G8, G9? Das Leben als Experimentierwiese

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Schulreformen sind umstritten. Liegt das an den Gefühlen der Betroffenen oder daran, dass hier etwas Wichtiges auf dem Spiel steht? Die jüngste Reform des Gymnasiums wird nun stückweise zurückgedreht – und der Beitrag der Wissenschaft scheint enttäuschend.

In der Ausgabe 4/2015 von Gehirn&Geist erschien ein Interview mit dem Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. Thema war der Umstieg vom neun- (G9) auf das achtjährige (G8) Gymnasium – und die sich jetzt abzeichnende Rückkehr zum G9, beispielsweise in Niedersachsen.

Die Umstellung geschah laut Hurrelmann zur Vorbereitung auf die Arbeitswelt: „Mit Blick auf den internationalen Wettbewerb wollte man den jungen Leuten in Deutschland durch das G8 die Chance geben, früher mit dem Studium, Ausbildung und schließlich dem ersten Job zu beginnen.“ Implizit wird davon ausgegangen, je jünger Menschen für den Arbeitsmarkt sind, desto besser. Ansonsten würde einem die Logik komisch vorkommen: bessere Qualifikation durch weniger Bildungszeit?

Zum Zeitpunkt des Interviews waren die Ergebnisse einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages noch nicht bekannt. Diese ergab laut Medienberichten nämlich, dass nur 47 Prozent der Unternehmen mit Berufseinsteigern auf Bachelor-Niveau zufrieden sind. Vor Jahren habe die Zustimmung noch wesentlich höher gelegen (2007: 67, 2011: 63 Prozent).

Vor allem ein Kommunikationsproblem?

Für den Bildungsforscher ist das G8 nicht gescheitert, sondern es handelt sich vor um ein Kommunikationsproblem: „Vor allem aber fehlte eine vorangehende breite Diskussion mit den Hauptbeteiligten, den Lehrern, Schülern und Eltern. Deshalb blieb die erhoffte Zustimmung aus, und es formierten sich zahlreiche Gegeninitiativen.“ Tja, wer kommt im 21. Jahrhundert schon auf den Gedanken, eine Reform, bei der es um nichts Geringeres als einen der Grundpfeiler des deutschen Bildungssystems geht, mit den Betroffenen zu besprechen und gut vorzubereiten?

Die Gegeninitiativen können scheinbar keine Argumente, sondern nur Gefühle der Kränkung für sich verbuchen, wenn man nach dem Interview geht. Damit wird die Diskussion auf die emotionale Ebene gebracht. Dem Bildungsforscher sind Studien bekannt, aus denen es sich ergebe, dass durch das G8 nicht die Zeit für Hobbys oder mit den Eltern abnehme. Dann ist ja alles gut!

Beispielsweise würden Kinder heute länger im elterlichen Heim leben als vor 30 Jahren. Dass es dafür vielleicht ökonomische Gründe gibt, wie unbezahlte Praktika und Jobunsicherheit, das wird nicht thematisiert; auch in Italien, Spanien oder Griechenland wohnen junge Menschen heute länger bei den Eltern: vor allem deshalb, weil sie sich nichts anderes leisten können.

Kritik wird emotionalisiert

Nein, berechtigte Gegenargumente scheint es für Hurrelmann nicht zu geben, sondern nur „die eigene Wahrnehmung“ oder das „subjektive Empfinden“ von Schülerinnen, Schülern und Eltern. Dass in den Jahren nach der Umstellung auf das G8 weniger das Abitur erreichten? „Ob diese Tendenz stabil ist, lässt sich jetzt aber noch nicht sagen“, weiß der Bildungsforscher. Die große Erkenntnis kommt zum Schluss: „G8 muss nicht schlechter sein.“

Gehen wir dies noch einmal Schritt für Schritt durch: Es gab nie einen triftigen Grund für die Verkürzung des Gymnasiums, sondern nur eine vage Idee, je jünger desto besser. Dass der Sinn der Reform den Betroffenen nicht im Voraus vermittelt wurde, liegt vielleicht schlicht daran, dass es ihn nicht gibt. Selbst Jahre später bleibt alles im Unklaren; Gedanken zu aussagekräftigen Evaluationen hat man sich wohl keine gemacht. Der – womöglich berechtigte – Widerstand wird emotionalisiert und subjektiviert.

