet. Dieser Zustand ist erst einmal unabhängig von jeglichen weiteren Interessenslagen und ist ein generelles Problem in der Wissenschaft. Fehler aus denen man lernen kann werden nicht publiziert, nur die Erfolge.

    https://media.ccc.de/v/34c3-9055-science_is_broken

  27. @chriwi: Ich stimme Ihnen absolut zu. Sie müssen ein Experiment nur häufig genug wiederholen (und die positiven Befunde dann meta-analystisch auswerten), und Sie finden garantiert einen statistisch signifikanten Effekt.

    Noch ein letzter Kommentar an alle Trolle, die mich hier als Impfgegner oder Klimaerwärmungsleugner hinstellen wollen (bin weder noch und habe durchaus Vertrauen in die Schulmedizin und in zahlreiche Medikamente, insbesondere auch in Impfungen), dann ist meinerseits hier eigentlich alles gesagt und ich kann mich wieder der Forschung widmen:

    Stefan Leucht, einer der Autoren der Lancet-Meta-Analyse, hat in einer früheren Arbeit ermittelt, dass eine Differenz von mindestens 8 Punkten auf der Hamilton-Depressionsskala notwendig ist, damit ein Kliniker eine MINIMALE Symptomverbesserung wahrnehmen kann. In der aktuellen und hier vieldiskutierten Meta-Analyse war die mittlere Effektstärke d=0.3, was rund 2 Punkten auf der Hamilton-Depressionsskala entspricht. Dieser Effekt war statistisch signifikant, somit gebe ich Medien und einigen Kommentatoren hier recht, dass sich Antidepressiva STATISTISCH SIGNIFIKANT von Placebo unterscheiden. Ihre mittlere Wirksamkeit von lediglich 2 Punkten, welche durch zahlreiche oben genannte Verzerrungen sogar noch AUFGEBLÄHT wurde, ist jedoch DERMASSEN GERING, dass sie kein Kliniker dieser Welt, selbst die Geübtesten, WAHRNEHMEN KÖNNTEN. Dies, freilich, wird in den Medien nicht geschrieben (und von der Mainstream-Psychiatrie hartnäckig ignoriert).

    FAZIT: Im Gegensatz zur Medienberichterstattung und zu gewissen Interview-Aussagen einzelner Studienautoren, wird die publizierte Arbeit selbst sehr zurückhaltend und sachlich interpretiert. Es wird verschiedentlich ehrlich eingestanden, dass das RISIKO FÜR VERZERRUNGEN (bezüglich Überschätzung der Effektstärken), MODERAT HOCH IST und dass die GLAUBWÜRDIGKEIT und ZUVERLÄSSIGKEIT der berichteten Effektstärken MODERAT bis SEHR GERING ist (wer mir nicht glaubt, kann gerne selbst nachlesen, anstatt hier dauernd aus der Medienberichterstattung zu zitieren; http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2817%2932802-7/fulltext). Leider werden auch diese Aspekte der Arbeit in vielen Medien und bei einigen Kommentatoren hier bereitwillig ignoriert. Wissenschaft sollte keine Glaubenssache sein, sondern faktenbasiert.

  28. Nach Schwergrad der Depression gebildete Untergruppen von depressiven Patienten sprechen wahrscheinlich unterschiedlich auf Antidepressiva an. So liest man in der Wikipedia zu den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern: SSRI sind die am häufigsten eingesetzten Antidepressiva. Die Wirkung der SSRI auf das depressive Syndrom ist abhängig von der Schwere der Erkrankung. So ist bei leichtgradigen Depressionen häufig keine statistisch nachweisbare Überlegenheit gegenüber der Gabe von Scheinmedikamenten (Placebo) festzustellen. Bei schwerer ausgeprägten Depressionen hingegen sprechen etwa 50–75 Prozent der Patienten auf ein SSRI an, während etwa 25–33 Prozent der Patienten auf Placebo ansprechen.
    Zudem: Nicht jedes Antidepressiva wirkt bei jedem Depressiven. In der Verschreibungspraxis wird deshalb bei Nichtansprechen auf ein anderes Medikament gewechselt.

  29. Liebe Kollegen,

    könntet Ihr mir bei der Einordnung folgenden Sachverhalts aus der Cipriani Studie behilflich sein? Ich stoße mich an dem systematischen Ausschluss von Patienten mit “treatment-resistant depression” aus der Meta-Studie (siehe Anlage B). Sorgt das nicht für einen systematischen Ausschluss von Studien mit niedrigerer “Efficacy” und damit eine Überzeichnung der schlussendlich konstatierten Wirkwahrscheinlichkeiten?
    Cipriani et al. erläutern diesen Ausschluss nicht weiter, aber angesichts der Prevalenz der Ausschluss-Symptomatik wundert mich, dass überhaupt noch Einschlüsse verzeichnet werden konnten. Oder ist das ein gänzlich unproblematischer Sachverhalt? Wie würdet Ihr das einordnen? Besten Dank!

    Jan

    ANLAGEN:
    A) Zur Definition von Behandlungs-Resistenz auf Wikipedia:
    “Treatment-resistant depression (TRD) or treatment-refractory depression is a term used in clinical psychiatry to describe cases of major depressive disorder (MDD) that do not respond adequately to appropriate courses of at least two antidepressants. […] Prevalence: Treatment-resistance is relatively common in cases of MDD. Rates of total remission following antidepressant treatment are only 50.4%. In cases of depression treated by a primary-care physician, 32% of patients partially responded to treatment and 45% did not respond at all.” (https://en.wikipedia.org/wiki/Treatment-resistant_depression)

    B) Die beiden Textstellen, an denen sich Cipriani et al. zum Ausschluss äußern:
    ” We excluded quasi-randomised trials and trials that were incomplete or included 20% or more of participants with bipolar disorder, psychotic depression, or treatment-resistant depression; or patients with a serious concomitant medical illness.” (Cipriani et al.2018, p.1)
    “Patients recruited in randomised trials tend to be highly selected and we also excluded patients with psychotic or treatment-resistant depression, which might limit the applicability of the results to these clinical subgroups, but it was intended as a methodological strength to assure transitivity in the network.”(Cipriani et al.2018, p.9)

    PS: Laut Textstelle 1 werden ganze Studien, laut Textstelle 2 einzelne Patienten ausgeschlossen. Ich nehme mal an, dass (nur?) ersteres der Fall war, denn wenn jeder non-Responder ausgeschlossen worden wären, wäre die konstatierte Efficacy ja tautologisch…

  30. @Holzherr: Sich im Kreis drehen

    Sie argumentieren immer noch vom Standpunkt der verfälschten Daten aus, deren Forschungsstand dort auf Wikipedia zusammengefasst wird.

    Im Übrigen verweise ich noch einmal auf meinen vorherigen Kommentar sowie die im Interview besprochenen Themen.

  31. @Reichardt: Gut aufgepasst

    Ich denke, im zweiten Zitat müsste es unmissverständlicherweise “excluded studies with patients with psychotic or treatment-resistant depression” lauten; ich meine mich zu erinnern, dass die Autoren schrieben, keinen Zugriff auf die Rohdaten der Einzelstudien zu haben. Daher könnte man das gar nicht anders tun.

    Der Punkt, den Sie hier ansprechen, bestätigt Herrn Hengartners Kritik im Interview, dass nämlich die Ergebnisse dieser Studien nicht für alle Patienten repräsentativ sind, an die die Medikamente schlussendlich verschrieben werden sollen und bei denen nunmal Komorbiditäten vorkommen.

