Geisteswissenschaft naschen

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Auf dem ersten nasch-Forum trafen sich 40 NachwuchswissenschaftlerInnen aus den Geisteswissenschaften mit ausgeprägtem Interesse an Interdisziplinarität. Mit namhaften Gästen diskutierten sie über Wissenschaftspolitik, die Zukunft ihrer Disziplinen und Berufschancen inner- und außerhalb der Universitäten.

Der geisteswissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland sucht sich seine eigenen Wege. Als Spin-off der bereits mehr als zehnjährigen Förderinitiative „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ der VolkswagenStiftung in Hannover trafen sich nun die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen der zurzeit geförderten interdisziplinären Vorhaben. Die Idee war, sich einmal ohne die Damen und Herren Professoren, die sonst die Forschungsanträge schreiben und managen, über die Projektarbeit auszutauschen. Dabei fanden sich genuin akademische Themen wie die Methoden der einzelnen Disziplinen ebenso auf der Agenda wie ganz praktische Erwägungen zu den Berufschancen für GeisteswissenschaftlerInnen in Deutschland.

Schlosshotel EringerfeldObwohl die Tagung im Schlosshotel Eringerfeld fern der akademischen Elfenbeintürme stattfand, hatte das Organisationsteam ausgewiesene Experten gewinnen können: NDR-Kulturredakteur Stephan Lohr, den Kommunikationsmanager Manfred Harnischfeger, ehemaliger Direktor Konzernkommunikation der Bertelsmann AG und Deutsche Post DHL, Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach und frischgebackener Preisträger der Leipziger Buchmesse, die beiden Professoren für Sprachwissenschaft Gerhard Lauer und Henning Lobin, der übrigens nebenan bei den WissensLogs bloggt, sowie Repräsentantinnen des BMBF, der DFG und VolkswagenStiftung. Vielleicht gehörte es aber auch zum Erfolgsgeheimnis der Veranstaltung, die TeilnehmerInnen in den vom Burggraben eingeschlossenen Tagungsräumen zu versammeln und fern jeder Ablenkung genau das tun zu lassen, was sie am besten können – nämlich denken und diskutieren.

In Brot und Arbeit

Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, hielt den ersten Kurzvortrag. Er widmete sich der Wissenschaftspolitik und den Berufschancen der GeisteswissenschaftlerInnen. Mit Verweis auf eine Absolventenbefragung der HIS GmbH sorgte er zunächst für etwas Ernüchterung. So seien nämlich GeisteswissenschaftlerInnen die mit Abstand unglücklichsten AkademikerInnen in ihrem Beruf, sie würden im Mittel weniger verdienen und hätten es schwieriger, eine Arbeit zu finden, die ihrer Qualifikation entspreche. Dennoch würden sie rückblickend mit ihrer ursprünglichen Studienwahl zufrieden und außerdem weniger stark von Arbeitslosigkeit bedroht sein als Nicht-AkademikerInnen.

Offensichtlich ist ein Studium nach wie vor ein guter Weg, die eigenen Beschäftigungschancen und -aussichten zu verbessern. (Kolja Briedis, Projektleiterin der HIS GmbH)

Krull empfahl, die gelernten Methoden auch auf die eigene Situation anzuwenden und beispielsweise Informationen darüber strategisch zu nutzen, wie die zukünftigen Stellenbesetzungen im eigenen Fach aussähen. So prognostizierte er eine neue Einstellungswelle für HochschullehrerInnen für das Jahr 2016/2017 – durchaus ein interessantes Zeitfenster für diejenigen, die gerade oder bald mit ihrer Dissertation fertig sind.