Ein Grund zum Überdenken seiner Methodik ist das alles für den Experten nicht. Dabei kann man das Auseinanderklaffen von Praxis und Wissenschaft auf zweierlei Weise lesen: Entweder, mit dieser Lesart scheint Hurrelman zu liebäugeln, irren sich die Betroffenen fundamental über ihre Situation; oder die verwendeten Verfahren taugen nicht zur Untersuchung des Problems. Man stelle sich zum Vergleich einen Ingenieur vor, der zur eingestürzten Brücke sagt, sie möge sich bitte nicht so anstellen und wieder aufstehen, denn schließlich hätten die Berechnungen keinen Fehler ergeben.

Lasst doch Schülerinnen und Schüler in Ruhe

Es scheint, als hätte man aufgrund einer vagen Hoffnung hunderttausende junge Menschen fahrlässig ans Schicksal ausgeliefert. Fehler sollen jetzt wegkommuniziert werden. Diejenigen, die uns die Probleme eingebrockt haben, brauchen sie auch nicht auszubaden – sondern verdienen mit ihren Untersuchungen womöglich noch daran. Nein, liebe Experten: Lasst die Schülerinnen und Schüler in Ruhe! Und lasst auch die Studierenden in Ruhe.

(Hinweis: Der Autor stellte sich zu Schulzeiten sein eigenes G10 zusammen.)

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20 Kommentare

  1. G 8 ist Ideologie , und vielleicht nicht einmal das , sondern nur Teil des Versuchs , Bildung herunterzubrechen auf das , was gebraucht wird für die Produktion funktionsfähiger Arbeitsbienen .

    Deren geistige Aktivität soll genau so weit reichen , daß sie ihre ökonomische Funktion erfüllen , und das möglichst selbstständig , aber ihre Gehirnaktivität sofort einstellen , wenn sie anfangen , selbstständig nachzudenken über Dinge , die über die Erfüllung des Jobs hinausgehen.

    Daher ist es verlogen , wenn sich ausgerechnet die Wirtschaft über diese Entwicklung beschwert , “wer hats erfunden?”

  2. Die Einführung von G8 (kürzere Studienzeit) und der Bachelor-Qualifikation ist eine mögliche Antwort auf den Trend zum Studium für alle. Wenn mehr als 45% (Deutschland) der Bevölkerung das Abitur ablegt und damit studienberechtigt ist (gegenüber 11% noch 1970), dann wird die Studienzeit zum volkswirtschaftlichen Faktor.

    Meine Behauptung: Sobald man nur auf die Qualität des Studiums und die erreichte Qualifikation durch das Studium abstellt, dann wird die erwzungene Verkürzuung von Gymnasialzeit oder Studium und die vorzeitige Teilqualifikation in Form des Bachelors fragwürdig. Allerdings müsste man hier die tiefergehende Frage stellen ob es überhaupt der richtige Weg ist immer mehr studieren zu lassen. Probleme in Ländern wie Frankreich oder Italien, wo viele trotz Universitätsstudium keinen adäquaten Beruf finden, stellen es in Frage ob es gesellschaftlich sinnvoll ist, mögliichst viele studieren zu lassen.

  3. Bei aller Kritik an G8 darf man nicht vergessen, dass es in manchen Bundesländern ein G9 nicht gab. Wenn die These, dass G8 per se schädlich für die Bilung unserer Kinder ist, wahr wäre, müsste sich das in einem schlechteren Abschneiden der Abiturienten der Länder Thüringen und Sachsen im Vergleich zur restlichen Republik in den vergangenen Jahren nachweisen lassen. Gibt es dazu wissenschaftliche Studien?