    Es ist ja nicht so, dass man zu den Patienten sagt: Kommen Sie bitte wieder, wenn sie ihre anderen Probleme los sind und nur noch eine “reine” Depression haben. Tatsächlich sind die Studien aber gemäß so einer verqueren Logik angelegt.

    Es ist eigentlich schockierend, dass schon solche einfachen Punkte, für die man sicher kein Psychologie-Diplom braucht, um sie zu verstehen, in der Berichterstattung über die Studie keine nennenswerte Rolle spielen.

  32. @Stephan Schleim: Die meisten Psychiater in psychiatrischen Kliniken sind der Ansicht, dass Antidepressiva und Neuroleptika unverzichtbar sind und dass ihr Einsatz die Behandlung und Prognose von Patienten deulich verbessert hat.
    Mir sind nur wenige bekannt, die das anders sehen. Etwas anderes ist aber die Therapieausweitung, die in den letzten 20 Jahren zu beobachten war und ist. Auch Hausärtze verschreiben immer häufiger Antidepressiva und das oft ohne gesicherte Diagnose. Nach einem Times-Artikel vom 15. August 2017 nehmen 13% aller US-Amerikaner Antidepressiva ein – und das obwohl die Diagnose Depression viel weniger häufg gestellt wird. Man liest dort auch (übersetzt von DeepL): Die aktuellen Zahlen haben sich seit 1999-2002 um fast 65 % erhöht, als 7,7 % der Amerikaner berichteten, dass sie ein Antidepressivum einnahmen. Vor allem gibt es auch immer mehr US-Amerikaner, die unter Dauermedikation stehen (Zitat): Viele Menschen, die Antidepressiva eingenommen haben, die zur Behandlung von Depressionen und Angstzuständen eingesetzt werden, berichteten auch über ihre langfristige Anwendung: 68% der Menschen ab 12 Jahren gaben an, dass sie ihr Antidepressivum seit zwei Jahren oder mehr eingenommen haben. Ein Viertel der Menschen, die Antidepressiva eingenommen haben, berichteten, dass sie sie 10 Jahre oder länger eingenommen haben.
    Der Breitbandeinsatz von Antidepressiva scheint mir schon problematisch. Zumal wir es mit einem globalen Phänomen zu tun haben wie der guardian-Artikel Antidepressants: global trends berichtet, wo man Dinge liest wie: 1 in 10 people in Iceland take antidepressants daily. Es gibt auch starke regionale/nationale Abweichungen (Zitat): Nach Angaben des Nordic Medico- Statistical Committee (Nomesco) spielen auch Alter und Geschlecht eine wichtige Rolle. Im Jahr 2008 hatten fast 30% der Frauen ab 65 Jahren in Island ein Antidepressivum verschrieben, während es in Norwegen weniger als 15% waren.

  33. Das mit der Wirksamkeit je nach Schwergrad stimmt, wie es scheint, auch nicht mehr.

    In der Meta-Studie von Kirsch et al. 2008 zeigte sich, dass die Antidpressiva unabhängig vom Schweregrad wirken, der Placeboeffekt nahm aber mit dem Schweregrad ab.
    http://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.0050045

    In der aktuelleren Meta-Analyse von Jakobsen et al. fand sich da übrigens nicht mehr. https://bmcpsychiatry.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12888-016-1173-2

    Kirsch betonte, dass es jedoch individuelle Patientenverläufe bedarf, um diese Frage wirklich zu beantworten (in den normalen Meta-Analyse werden nur Gruppenmittelwerte herangezogen).
    Dies dürfte die jüngste Studie sein, welche individuelle Verläufe analysierte, mit dem Ergebnis, dass die (kaum vorhandene) Wirksamkeit von Antidepressiva unabhängig vom Schweregrad ist, immer relativ zu Placebo betrachtet.
    https://pdfs.semanticscholar.org/23ea/9a2e548c9ffc92876d321951a0bfee5e0ccc.pdf

    Man müsste also den Wikipedia-Eintrag aktualsieren.

  34. Ah, ein Pastafari 🙂

    Dass chronisch depressive PatientInnen ausgeschlossen wurden, finde ich durchaus vertretbar, weil es ist vom Forschungsstandpunkt aus gesehen wichtig, eine homogene Gruppe zu untersuchen. Man will ja auch wissen, für wen die Ergebnisse gelten.
    Es ist aber so, dass die Diagnose einer Depression an sich problematisch ist. Joel Paris, selber Psychiater, spricht von der “Regenschirmdiagnose” Depression. Da fällt so vieles hinein, was ätiologisch und phänomenologisch verschieden ist und unter dem Label “Depression” läuft.
    Hier eine Meta-Studie zu chronischer Depression:
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22963896
    Leider werden keine Effektstärken berichtet für die quantitativen Outcome Maße – ich vermute, das hat einen Grund.

    Natürlich wären Studien in der echten Praxis mit “echten” PatientInnen auch sehr sehr wichtig. Die STAR*D Studie war hier ein Meilenstein, aber die Ergebnisse sind halt sehr ernüchternd – extrem schade dass dort keine Placebogruppen verwendet wurden. Meines Erachtens sollten dringend Placebo-Kontrollierte Studien in der richtigen Praxis gemacht werden!

  35. @Stephan Schleim: Danke schonmal!
    Dann sollte das Resultat der Ciprinani-Studie aus dem Abstract (“All antidepressants were more efficacious than placebo in adults with major depressive disorder.”) wohl eher wie folgt lauten: “Bei geeignet vorausgewählten Patienten mit schweren Depressionen lassen pharmakologische Interventionen eine marginal positive Eigenwirkung erwarten, wenn auch zum Preis unintendierter Nebenwirkungen. Patientengruppen mit erwartbaren Netto-Positiveffekten, konnten innerhalb dieser Metastudie nicht identifiziert werden.”
    Würdet Ihr das so unterschreiben? Beste Grüße

    Jan

  36. @Reichardt: Den Sinn des zweiten Satzes verstehe ich nicht ganz; ich würde es eher über die vorhandene statistische Signifikanz, doch fehlende praktische Relevanz ausdrücken, eben den fehlenden klinischen Nutzen, den Herr Plöder hier als erster ansprach.

    Es könnte durchaus sein, dass eine streng selektierte Untergruppe der Patienten mit MDD-Diagnose (kürzlich schrieb ich hier darüber, dass sich nach DSM-5-Kriterien über 200 Formen unterscheiden lassen), eine klinisch relevante Verbesserung durch ein bestimmtes Antidepressivum erfährt, selbst wenn man die von Hengartner erwähnten Verzerrungseffekte ausschließt.

    Dann dürfte man eben nur nicht so tun, als würde das Mittel allen Patienten mit MDD-Diagnose helfen. Und seien wir doch ehrlich: So ein Befund würde es eher nicht in den Lancet oder eine andere Zeitschrift von ähnlichem Rang schaffen.

    Das ist eigentlich alles Basiswissen aus dem Psychologie-Grundstudium (Stichwort: Repräsentativität von Stichproben; Unterschied statistische Signifikanz und praktische Relevanz). Zugegeben ist das aber genauso ein Problem innerhalb der Psychologie (wo etwa nur die eigenen Studierenden untersucht werden).