Manfred Harnischfeger, der nach Krull sprach, ist wahrscheinlich ein Unikum der deutschen Berufswelt: Ohne Hochschulabschluss hat er es nicht nur an die Spitzen von Großkonzernen wie der Bertelsmann AG oder Deutschen Post DLH geschafft, sondern auch zum Professor für Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Für seinen Bereich des Kommunikationsmanagements empfahl er Interessierten die Sekundärtugenden Fleiß, Dienstbarkeit und Eigenständigkeit. Man müsse in seinem Metier den anderen davon überzeugen, gleichzeitig nützlich und ein guter Kumpel sein zu können, ohne viel Führungsaufwand zu benötigen.

Schlosshotel EringerfeldIn einem weiteren Kurzvortrag sorgte Ulrich Raulff für gute Stimmung unter den Anwesenden. Er führte nämlich vor Augen, dass in Deutschland mehr als 10.000 öffentliche Bibliotheken und beinahe 5.000 Museen ca. 30.000 Festangestellten eine Arbeit böten – dazu kämen noch Volontäre, freie Mitarbeiter und so weiter. Zusammen kämen diese beiden Bereiche auf einen jährlichen Etat von über 2,5 Milliarden Euro. Füge man noch die Archive zu der Rechnung hinzu, käme man schon auf satte 4 Milliarden. Die Besucherzahlen würden insgesamt steigen. Gleichzeitig warnte er die „Generation Praktikum“ vor der Gefahr, zu viel von allem in ihren Lebensläufen zu haben und äußerte Skepsis gegenüber „draufgesattelten“ Studiengängen wie Kulturmanagement – eine Skepsis, die jedoch nicht alle der Referenten teilten.

Stephan Lohr vom Norddeutschen Rundfunk verwies auf eine der Stärken der GeisteswissenschaftlerInnen, die für sein Arbeitsgebiet essentiell sei: in der Lage zu sein, einen komplexen Sachverhalt in unterschiedlichen Formaten zu präsentieren. Alle Referenten waren sich darin eins, dass man genau das tun solle, was einen brennend interessiere. Auch wenn man als GeisteswissenschaftlerIn selten ein Thema bearbeite, das tatsächlich beruflich relevant sei, könne man so eine für den beruflichen Erfolg entscheidende Fähigkeit unter Beweis stellen. Dass man nämlich an einer Sache dran bleiben und sie erfolgreich zum Abschluss bringen könne. Am Ende des Abends äußerten einige der Referenten, deren berufliche Laufbahn sich allmählich dem Ende nähert, im persönlichen Rahmen eines Kamingesprächs Bedauern darüber, sich in jüngeren Jahren nicht früher mehr getraut zu haben.

Auf dem Weg zu e-Science?

Am zweiten Tag gab es mit den jungen Professoren Lobin und Lauer ein Kontrastprogramm zu den Vorträgen des Vorabends. Sie sprachen zwar weniger über die Berufswelt, dafür über bevorstehende Umbrüche der Geisteswissenschaft im Zeichen der e-Science. Henning Lobin, einer der deutschen Computerlinguisten der ersten Stunde, lobte die neuen Möglichkeiten von Data Mining und Analyseverfahren, die nach semantischen Relationen in großen Textbeständen fahndeten. Gerhard Lauer sekundierte dieser Vision und war tatsächlich der erste Germanist, den ich in einem Vortrag von „statistischer Signifikanz“ sprechen hörte.

Auch wenn solche Ergebnisse einer Interpretation bedürften, rechtfertigte er diese Auswerteverfahren mit dem Vorteil, seinen Blick dann nicht mit der Arbeit an wenigen Werkstücken einengen zu müssen, deren Repräsentativität für eine größere Zahl oder ganze Epoche zudem zweifelhaft sei – ein Seitenhieb auf eine etablierte Vorgehensweise in der Literaturwissenschaft. Ich frage mich allerdings, ob man damit nicht vor allem viele Nadeln im Heuhaufen findet und droht, das Ganze aus dem Blick zu verlieren. Mit Blick auf Steve Jobs neuestes Spielzeug, das iPad, sagte Lauer übrigens sämtlichen mittelständigen deutschen Verlagen den Untergang voraus.