  4. @Holzherr, ja, ich habe tatsächlich heute an einem ausführlicheren Artikel zur deutschen Hochschulpolitik gearbeitet und deshalb die Zahlen vor Augen: Die Anzahl der Studierenden ist in Deutschland von ca. eine Million im Jahr 1980 auf 2,7 Millionen im WS 2014/2015 gestiegen.

    Demgegenüber hat die Anzahl der Professuren kaum zugenommen; vor allem – i.d.R. für die Hochschullehre nicht besonders qualifizierte – wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten das kompensieren, von 1980 bis 2009 hat sich deren Anzahl beinahe vervierfacht. 83% davon arbeiteten mit befristeten Verträgen, Tendenz steigend.

    Zu Ihrer Ansicht über den “Akademisierungswahn” kann ich Ihnen die neueren Bücher von Julian Nida-Rümelin sehr ans Herz legen (ich lese gerade selbst das Buch “Der Akademisierungswahn”, nachdem ich das Vorgängerbuch “Philosophie einer humanen Bildung” mit großer Begeisterung gelesen habe).

  5. @RR, das stimmt schon. Mich überrascht vor allem, dass der Umstieg vom G9 aufs G8 wohl sehr blauäugig und unvorbereitet geschenen ist, vor allem dort, wo es noch kein Ganztagsschulsystem gab. Dass das Fazit des Bildungsforschers nach Jahren “es muss nicht schlechter sein” ist, wie im Text beschrieben, finde ich enttäuschend.

    Vergleiche zwischen den Bundesländern sind natürlich schwierig. Was könnte hier ein fairer Maßstab sein? Wie soll man langfristigen Erfolg (im Beruf, im Leben, …) messen?

    Ende 2013 wurde berichtet, dass die Schulen im Südosten der Republik in den Naturwissenschaften und Mathematik besser abschneiden. Vergleicht man dies allerdings mit den öffentlichen Ausgaben pro SchülerIn (unter “Bundesländer im Vergleich”, vierter Punkt”), dann ergibt sich eine auffällige Übereinstimmung, nämlich im Südosten wird auch vergleichsweise viel pro SchülerIn ausgegeben.

    Die Ergebnisse hängen immer auch von den Messkriterien und -methoden ab; ferner arbeiten die Schulen in den verschiedenen Regionen unter ganz anderen Bedinungen. Interessant finde ich hier auch den “Chancenspiegel” bei der zweiten Karte. Im Westen bemüht man sich sehr stark um Integration, im Osten spielt die Bildungsherkunft eine geringere Rolle.

    Deshalb gibt es keine einfache Antwort auf Ihre Frage.

  6. Von Nida-Rüdelins Argumenten gegen den “Akademisierungswahn” (habe ein Interview mit ihm gesehen+ins Buch hineingeschmökert) überzeugt mich vor allem, dass eine zunehmende Akademisierung automatisch abnehmende berufliche Ausbildungen und damit abnehmende berufliche Kompetenz mit sich bringt. Denn wer soll in einer Gesellschaft die aus lauter Akademikern besteht noch Physiotherapie machen, den Kindergarten oder Kinderhort leiten oder ein Auto flicken. Nida Rüdelin benutzte das plakative Beispiel einer Kinderhortnerin, die ein Psychologie-Studium hinter sich hat. Diese Psychologin ist in keiner Weise kompetenter wenn es etwa darum geht, die Kleinkinder des Kinderhorts richtig zu beschäftigen oder sie zum Mittagsschlaf zu bewegen. Im Gegenteil. Es besteht die Gefahr, dass sich die Psychologin deplaziert fühlt und dann einen schlechteren Job macht als eine speziell zur Kinderhortnerin Ausgebildete.