  37. @Stephan Schleim: Voll d’accord, habe den Relevanz-Begriff hier nur deshalb vermieden, weil auch klinisch relevante Symptomverbesserungen (Brutto-Nutzen) noch keine Patientendienlichkeit (Netto-Nutzen) implizieren (Wer statt vorher lahm anschließend blind ist, wird sich auch über relevante Besserungen seiner Lähmungssymptomatik nur bedingt freuen können.). In ZULASSUNGs- und ERSTATTUNGsfragen mögen in erster Linie der symptomspezifische Nutzen und sein mindestens “klinisch relevantes” Ausmaß bedeutsam sein (und in Studien deshalb auch darauf abgestellt werden), für den Patienten zählt aber doch nur das Aggregat aller Teil-Effekte (zu einem dann bestenfalls positiven Nettonutzen). Danke noch mal und sorry für’s Eulen nach Athen tragen – Jan

  38. Michael P. Hengartner im Interview:

    Schon bevor die eigentlichen Beobachtungen beginnen, ist alles darauf ausgerichtet, dass man am Ende möglichst einen signifikanten Effekt zugunsten der Medikamente findet. Dabei sollten randomisierte und Placebo-kontrollierte Studien eigentlich solche Verzerrungen vermeiden.

    In der Praxis kann davon aber oft keine Rede sein. So werden etwa vor der Hauptuntersuchung schon Teilnehmer ausgeschlossen, die stark auf ein Placebo, also eine wirkungslose Kontrollsubstanz reagieren. Warum tut man das? Weil so die Wahrscheinlichkeit höher wird, dass das Medikament später eine stärkere Wirksamkeit zeigt als das Placebo.

    .
    Es stimmt schon, klinische Wirksamkeits-Studien werden so geplant, dass ein Wirksamkeitsnachweis gelingen kann. Alles andere würde ja keinen Sinn ergeben.

    Deshalb verstehe ich nicht so recht, was daran falsch sein soll, wenn Teilnehmer, die schon auf den warmen Händedruck des Arztes mit Beschwerdefreiheit reagieren, aus solchen Studien ausgeschlossen werden. Solche Patienten stellen ohnehin nicht die anvisierte Zielgruppe für ein wirksames Pharmakon dar, denn die sind bereits mit Globuli gut bedient.

  39. Du hast den Artikel offensichtlich nicht verstanden.
    Bei Letargi können sie helfen weil sie antriebssteigernd wirken. Da kann man jemandem aber auch Amphetamine geben… Aber Depressionen können sie nicht verbessern und höchstens einen Suizid auslösen, da die Menschen dafür auf einmal auch Antrieb bekommen.
    Mein Eindruck kann natürlich täuschen, aber du kommst mir vor, wie jemand der absolut von der Pharmaindustrie abhängig ist.
    Ich habe viele Psychiater in meinem Leben kennengelernt und meine Meinung ist mittlerweile, dass 90% absolut Unfähige sind, weil ihnen das Einzige, was man als Psychiater braucht, Empathie, absolut fehlt und sie nur noch “Pillendrücker” sind.
    Wer sich nicht für die Probleme der Menschen interessiert und versucht ihnen zu helfen diese in den Griff zu bekommen wird definitiv versagen. Zugegeben, bei vielen Problemen wie Traumata und Depressionen wegen Familiärenumständen ist es sehr schwer, aber das ist die einzige Möglichkeit auf wirkliche Heilung.
    Mehr als die Hälfte der Patienten die mir begegnet sind, waren in Behandlung wegen Problemen auf der Arbeit wegen Mobbing bzw. wegen den resultierenden Problemen aus Arbeitslosigkeit und die kann man auch nicht mit “Medikamenten” beenden.
    Symptome zu unterdrücken ist der größte Fehler den man in der Medizin machen kann und man muss die Wurzel suchen.

  40. @Balanus: springender Punkt

    Es stimmt schon, klinische Wirksamkeits-Studien werden so geplant, dass ein Wirksamkeitsnachweis gelingen kann.

    Es geht darum, dass die Studien so geplant sind, dass der Wirksamkeitsnachweis so gut wie gelingen muss.

    Schön, dass du hier das Gebot der wissenschaftlichen Neutralität und Objektivität über Bord wirfst.

    Deshalb verstehe ich nicht so recht, was daran falsch sein soll, wenn Teilnehmer, die schon auf den warmen Händedruck des Arztes mit Beschwerdefreiheit reagieren, aus solchen Studien ausgeschlossen werden.

    Weil es um eine repräsentative Stichprobe geht und die Minimallogik solcher Studien vorgibt, dass ein Medikament besser als Placebo wirken soll?

    Wenn man schon so vorgeht, dann müsste man – aus Gründen der Konsistenz – in der Praxis Patienten auch erst einmal mit Placebo behandeln; das wird i.d.R. aber nicht gemacht.

  41. @Stephan Schleim // Verzerrungen

    »Es geht darum, dass die Studien so geplant sind, dass der Wirksamkeitsnachweis so gut wie gelingen muss. «

    Wie soll das gehen bei einem Medikament, das nicht die gewünschte pharmakologische Wirksamkeit besitzt?

    »Wenn man schon so vorgeht, dann müsste man – aus Gründen der Konsistenz – in der Praxis Patienten auch erst einmal mit Placebo behandeln; das wird i.d.R. aber nicht gemacht. «

    Das war auch mein Gedanke, eigentlich müsste man es zunächst mit einer Scheinbehandlung versuchen. Wenn diese hilft, ist alles gut, und wenn nicht, dann hilft vielleicht der Wirkstoff. Einem Patienten, der von einer Placebogabe gut profitiert, dem brauche ich kein Antidepressivum zu geben.

    »Weil es um eine repräsentative Stichprobe geht und die Minimallogik solcher Studien vorgibt, dass ein Medikament besser als Placebo wirken soll? «

    Die Wirksamkeit im Vergleich zu Placebo lässt sich nun mal nur sinnvoll an Individuen prüfen, die nicht übermäßig auf Placebo reagieren. Bei der Gabe eines Placebos geht man davon aus, dass das Placebo eben keine Wirkung hat. Wenn die Placebogabe aber bei manchen Menschen „wirkt“, dann führt das, meiner Einschätzung nach, zu einer statistischen Verzerrung, insoweit es eben um eine Wirksamkeitsprüfung geht.

    Angenommen, es ginge um die Verträglichkeit eines Wirkstoffs. Wenn du dann Probanden dabei hast, die bei jeder Einnahme eines Präparats, sei es das Verum oder ein Placebo, Symptome entwickeln, kommt bei dieser Prüfung allenfalls heraus, dass der Wirkstoff genauso verträglich bzw. unverträglich ist wie eben ein Placebo. Die wahre Unverträglichkeit des Wirkstoffs würde so verschleiert. Und das wollen wir ja nicht.

    Placebo-kontrollierte Studien sind nie für die Gesamtbevölkerung repräsentativ. Kinder sind fast immer außen vor, außerdem bestimmte Begleiterkrankungen, und, und, und….

  42. Interessantes Interview. Aber Herr Hengarten sieht nur die Argumente, die GEGEN die Antidepressiva sprechen und übersieht dabei z.B., dass Antidepressiva ja oft auch die Krankheit VERSCHLIMMERN, was er ja selbst zugibt. Dadurch wird bei den Ergebnissen, bei denen nur plump auf Gruppendurchschnitte und – varianzen geachtet wird übersehen, wie gut und wirksam ADs bei einem Teil der Patienten sind. Die Gruppendurchschnitte werden durch die, die sich durch ADs verschlechtern, nach unten gezogen, was m.E. einen Teil der unbefriedigenden Wirksamkeit in jüngeren Metaanalysen erklärt. Die Forschung muss hier einfach differenzierter werden und — da stimme ich Hengarten 100% zu — endlich unabhängig von Interessengruppen wie der Pharmaindustrie. Warum gibt es kein deutsches oder europäisches Therapieforschungsinstitut, dass staatlich finanziert ist?

  43. @Balanus: frisierte Wirksamkeit

    Wie soll das gehen bei einem Medikament, das nicht die gewünschte pharmakologische Wirksamkeit besitzt?