Besonders interessant waren seine Beispiele für Projekte, die gesamte Kulturschätze im Internet verfügbar machen. Vor allem kleinere Länder wie Irland seien Vorreiter darin, die kulturellen Errungenschaften ihrer Nation online zu stellen. In Deutschland sei dies aufgrund der föderalen Struktur schwieriger, da es anstatt eines nationalen Instituts viele Einrichtungen auf Länderebene gebe, die sich beispielsweise im Bereich der Bibliotheken bis heute nicht einmal auf ein einheitliches System hätten einigen können. Für die TeilnehmerInnen, die noch unter dem Eindruck von Raulffs Vortrag standen, stellte sich hier natürlich die Frage nach der Zukunft der Bibliotheken, Museen und Archive – wie viele Originale würden in einer solchen e-Kultur noch nötig sein?

Am dritten und letzten Tag der Veranstaltung gab es noch einen Block für diejenigen, die weiter in der wissenschaftlichen Welt arbeiten wollen. Darin stellten Anjana Buckow von der DFG, Sabine Gieske vom BMBF und Vera Szöllösi-Brening von der VolkswagenStiftung die zahlreichen Förderprogramme für (geistes-)wissenschaftlichen Nachwuchs vor. Von Auslandsaufenthalten über Forschungsprojekte hin zu internationalen Kollegs und der eigenen Professur waren zu viele Themen vertreten, um sie hier genauer vorzustellen. Die zuvor beschworene e-Science ist aber zumindest insofern Wirklichkeit geworden, als das Internet die nötigen Informationen rund um die Uhr bereithält.

Noch mehr naschen?

Dass die motivierten TeilnehmerInnen in Kleingruppen selbstverständlich bis tief in die Nacht hinein arbeiteten und den exzellenten Service des Hotels in Anspruch nahmen, muss hier nicht gesondert erwähnt werden. Der Blogpost soll aber nicht ohne einen Dank an die VolkswagenStiftung und ein dickes Lob an das Organisationsteam enden, die binnen eines Jahres so eine exzellente Tagung auf die Beine gestellt haben. Als Trost bleibt die Hoffnung, vielleicht bei einer zukünftigen Gelegenheit wieder einmal geisteswissenschaftlich naschen zu können.

Jan Schmirmund hat inzwischen auch einen Post über das Forum geschrieben.

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5 Kommentare

  1. @Stephan: YEAR

    Cooler Hinweis: Wir brauchen viel mehr solcher posts zum Thema Nachwuchsförderung!!

    Danke dafür! 🙂

    Eine weitere Internet-Plattforn, die Förderungsmöglichkeiten für Nachwuchswissenschaftler vorstellt, ist http://www.kisswin.de/.

    “Henning Lobin, einer der deutschen Computerlinguisten der ersten Stunde, lobte die neuen Möglichkeiten von Data Mining und Analyseverfahren, die nach semantischen Relationen in großen Textbeständen fahndeten.”

    Ein interessanter Hinweis, dem ich mal nachgehen werde – nach dem nächsten Bloggewitter.

  2. @ Elmar: Computerlinguistik

    Mit deinen mathematischen Kenntnissen und darüber hinausgehenden Interessen könnte ich mir das gut vorstellen.

    P.S. Martin: Hatten wir es an anderer Stelle nicht gerade mit deinem Gedächtnis, das sehr gut funktionierte? Diesmal hast du aber echt übersehen, dass ich schon auf Interactive Science verlinkt habe. 🙂

  3. @ Schleim

    Och, weißt Du, ich lasse mich nochmal einschulen. Ich denke, mit dem Lesen habe ich es nicht so. 😉

  4. @ Martin: SciLogs

    Dass du nochmal zur Schule gehst, lieber Martin, ist völlig ausgeschlossen. Wer soll sich dann vormittags bitteschön um die SciLogs kümmern? 🙂

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