  7. Nida-Rümelins These vom “Akademisierungswahn” wird quer durch die Fraktionen negativ bewertet. Hier einige Argumente:
    http://www.news4teachers.de/2015/04/breit-diskutiert-nida-ruemelins-these-vom-akademisierungswahn/

    Außerdem befinden wir uns im Wettbewerb mit anderen Ländern. “Im Jahr 2012 haben knapp 40 Prozent der Iren zwischen 25 und 64 Jahren eine universitäre Ausbildung. Das resümiert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (kurz: OECD) in ihrem Bildungsbericht 2014. Deutschland hingegen schafft es nicht unter die Top Ten: Nur 28 Prozent haben einen Tertiärabschluss – also ein abgeschlossenes Studium oder einen Meister. Der OECD-Durchschnitt liegt dagegen bei knapp 33 Prozent.”
    Von hier: http://www.wiwo.de/erfolg/campus-mba/oecd-bildungsstudie-die-laender-mit-der-hoechsten-akademikerquote/10702910.html

    Bezüglich des Umstiegs von G9 auf G8 kann ich nur für Bayern sprechen, wo das G8 “politisch gewollt” im Schuljahr 2004/2005 völlig überstürzt eingeführt wurde. Weil das Ganze von Anfang an schlecht geplant war musste ständig nachgebessert werden. Die damit verbundene fehlende Planungssicherheit sorgte für zusätzlichen Stress bei den Betroffenen. Im Jahre 2011 gab es dann einen doppelten Abiturjahrgang, der auch noch mit der Abschaffung der Wehrpflicht zusammenfiel, was für ein ziemlichen Chaos sorgte, sowohl an den Universitäten wie auch am Ausbildungsmarkt. Das G8 will man zwar offiziell nicht abschaffen, aber man geht wieder einen Schritt zurück und bietet zusätzlich die “Mittelstufe plus” an. Diese dauert solange wie das alte G9, heißt aber nicht mehr so.

  8. @Mona, danke für den Link zur Diskussion Nida-Rümelins Thesen. Ich werde erst sein Buch fertiglesen und mir dann diese Argumente anschauen.

    Ihr Argument mit dem internationalen Wettbewerb überzeugt mich aber gar nicht. Wenn es der deutschen Volkswirtschaft mit ihrer Berufsausbildung gut ging, warum brauchen wir dann eine OECD-Vorschrift, die uns zur Erhöhung der Studienabschlüsse zwingt?

    Das halte ich gerade für ein anschauliches Beispiel dafür, wie Ranglisten das Denken der Menschen beeinflussen: Da heißt es, Deutschland sei irgendwo nicht in der Top Ten, und sofort müsse gehandelt werden.

    Vergessen Sie nicht, dass die OECD uns auch PISA eingebrockt hat. Mein prinzipieller Einwand ist, dass Kriterien, die nicht im Voraus mit den verschiedenen Interessengruppen abgesprochen sind, nicht zählen. Wofür leben wir in einer Demokratie?

  9. (Hinweis: Der Autor stellte sich zu Schulzeiten sein eigenes G10 zusammen.)

    Klingt ein wenig nach “Sitzenbleiben”.

    Ansonsten, die Schule soll die Mathematik und die Sprache im Grundsatz vermitteln, auch ein wenig die Herrschaftsform Demokratie und im Kulturellen, auch im gewesenen Kulturellen, informieren, aber damit hat es sich schon.

    Der Schreiber dieser Zeilen kann sich ansonsten nicht vorstellen, dass an Schulen weitergehend ernsthaft gelernt werden kann; wobei “Sitzenbleiben” hier und in diesem Zusammenhang, von einem geschätzten Inhaltegeber angedeutet, eher auf besonderes Niveau schließen lässt.

    MFG
    Dr. W

  10. Nida-Rümelin hat auf das von Ihnen und den meisten vorgebrachte Argument, der Trend gehe doch zum Studium für alle geantwortet, ob den Deutschland auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit wolle, die in den Staaten mit hohem Akademikeranteil jetzt durchs Band zu beobachten sei. Plakativ formuliert: Soll Deutschland es auch unter die Top Ten bei der Jugendarbeitslosigkeit schaffen, indem es immer mehr Leute in die Wirtschaft entlässt, die in einem Alter von 25 bis 30 Jahren zuerst einmal gar nichts können ausser Theorie

  11. @Mona, 29. April 2015 10:40: Geringe Qualifizierung und völlig fehlende Ausbildung ist ohne Zweifel schlecht, da sind wir uns einig.
    Die Frage ist aber ob der Weg zur Qualifizierung allein über ein Universitätsstudium gehen kann. Gerade Deutschland hat ja mit seinem dualen Ausbildungssystem vorgemacht, dass Qualifizierung auch ohne Studium möglich ist.