    Ganz einfach: Es geht doch um einen Vergleich von A und B. Getestet wird, ob A > B signifikant ist. Das kannst du durch drei Konstellationen erreichen: A+ > B, A > B- und A+ > B-.

    Das heißt, wenn du dafür sorgst, dass es der B-Gruppe schlechter geht, dann schneidet A im Vergleich auch besser ab, also A > B-. Wie das getan wird, steht doch im Interview.

    Bei der Gabe eines Placebos geht man davon aus, dass das Placebo eben keine Wirkung hat.

    Völlig falsch. Man kontrolliert gegen Placebo, weil man (aus der Erfahrung) weiß, dass auch ein Scheinmedikament einen Effekt hat, eben den Placebo-Effekt.

    Lese-Tipp: Die aktuelle Ausgabe von Gehirn&Geist hat als Schwerpunkt den Placebo-Effekt.

  44. Ein SAE kann tatsächlich ein zufälliges Ereignis sein. Nur dann würde es nicht gehäuft in der Experimentalgruppe auftreten. Wenn Lebensmittelvergiftungen, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, nur bei Antidepressiva auftreten, nicht aber bei Placebo, was ziehen wir dann für Schlüsse?

    Das kommt z.B. auch auf die Häufigkeit und die Zahl der Probanden in der jeweiligen Gruppe drauf an.

    Aber was für Schlüsse ziehen wir daraus, dass Sie rein gar nichts dazu sagen, dass bei drei Präparaten weniger Probanden die Studie abgebrochen haben als bei Placebo?

    Und dass man sich mit kritischen Methoden und Daten-Analysen oftmals keine Freunde macht, ist ein alter Hut. Früher wurden solche Forscher als Sektierer (d.h. Scientologen) beschimpft, heute ist scheinbar der Begriff Impfgegner en vogue.

    Man macht verzerrende Darstellung nicht dadurch besser, dass man die Kritik daran verzerrend darstellt. Ganz im Gegenteil.

    Apropos Moden; Hätten (oder haben) Sie die Kritiker, welche früh und gegen den vehementen Wiederstand der Führungsriege wiederholt aufgezeigt haben, dass Benzodiazepine süchtig machen und Neuroleptika neurologische Störungen verursachen können, auch mit Argumenten ad hominem als Impfgegner und Klimaerwärmungsleugner beschimpft? Diese Meinungen waren lange Zeit nämlich auch sehr unpopulär und haben viele feindselige Reaktionen wie Ihre oben verursacht.

    Da ich Sie nicht als Klimaerwärmungsleugner beschimpft habe, zeugt diese Frage nur, dass Sie in der Debatte hochemotional agieren und sich keineswegs nur an der Evidenz orientieren sondern keinerlei Probleme damit haben, “Argumente” zu erfinden.

    Was ich geschrieben habe war, dass man im Zeitalter von Impfgegnern und Klimawandelleugnern nicht einfach Publikationen beiseite wischen sollte, weil einem die Ergebnisse nicht gefallen, und schon gar nicht die Aussage der Autoren und Kommentatoren in ihr Gegenteil verkehren, weil man damit letztendlich Wasser auf die Mühlen dieser Personenkreise gibt und sie indirekt legitimiert.

    Und wie Stephan Schleim oben schreibt: Den Standpunkt, den Sie und viele andere so vehement verteidigen, beruht mehrheitlich auf moderat bis stark verzerrter Evidenz, über deren Ursprung ich im Interview, in der Kommentarspalte und auch in meinem Review ausführlich geschrieben habe. Oder wollen Sie tatsächlich leugnen, dass es einen Reporting- oder Conflict-of-Interest-Bias gibt?

    Zum Conflict-of-Interest Bias habe ich schon in dem Beitrag, auf den Sie zwar antworten, dessen Inhalt Sie aber bestenfalls bruchstückhaft und stark verzerrt zur Kenntnis genommen haben, bereits genug gesagt. Es bleibt, festzustellen, dass Sie auch nicht frei davon sind… Allein die Tatsache, dass Sie mich fragen, ob ich etwas leugnen will, dessen Existenz ich bereits ausdrücklich bestätigt habe, zeugt davon, wie verzerrt Sie die Realität wahrnehmen. Und das ist die wohlwollende Interpretation.

    Dass die Möglichkeit eines Bias aber weder die Verkehrung des Urteils der Autoren in sein Gegenteil legitimiert, noch einen Bias in einem konkreten Fall belegt, sollte jedem, dem an wissenschaftlicher Integrität gelegen ist, klar sein.

    Oder dass die Mehrheit der Assessoren (Fachleute, welche die Symptome einschätzen) nicht effektiv verblindet sind und darum ein Beobachter-Bias auftritt? Die Literatur hierzu finden Sie in meinem Review.

    Das ist in manchen medizinischen Bereichen von vorneherein unmöglich. Bei anderen Studien stellt es sich im Verlauf der Studie heraus, dass jedwede Verblindung illusorisch ist, weil die Unterschiede in der Wirksamkeit zu drastisch sin. Es ist eine Abweichung vom Ideal aus dem alleine sich aber noch nicht mehr ableiten lässt, als das Bewusstsein, dass die Daten hätten aussagekräftiger sein können.

    Und wenn Sie wirklich denken, dass ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo irgendetwas über die Wirksamkeit von Antidepressiva aussagt, dann müssen Sie zwingend nachlesen, wie Satistiker wie Jacob Cohen die statistische Signifikanz erkäutern

    Danke, aber ich muss überhaupt nichts zu Punkten nachlesen, die ich nie gemacht habe. Und wenn Sie glauben, dass mit derartigen Unterstellungen Ihre Integrität gegenüber der anderer Leute glaubwürdiger erscheint, so sollten Sie vielleicht nochmal tief Luft holen und nachdenken.

    Die Befunde einer Meta-Analyse könnten doch niemals irreführend oder falsch sein… Doch, das sind sie sogar relativ oft: http://www.jclinepi.com/article/S0895-4356(11)00009-6/abstract

    Eine völlig irrelevante Aussage, die für den konkreten Fall eine “guilt by association” suggeriert. Ja, Meta-Studien können irreführend sein. Das belegt aber nicht, dass eine spezifische Meta-Studie irreführend ist.

    Vorwürfe haben Sie viele, die allerdings samt und sonders auf “alle unehrlich ausser mir” beruhen.

  45. @Stephan Schleim

    Wie rechtfertigen Sie Ihr blindes Vertrauen, wenn es um so viel Geld und Macht geht und außerdem schon so viel Betrug aufgedeckt wurde?

    Wie rechtfertigen Sie Ihren Vorwurf von blindem Vertrauen, wenn a)ich konkrete Kritikpunkte genannt habe und Belege gefordert habe und b)Betrug, wie ich bereits ausgeführt habe, auch in anderen Szenarien auftritt.

    Ich könnte genauso gut fragen, was Ihr blindes Vertrauen in Herrn Hengartner rechtfertigt.

    Ähnlich wie eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied, kann eine Meta-Analyse nur bedingt besser sein, als die Daten, auf denen sie beruht: bullshit in, bullshit out.

    Wenn also 82% (73%+9%) der Studien (die 78% sind ein Tippfehler im Ärzteblatt) mindestens moderat verzerrt sind – und zwar im Sinne der Wirksamkeit von Antidepressiva –, wer wundert sich dann über einen moderaten Effekt?! Außer vielleicht den Holzherren auf dieser Erde, die es nicht müde werden, dieselben Lobbekundungen immer wieder zu zitieren.