  12. @Mona, 29. April 2015 10:40: Frankreich steckt in der Akademisierungsfalle liest man im verlinkten Zeitungsartikel:

    In Frankreich fehlt es nicht an Kapital, nicht an Nachfrage und auch nicht an Ingenieuren. Es gibt dort mehr akademisch ausgebildete Ingenieure und Naturwissenschaftler als in der Schweiz und in Deutschland. Aber es gibt zuwenig qualifizierte Berufsfachleute, die Innovationen mit praktischer Intelligenz rasch und präzis umsetzen können. Frankreich hat keine duale Berufslehre, wie man sie in den deutschsprachigen Ländern mit Erfolg pflegt. Frankreich steckt in der Akademisierungsfalle.

  13. @Stephan Schleim:
    Sie schreiben: “Ihr Argument mit dem internationalen Wettbewerb überzeugt mich aber gar nicht. Wenn es der deutschen Volkswirtschaft mit ihrer Berufsausbildung gut ging, warum brauchen wir dann eine OECD-Vorschrift, die uns zur Erhöhung der Studienabschlüsse zwingt?”

    In einer globalisierten Welt kann man sich leider nicht vom Wettbewerb abkoppeln – auch wenn man das möchte. Es geht ja nicht nur um die Ranglisten, sondern um die praktischen Konsequenzen daraus.

    In Bayern gibt es beispielsweise noch das dreigliedrige Schulsystem, das oft ziemlich restriktiv gehandhabt wird, d.h. nach der Grundschule soll ein Drittel der Kinder auf die Hauptschule (heißt jetzt Mittelschule), ein Drittel auf die Realschule und ein Drittel aufs Gymnasium gehen. Aufgrund der unterschiedlichen Schulsysteme haben manche Kinder bereits innerhalb Deutschlands einen Wettbewerbsnachteil. Die Länder halten jedoch an der Kulturhoheit fest und sperren sich gegen ein einheitliches Schulsystem – obwohl wir meines Erachtens damit besser fahren würden.
    Siehe dazu auch: https://www.zv.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/Service/statistiken/3_Studierende_nach_Bundesland_des_Erwerbs_der_HZB.pdf

    Des Weiteren schreiben Sie: “Mein prinzipieller Einwand ist, dass Kriterien, die nicht im Voraus mit den verschiedenen Interessengruppen abgesprochen sind, nicht zählen. Wofür leben wir in einer Demokratie?”

    Sagen Sie es mir! Im Gegensatz zur Schweiz haben wir keine direkte Demokratie, sondern eine repräsentative, d.h. indirekte Demokratie mit einer sehr starken Stellung der großen Parteien. Über unmittelbare Entscheidungsbefugnisse verfügen nur die Volksvertretungen. Die Volksvertreter im Parlament werden zwar gewählt, sie entscheiden jedoch eigenverantwortlich. Unser Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, wird jedoch nicht von den Bürgern, sondern von der Bundesversammlung gewählt. Aber das wissen Sie doch sicher selbst! 🙂

    Interessant ist, was der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim dazu schreibt:
    “Jeder Deutsche hat die Freiheit, Gesetzen zu gehorchen, denen er niemals zugestimmt hat; er darf die Erhabenheit des Grundgesetzes bewundern, dessen Geltung er nie legitimiert hat; er ist frei, Politikern zu huldigen, die kein Bürger je gewählt hat, und sie üppig zu versorgen – mit seinen Steuergeldern, über deren Verwendung er niemals befragt wurde. Insgesamt sind Staat und Politik in einem Zustand, von dem nur noch Berufsoptimisten oder Heuchler behaupten können, er sei aus dem Willen der Bürger hervorgegangen.”

  14. @Mona, 29. April 2015 10:40: Die Akademisierungsfalle, in der viele europäische Länder – bis jetzt aber Deutschland nicht – stecken hat indirekt für Deutschland positive Auswirkungen. Denn zunehmend finden Ingenieure in europäischen Ländern nicht mehr genug Stellen, weil ihre Industrie zuwenig kompetitiv ist. Diese Ingenieure finden aber in Deutschland eine Stelle.
    Auch ein französicher Ingenieur kann in Deutschland gute Arbeit leisten. Besser in Deutschland als in Frankreich, weil es in Deutschland den Mix an Arbeitskräften gibt, der eine gutes, schlagkräftiges Team ergibt, während es durch die Akademisierung in gewissen Länder plötzlich nur noch Stürmer (um mit dem Fussball zu vergleichen) aber keine Verteidiger mehr gibt.

  15. @Mona

    In einer globalisierten Welt kann man sich leider nicht vom Wettbewerb abkoppeln – auch wenn man das möchte. Es geht ja nicht nur um die Ranglisten, sondern um die praktischen Konsequenzen daraus.

    Ja – aber wohin sich “der Wettbewerb” entwickelt, das wissen wir erst hinterher. Wie viele Trends erweisen sich als Nullnummer?

    Mir geht es um den Unterschied zwischen dem Mitlaufen und dem Definieren eigener Regeln. Damit wären wir auch beim zweiten Punkt:

    Natürlich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die BRD eine repräsentative Demokratie ist und allein der Bundestag Gesetze verabschiedet. Das heißt aber nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger das Maul halten und widerstandslos alles hinnehmen müssen, was irgendwer entscheidet.

    Im Übrigen sind die PISA-Kriterien oder auch die Rankings keine Gesetze. Viele würden sich wundern, wenn sie wüssten, von wem und wie willkürlich diese weitreichenden Entscheidungen getroffen wurden.

    In meinem Arbeitsvertrag stehen auch Dinge, die ich nicht gut finde (Stichwort: Tenure-Track-Kriterien). Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich meine Arbeitsstelle riskiere, wenn ich diese Regeln ignoriere. Dennoch kann ich meinen Unmut darüber äußern und zum Beispiel einen Alternativvorschlag machen.

    Wenn die Entscheider diesen ignorieren, dann steht es mir frei, das zu schlucken oder auf andere Weise weiter zu versuchen. Wichtig ist: Es gibt immer Alternativen. Vor allem zum Mitläufertum.

  16. @Stephan Schleim:
    “Mir geht es um den Unterschied zwischen dem Mitlaufen und dem Definieren eigener Regeln.”

    In beinahe allen Schularten wurde die Allgemeinbildung, zugunsten von Kenntnissen, die die Arbeitgeber für relevant halten, zurückgefahren. Im G8 beschränkt sich beispielsweise der Geschichtsunterricht auf ein Niveau, das nicht mal dem der früheren Hauptschule entspricht. Laut einer bundesweiten Umfrage mit 7500 Schülern können dann auch viele Schüler nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden. Vielleicht reichen diese Kenntnisse ja zum “Mitlaufen”, aber mit dem “Definieren eigener Regeln” dürfte es schwierig werden.
    http://www.derwesten.de/politik/nrw-schueler-koennen-nicht-zwischen-demokratie-und-diktatur-unterscheiden-id6814896.html

  17. @Mona, das Definieren eigener Regeln ist nicht so schwer. Man braucht dafür auch keinen Gymnasialabschluss, geschweige denn ein Studium.

    Anleitung zum Regeldefinieren:

    1. Regel definieren.
    2. Dafür sorgen, dass sie eingehalten wird.
    (Idealerweise jemanden finden, der 2. für einen erledigt. So funktioniert unsere gesamte Bürokratie.)

  18. @Stephan Schleim:
    Praktischerweise kann man diese Anleitung für jedes x-beliebige Gesellschaftssystem verwenden ohne es hinterfragen zu müssen. 🙂

  19. @Mona, das Hinterfragen kann man selbst als Regel definieren; manche nennen das Bildung und die Orte, an denen dafür gesorgt wird, dass sie eingehalten wird, (Hoch)Schule.

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