    Bullshit in, Bullshit out, in der Tat. So ist die Behauptung, dass 82% der Studien verzerrt sind Bullshit. Sie haben ein diesbezügliches Potential und müssen mit entsprechender Vorsicht interpretiert werden – ein Beleg für eine Verzerrung ist das mitnichten. Die Autoren haben recht detailliert die verschiedenen Risikofaktoren für Bias beleuchtet und teilweise auch entsprechende Korrekturfaktoren in die Wichtung eingeführt.

    Wir verbleiben also dabei, dass hier nichts als Anschuldigungen vorgebracht werden, denen es an jeglicher Evidenz fehlt. Mithin pure Heuchelei, bei der man von anderen Standards fordert, die einem selbst kreuzegal sind, wenn sie der heiligen Inquisition im Weg stehen.

    Noch einmal: Die Behauptung hier ist, dass die Studie genau das Gegenteil von dem belegt, was die Autoren als Fazit ziehen. Dafür darf es dann doch schon gerne ein konkreter Beleg sein, anstatt “Betrug ist prinzipiell eine Möglichkeit”.

  46. Das heißt, wenn du dafür sorgst, dass es der B-Gruppe schlechter geht, dann schneidet A im Vergleich auch besser ab, also A > B-. Wie das getan wird, steht doch im Interview.

    Im Interview steht, dass VOR der eigentlichen Studie getestet wird, welche Patienten besonders stark auf Placebo reagieren. Da wird keine Gruppe selektiv schlechter gestellt, denn die Annahme ist ja gerade, dass der Placebo-Effekt die Baseline darstellt. Wenn der Patient besonders stark auf Placebo reagiert, ist auch zu erwarten, dass er eine entsprechende Reaktion als Baseline auf die Gabe des Verums zeigt – der Patient weiß ja nicht, was er bekommt. Der Punkt hier ist nicht, B gegenüber A systematisch schlechter zu stellen, sondern die Signal-to-Noise-Ratio zu verbessern. Da kann man sich sicher drüber streiten, inwieweit das noch ein realistisches Szenario ist, aber es hat nichts damit zu tun, einen Studienarm systematisch schlechter zu stellen, denn der Ausschluss erfolgt vor Randomisierung.

    Ganz im Gegenteil gibt es sogar Studien, die nahelegen, dass das Verfahren keinerlei Vorteile bietet, z.B.: https://www.nature.com/articles/npp199463
    oder ganz neu
    https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11606-018-4344-7

    Wir bleiben also dabei, dass die Vorwürfe der Manipulation sich auf coulda-woulda-shoulda beschränken und es an Belegen dafür fehlt…

    Im übrigen ist das so wie beschrieben kein Washout sondern ein Run-in. Bei einem Washout wäre das Ziel, ggf. bereits bestehende Medikation aus dem System rauszubekommen. Das kann und sollte natürlich bei Patienten, die bereits behandelt werden, geschehen, damit sich die Effekte nicht überlappen – hat aber mit dem beschriebenen Szenario nur indirekt zu tun.

  47. Wobei die erste verlinkte Studie konkret aus dem Bereich Neuropsychopharmakologie kommt, die andere, neuere Medikamente aus einer andere Indikation betrifft…

  48. @Oliver H: Blindheit und Inhalte

    Mit Verlaub, aber Sie sind hier derjenige, der so einen scharfen Ton anschnitt; dann sollten Sie ihn sich auch von anderen gefallen lassen.

    Zu den inhaltlichen Punkten:

    Wenn man starke Placebo-Responders ausschließt, dann ist das gemessene B’ kleiner als es wäre, wenn diese Versuchspersonen dabei gewesen wären; das meinte ich z.B. mit B-, das dann ein signifikantes A > B- ergibt. Das ist pure Mathematik.

    Wenn ferner die Beobachter wissen (oder zumindest vermuten), wer das Medikament bekommt, dann führt das zu einem A’, das größer ist, als es ohne diesen Beobachtereffekt gewesen wäre; so ergibt sich A+ > B-, das jedoch auf Verzerrungen beruht, die der Logik der Forschung widersprechen – und zwar nur in der Richtung, dass ein Wirksamkeitsnachweis wahrscheinlicher wird.

    Herr Plöderl ferner hat auf die Tatsache hingewiesen, dass der gemessene Effekt unter der praktischen Relevanzschwelle liegt; Herr Reichhardt wies ferner darauf hin, dass damit noch nichts darüber ausgesagt ist, ob die Patienten selbst eine Verbesserung erfahren. Herr Hengartner stützte dies mit weiteren Aussagen im Interview.

    Mit solchen Fakten ist die starke Überinterpretation, vor allem in den Medien, die etwa Herr Holzherr hier zitierte, stark in Zweifel gezogen; die Aussagen des Forschers stehen zudem auch im krassen Gegensatz zu einer Logik der Forschung nach Karl Popper.

    Wissenschaft sollte nicht so funktionieren, wie Sie sie betreiben, nämlich vor allem mit Verweis auf Autoritäten; damit könnten Sie genauso gut in der katholischen Kirche Karriere machen. Wissenschaft sollte über den Austausch von Gründen, Argumenten und Daten geschehen.

    Außerdem beschließe ich selbst, wen ich interviewe; mir war Herrn Hengartners Mini Review aufgefallen, das übrigens genauso Peer Reviewed ist, wie die Publikation im Lancet. Zudem sind in diesem Falle sogar die Namen der Reviewer bekannt, sodass man diese zur Not zur Rechenschaft ziehen kann. Diesen Gefallen tut uns Lancet – meines Wissens – nicht. Die Entscheidungen spielen sich im Geheimen ab.

    Wenn Sie endlich auf die inhaltliche Kritik reagieren wollen, die hier logisch begründet und in der verlinkten Publikation mit weiteren Quellen unterbaut ist, dann sind Sie willkommen; ansonsten suchen Sie sich vielleicht einen geeigneteren Platz für Ihren Ideenaustausch.

  49. @Stephan Schleim // Placebowirkung

    » Bei der Gabe eines Placebos geht man davon aus, dass das Placebo eben keine Wirkung hat.«

    »Völlig falsch.«

    Nee, nicht völlig. Was Du meinst, ist die Wirkung aufgrund der Gabe eines wirkstofffreien Präparats. Das Präparat selbst bewirkt nichts, weil eben wirkstofffrei.

  50. @Balanus: Willkommen in Balanistan

    Ich will sehen, wie jemand eine Placebo-Kontrolle durchführen kann, ohne dass das Placebo auch gegeben wird; das ist doch reine Spitzfindigkeit.

  51. In Proportion of antidepressants prescribed without a psychiatric diagnosis is growing einem Artikel von 2011 liest man (übersetzt von DeepL): In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Verwendung von Antidepressiva so weit angewachsen, dass sie heute die dritthäufigste Klasse von Medikamenten in den Vereinigten Staaten sind. Ein Großteil dieses Wachstums wurde durch einen erheblichen Anstieg der Antidepressiva-Rezepturen von nichtpsychiatrischen Anbietern ohne begleitende psychiatrische Diagnose getrieben. Unsere Analyse ergab, dass zwischen 1996 und 2007 der Anteil der Besuche, bei denen Antidepressiva verschrieben wurden, aber keine psychiatrischen Diagnosen festgestellt wurden, von 59,5 Prozent auf 72,7 Prozent gestiegen ist.
    In einem Artikel von 2017 liest man, die Verschreibung von Antidepressiva durch GPs (Allgemeinpraktiker) habe weiter zugenommen mit der Tendenz zu höheren Dosen und längerfristigen Therapiedauern wobei Antidepressiva vom SSRI-Typus überwiegen.
    Warum verschreiben in den USA immer mehr Allgemeinpraktiker Antidepressiva? Wohl auch weil Psychiater und psychiatrische Institutionen häufig positiv über ihre Erfahrungen mit Antidepressiva berichten und man auf Seiten wie dem National Institute of Mental Health detailliert über positive Erfahrungen mit unter anderem Antidepressiva berichtet.

  52. @Stephan Schleim // Spitzfindigkeiten

    So so, Du hältst es also für eine Spitzfindigkeit, wenn man die sogenannte „Placebo-Wirkung“ als einen reinen Behandlungseffekt deutet und nicht dem Placebo selbst zuschreibt.

    Ich fasse mal kurz zusammen:

    Erst behauptest Du, dass dadurch, dass man eine Studie ohne extreme Placebo-Responder durchführt, „der Wirksamkeitsnachweis so gut wie gelingen muss“.

    Dann, auf meine Frage, wie das gehen soll ohne ein wirksames Prüfpräparat (Verum) zu haben, verschiebst Du die Torpfosten und erzählst etwas von manipulierten Studiendaten bzw. von fehlerhaftem Studiendesign, das offenbar auch dann die Verum-Gruppe begünstigt, wenn das Verum selbst therapeutisch wirkungslos ist. Der Gedanke dahinter ist offenbar, dass der Prüfarzt anhand der Begleiterscheinungen erkennt, wer das Verum erhält und daraufhin bei PatientenInnen mit Begleiterscheinungen einen positiven Behandlungseffekt notiert.

    Ich weiß jetzt nicht, wie das bei Antidepressiva-Studien gehandhabt wird, aber wenn eine dauerhafte Doppel-Verblindung prinzipiell nicht möglich ist, dann gibt es durchaus Möglichkeiten, durch entsprechende Planung den Prüfer-Bias effektiv zu mindern.

    Davon abgesehen hast Du noch immer nicht erklärt, wieso „die Wahrscheinlichkeit höher wird, dass das Medikament später eine stärkere Wirksamkeit zeigt als das Placebo“ (MPH), wenn aus beiden Studienarmen die extremen Placebo-Responder ausgeschlossen werden, und zwar selbst dann, das ist der „springende Punkt“, wenn das Verum im Grunde wirkungslos ist.

    Interessant finde ich übrigens, dass man tatsächlich keinen Unterschied gefunden hat zwischen Studien, bei denen starke Placebo-Responder ausgeschlossen wurden und solchen, wo das nicht geschah (siehe @Oliver H’s Verlinkungen). Das hätte ich nicht erwartet. Vermutlich ist der Anteil der Extrem-Responder am Studienkollektiv meist so gering, dass er nicht ins Gewicht fällt.

  53. @Martin Holzherr

    Warum verschreiben in den USA immer mehr Allgemeinpraktiker Antidepressiva? Wohl auch weil Psychiater und psychiatrische Institutionen häufig positiv über ihre Erfahrungen mit Antidepressiva berichten und man auf Seiten wie dem National Institute of Mental Health detailliert über positive Erfahrungen mit unter anderem Antidepressiva berichtet.

    Es sollte einem doch zu denken geben, wenn die Verschreibung von Antidepressiva solche Ausmaße annimmt. Werden hier nicht eher gesellschaftliche Probleme ignoriert, die man dann mit Antidepressiva zu betäuben sucht? Laut Studie profitieren depressive Patienten, die an leichten bis mittelschweren Depressionen leiden meist nicht von Antidepressiva, daher geht man in Großbritannien einen anderen Weg und bildet Gesundheitstherapeuten aus, die die Erstversorgung übernehmen und alternative Therapien anbieten.
    https://www.depression-heute.de/blog/depressionstherapie-in-grossbritannien-lieber-keine-antidepressiva

  54. @Balanus: Placebo

    Ich finde mich nicht in der Art und Weise wieder, wie du unsere Diskussion zusammenfasst. Daher kann ich auch nicht den Vorwurf des Themenwechsels nachvollziehen, bzw. gebe ich diesen an dich zurück.

    Das Problem, dass es schwieriger ist, einen Behandlungseffekt zu finden, wenn der Placebo-Effekt groß ist, wurde in dieser neueren Arbeit ausführlich diskutiert, inklusive Lösungsansätzen:

    On clinical trials with a high placebo response rate (Chi et al., 2016, Contemporary Clinical Trials Communications)

    Sehr lesenswert zum Thema ist diese Arbeit von Kollegen aus Tübingen und Düsseldorf:

    The placebo response in clinical trials: more questions than answers (Enck et al., 2011, Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci.)

  55. @Holzherr: Hausärzte & Profite

    Sie dürfen nicht vergessen, dass sich die Pharmavertreter in den Arztpraxen die Klinke in die Hand geben; zumindest bis vor einigen Jahren war es auch noch so, dass (in Deutschland) Ärzte Prämien dafür einstreichen durften, ein bestimmtes Medikament zu verschreiben.

    Ich erinnere mich, dass das vor Gericht kam, die oberste Instanz (BGH) aber entschied, dass man das mit Blick auf die Gesetzeslage nicht als Korruption auffassen könne. Ich habe nicht gelesen, dass sich daran etwas geändert hatte. Es ist doch eine Win-Win-Situation, außer für die Patienten, aber um die geht es eben nicht primär in unserem heutigen Gesundheitssystem.

    Über die Lage in den Niederlanden las ich, dass hier immer mehr Hausärzte Psychopharmaka verschreiben, insbesondere Antidepressiva, und sich dabei oft nicht an die geltenden Richtlinien halten, was insbesondere auch bei der Behandlung von Jugendlichen ein großes Problem ist.

    Wenn so ein Hausarzt mal eben eine Depression diagnostiziert und dann so ein Medikament verschreibt, dass ist jemand möglicherweise für das ganze Leben stigmatisiert.

  56. Es wäre schön, wenn jemand noch mal auf mein Argument weiter oben eingehen könnte, denn mich interessiert, wie dazu der Forschungsstand ist bzw. ob die Daten auch in dieser Richtung schon (re)analysiert worden sind.

    Meine beiden Hypothesen wäre:

    a) Antidepressiva wirken differentiell sehr unterschiedlich, bei vielen Patienten / Probanden verschlimmern sie die Symptomatik sogar. Daraus resultieren zum Teil die sehr mäßigen (oder nicht vorhandenen) Gruppenunterschiede zwischen Verum und Placebo.
    b) Aus diesem Grund übersieht man man bei ausschließlicher Betrachtung der Gruppendurchschnitte und der Signifikanzen der Gruppenunterschiede, dass bei einigen / vielen (?) Patienten oder Probanden die Einnahme von Antidepressiva gute und sehr gute Effekte zeitigt.

    Gibt es zu einer solchen differenzierteren Betrachtungsweise der Wirksamkeit von AD Erkenntnisse aus der einschlägigen Forschung?

  57. @Stephan Schleim: Hausärzte stehen unter vielen Einflüssen, nicht nur unter dem Einfluss von Pharmafirmen. Sie haben regelmässig Fortbildungen (sind sogar in vielen Ländern dazu verpflichtet) und werden von Stellungnahmen von Fachgesellschaften – zum Beispiel der Fachgesellschaft der Psychiater – beeinflusst.
    Wenn Hausärzte immer fleissiger Psychopharmaka verschreiben kann man davon ausgehen, dass die meisten dieser Einflussfelder, also Pharmafirmen, Fortbildungsthemen, Vernehmlassungen von Fachärtzen, für die Verschreibung von Psychopharmaka plädieren. Zudem haben natürlich haben auch Patienten einen Einfluss auf das Verschreibungsverhalten. Wenn Patienten ihre Symptome wie aus dem Lehrbuch bechreiben und Hilfe erwarten, dann überlegen sich die Hausärzte, was wohl indiziert ist und erinnern sich dann an all ihre Fortbildungen und natürlich auch an die Besuche von Pharmavertretern.

  58. Die Frage, ob AD bei manchen PatientInnen tatsächlich effektiv sind, würde mich auch interessieren (und ob sich das auch über mehrere Studien hinweg zeigt).
    In kritischen Diskussionen mit PsychiaterInnen hat einer gemeint, dass das Problem die Depressionsdiagnose ist. Seiner Meinung nach war die Aufhebung der Unterscheidung endogene vs. nicht-endogene Depression ein Fehler, und dass bei der endogenen Depression seiner Meinung nach AD sehr wohl wirken. Aber wie Matthias Wehrstatt schon sagt, wenn AD bei manchen gut wirken muss es so sein, dass AD bei manchen kontraproduktiv wirken, sonst käme der Nahezu-Null-Unterschied beim Gruppenvergleich nicht zustande.
    Weiß da wer von Euch was?

  59. War grippebedingt bei meiner Hausärztin und habe in dem Zusammenhang ihr auch gleich einmal mit ihr über die (nicht)Wirksamkeit von AD gesprochen, und von den Nebenwirkungen (inkl. Suizidalität). Interessant war, dass sie bereits schon davon gehört hatte. Das Problem für sie (und vermutlich andere) ist, dass sie keine Alternative zu den AD sieht, das ist natürlich mit Ohnmacht verbunden. Hausärzte haben ja bloß ein paar Minuten pro Patient Zeit. Außerdem würde das die bisherige, Jahrzehntelange Praxis in Frage stellen. Auch nicht angenehm.

    Und zum Schweregrad: AD helfen auch bei schweren Formen der Depression nicht besser als bei mittleren oder leichten. Open Access Artikel hier:
    https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/078593D35A835A88503BD7C3B579DD18/S0007125000245480a.pdf/initial_depression_severity_and_response_to_antidepressants_v_placebo_patientlevel_data_analysis_from_34_randomised_controlled_trials.pdf

  60. Umgekehrt könnte man sich auch die Frage stellen, warum AD bei wieder anderen Patienten völlig ineffektiv sind. Kürzlich las ich hier:

    Entzündungen im Körper können offenbar ein Auslöser für psychische Symptome sein. So kristallisiert sich ein immer deutlicherer Zusammenhang zwischen Depressionen und entzündlichen Erkrankungen heraus. In einer Studie der Universität Essen konnten die Forscher aufzeigen, dass im Verlauf einer akuten Entzündung die Konzentration des Immunbotenstoffs Interleukin-6 (IL-6) nicht nur im Blut, sondern auch deutlich in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit ansteigt.

    Der Anstieg von IL-6 hing dabei signifikant mit den von den Probanden berichteten depressiven Anzeichen zusammen: Nahm die Konzentration zu, verstärkten sich auch die Symptome. Die Wissenschaftler vermuten nun, dass IL-6 über die Blutbahn das Gehirn erreichen und hier durch die Veränderung neuronaler Prozesse eine Depression bewirken könnte.
    Auch wenn weitere Untersuchungen zu den Transportmechanismen ausstehen, über die IL-6 ins Gehirn gelangt, weisen diese Befunde auf neue Möglichkeiten hin, depressive Störungen zu behandeln. So ließe sich beispielsweise dieser Botenstoff gezielt blockieren. Vielversprechende Studien gibt es auch mit dem entzündungshemmenden Antibiotikum Minocyclin.
    Die meisten derzeit verfügbaren Antidepressiva erhöhen nur den Serotonin-Spiegel und verursachen erhebliche Nebenwirkungen. Viele an Depression leidende Patienten sprechen auf diese Medikamente gar nicht an.

  61. @Mona (Zitat): Werden hier nicht eher gesellschaftliche Probleme ignoriert, die man dann mit Antidepressiva zu betäuben sucht?
    Das Zusammenspiel unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure und gesellschaftlicher Erwartungen spielt bei der Depressionsbehandlung sicher eine wichtige Rolle. Hier einige Punkte dazu:
    1) Zum einen hat sich die Zeit geändert. Schon früher mögen viele Leute ihren Alltag (inklusive Ehealltag) als trist empfunden haben, aber heute wird das angesichts medial geweckter Erwartungen an ein Superleben immer weniger akzeptiert
    2) Hausärzte fühlen sich heute noch mehr als früher gedrängt ihren Patienten irgendwie zu helfen und sei es nur mit dem Verschreiben eines Medikaments an das sie sogar selbst nicht so richtig glauben
    3) Es gibt in der Tat für sich depressiv fühlende möglicherweise zu wenig Alternativen. Das naheliegendste ist der Besuch beim Hausarzt, aber eine depressive Stimmungslage könnte vielleicht ebenso gut durch eine Lebensumstellung, eine Gesprächstherapie, eine Selbsthilfegruppe oder eine andere Therapieform angegangen werden.

  62. @Martin Holzherr // 4. März 2018 @ 11:37

    Es gibt in der Tat für sich depressiv fühlende möglicherweise zu wenig Alternativen. Das naheliegendste ist der Besuch beim Hausarzt, aber eine depressive Stimmungslage könnte vielleicht ebenso gut durch eine Lebensumstellung, eine Gesprächstherapie, eine Selbsthilfegruppe oder eine andere Therapieform angegangen werden.

    Neuerdings gibt es Apps gegen Depressionen. Inwieweit diese etwas bewirken, lässt sich schwer sagen. Vermutlich kann man damit depressive Verstimmungen behandeln, aber keine ernsthaften Lebenskrisen.

  63. @Mona: Entzündungen und Depressionen

    Die spannende Frage ist nun aber, wie stark der Zusammenhang von bestimmten Entzündungen und depressiven Symtpomen ist. Wenn Sie mich fragen, werden Sie wahrscheinlich bei jeder schweren Erkrankung im Gruppendurchschnitt eine leichte Erhöhung der depressiven Symptomatik feststellen können.

    Darum ist die Major Depression aber noch lange keine Entzündungserkrankung (wie etwa Multiple Sklerose, wo sich die Entzündungen ja, zumindest ab einem bestimmten Status, neurologisch nachweisen lassen).

    Die meisten derzeit verfügbaren Antidepressiva erhöhen nur den Serotonin-Spiegel und verursachen erhebliche Nebenwirkungen.

    Interessant, dass die Befürworter der SSRIs diesen Antidepressiva gerade ein eher verträgliches Nebenwirkungsprofil beimessen. Es scheint doch immer sehr im Auge des Betrachters zu liegen.

  64. @Stephan Schleim // Placebo-Behandlung

    »Das Problem, dass es schwieriger ist, einen Behandlungseffekt zu finden, wenn der Placebo-Effekt groß ist, wurde in dieser neueren Arbeit ausführlich diskutiert, inklusive Lösungsansätzen: …«

    Danke für die Links.

    Den „Behandlungseffekt“ findet man leicht, man braucht dazu nur den Depressions-Score zu Beginn der Behandlung mit dem am Ende zu vergleichen. Schwierig hingegen ist die Abgrenzung des Behandlungseffekts vom Wirkstoffeffekt, weil gerade bei der pharmakologischen Depressionstherapie die Behandlung als solche schon einen enormen Effekt zu haben scheint (statistisch), und zwar unabhängig vom verabreichten Wirkstoff.

    Es heißt ja immer, die Wirkung eines Antidepressivums zeige sich erst nach einigen Wochen der Einnahme, aber mir scheint, mit dem jeweiligen Arzneistoff selbst hat das gar nichts zu tun, der Verlauf der Besserung einer Depression dauert einfach seine Zeit, egal, was man einnimmt, Zuckerpillen oder SSRIs.

    @Matthias Wehrstedt und @Martin Plöderl fragen nach der Wirksamkeit der AD bei einzelnen PatientInnen und @Matthias Wehrstedt vermutet, dass das stark unterschiedliche Ansprechen auf die Medikation der Grund dafür sein könnte, dass zwischen den Behandlungsarmen einer Placebo-kontrollierten Studie meist nur ein geringer Unterschied festgesellt werden kann.

    Ich denke, für die mittlere Differenz zwischen Verum und Placebo spielt das keine wesentliche Rolle, denn auch in der Kontrollgruppe gibt es große Schwankungen. Und PatientInnen, bei denen unter der Therapie eine Verschlechterung auftritt, scheiden meist frühzeitig aus der Studie aus. Ich denke, die Grafik in der von Michael P. Hengartner verlinkten Studie (http://www.bmj.com/content/351/bmj.h4320) zeigt den typischen Besserungsverlauf in einer solchen klinischen AD-Studie. Wenn die Studienabbrecher in der Auswertung berücksichtig werden (LOCF-Methode), dann ist der positive Behandlungseffekt in allen Studienarmen gleichermaßen geringer.

    In Einzelfällen weiß man halt nie, ob die Besserung ursächlich auf die Behandlung oder auf den Wirkstoff zurückzuführen ist—oder gar ganz von alleine erfolgt ist. Deshalb braucht es die Studien und die Statistik, wenn man etwas über die Wirksamkeit eines Präparates erfahren will.

  65. In dem Interview wird vorwiegend von stimulierenden Antidepressiva gesprochen. Gibt es auch Befunde zu sedierenden Antidepressiva der Gruppe der SSRI?

  66. @Wehrstadt: Systematische (spezifische) Effekte eines Pharmakon können Sie nur in einer Gruppenstudie auf Basis systematischer Effekte (meist auf den Mittelwert) feststellen. Es geht ja gerade darum, Varianz in den Veränderungen und post-Interventionsdaten durch den Interventionsfaktor aufzuklären. Eine nachträgliche Unterscheidung in Responder und Non-Responder tut zur Frage der Wirksamkeit der Intervention nichts zur Sache – genaugenommen ist es daher auch falsch, hier von Respondern zu sprechen (falls gar kein Gruppeneffekt aufgetreten war).

  67. @all: Ich finde die hier vertretene skeptische Interpretation der Studie gut nachvollziehbar. Pragmatisch könnte man vielleicht sagen, dass es mit den modernen AD im Grunde recht unproblematisch ist, über einige Wochen auszuprobieren, ob ein Patient profitiert oder nicht. Die Leitlinien sind bereits zurückhaltender formuliert; bei Jugendlichen ist Psychotherapie klar die erste Wahl bei Depression.

  68. @ Hoppe:
    Wichtig ist das Auszählen von Respondern sehr wohl, und zwar besonders, wenn es in der Verum-Gruppe deutlich mehr Responder gibt als in der Placebo-Gruppe. Und dieser Fall kann eben auch eintreten, wenn eine Varianzanalyse oder ein t-Test keine signifikanten Mittelwertsdifferenzen feststellt. Man muss dann eben die Daten genauer anschauen und sehen, was da los ist. Die Bestimmung der Signifikanz der Mittelwertsunterschiede ist erstmal nur eine sehr grobe (wenn auch wichtige) Analysemethode. In solchen Studiendaten stecken aber immer auch noch mehr Informationen, was m.E. oft übersehen wird.

  69. @Matthias Wehrstedt

    »…wenn es in der Verum-Gruppe deutlich mehr Responder gibt als in der Placebo-Gruppe …«

    … dann sollte sich das im Gruppenunterschied auch zeigen. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass gleiche Mittelwerte z. B. dadurch zustande kommen, dass in der Verumgruppe viele Schwachresponder sind, in der Kontrollgruppe hingegen wenige Extremresponder (oder umgekehrt). So etwas hätte dann sehr unterschiedliche Standardabweichungen bei ähnlichem Mittelwert zur Folge.

    Doch davon abgesehen: Die statistische Auswertung einer klinischen Studie hat genau nach Studienplan zu erfolgen. Das nachträgliche Graben in den Daten kann man zwar machen, aber das ist dann eine interne Geschichte und kann nicht als Studienergebnis publiziert werden..

    Wenn man meint, in den Daten etwas gefunden zu haben, dann kann man das in einer Folgestudie überprüfen, dann wird sich zeigen, ob es sich um einen realen Effekt oder nur um einen Zufallsbefund gehandelt hat.

  70. man muss sich immer vor Augen halten, dass kein Arzt und kein Wissenschaftler erklären kann wie Depressionen entstehen. Dabei meine ich erklären im Sinne von ‘was passiert dabei im Körper’. Wie soll denn ein Medikament eine dauerhafte Lösung für etwas sein, dessen Ursache man nicht kennt? Das ist mir persönlich unbegreiflich. Das ist so als wenn man eine feuchte, von Schimmel befallene Wand weiß überstreicht und sich dann darüber streitet, ob der Farbton das richtige weiß ist.

  71. So ich mische mich hier auch mal ein und erzähle meine Geschichte als Betroffener. Mir geht es dabei vor allem um das schwierige Absetzen dieser Medikamente, bei gleichzeitig bekannter Wirkung hauptsächlich über den Placeboeffekt (siehe Irving Kirsch, Jay Fournier)

    https://die-psychopharmaka-falle.de/risiken-und-nebenwirkungen-moderner-antidepressivaerfahrungsbericht-eines-betroffenen

    An Herrn Schleim: Gerne können Sie den Beitrag auf Ihrem Blog veröffentlichen, wenn Sie mögen. Außerdem möchte ich mich für Ihren Beitrag bedanken. Aus Sicht eines Betroffenen kann es gar nicht genug solcher Beiträge geben, um auf die Problematik aufmerksam zu machen, was ich auch über meinen Blog versuche. Wissen Sie, wenn schon die beiden großen Selbsthilfe-Organisationen in Deutschland für Menschen mit Depressionen jegliche Kritik an SSRI systematisch leugnen und ignorieren und uns Betroffenen und unserem Leid keinerlei Glauben schenken, obwohl Sie behaupten die Interessen aller Menschen mit Depressionen in der Öffentlichkeit zu vertreten, was sie so natürlich nicht tun und es unmöglich ist, mit ihnen in einen konstruktiven Gedankenaustausch zu treten, dann kann ich nur zu der Schlussfolgerung kommen, dass Sie entgegengesetzt ihrer Aussage in ihrer Satzung pharmaunabhängig zu sein, Lobbyorganisationen der Pharmaindustrie sind. Sie glauben gar nicht, was mich die Auseinandersetzung mit diesen beiden Organisationen schon an Kraft und Nerven gekostet hat, die ich eigentlich gar nicht habe, aufgrund meiner Entzugssymptome.

    Mit freundlichem Gruß

    Markus Hüfner

  72. Die noch relativ junge Gen-Technologie sagt, daß sich Schimpanse und Mensch
    ähnlicher sind als zum Beispiel Schimpanse und Gorilla. Daraus könnte man schließen,
    daß die erstere Kombination eher einen gemeinsamen Vorfahren hatte, als zum
    Beispiel die letztere.
    Ich empfehle deshalb allen Diskussionsteilnehmern, das Buch “Der dritte Schimpanse” von
    Jared Diamond zu lesen, von dem der Rezensent Edward O.Wilson sagt, daß das Buch
    Bestand haben wird. Vielleicht fallen die einzelnen Meinungen dann etwas anders aus.
    Uwe Ocken

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