Forschungsskandal: Deutsche Forschungsgemeinschaft und Niels Birbaumer schließen Vergleich
Der 2019 wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens geschasste Tübinger Hirnforscher zog vor Gericht. Jetzt erzielte er einen Durchbruch bei “Gehirnschreibmaschinen” für Gelähmte. Ist er damit rehabilitiert?
In der deutschen Hirnforschung ist “Niels Birbaumer” ein schillernder Name: Nachdem er bereits 1975 an der Universität Tübingen zum Professor ernannt wurde, übernahm er dort schließlich von 1993 bis 2013 die Leitung der Medizinischen Psychologie. Danach arbeitete er als Seniorprofessor weiter.
Am bekanntesten wurde Birbaumer mit seiner bahnbrechenden Forschung mit gelähmten Patienten. Bei einer fortschreitenden Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) sterben immer mehr motorische Nervenzellen ab.
Die Betroffenen sind irgendwann an den Rollstuhl gefesselt, können im Endstadium vielleicht nur noch die Augen bewegen und sind schließlich vollständig eingeschlossen, “locked-in”. Daher spricht man auch vom “Locked-In Syndrom” (LIS). Der britische Physiker Stephan Hawking (1942-2018) war hierfür ein bekanntes Beispiel.
Erste “Gehirnschreibmaschinen”
Niels Birbaumer gelang hier schon Ende der 1990er ein Durchbruch: Die Fachzeitschrift Nature veröffentlichte damals seine Entwicklung eines “Buchstabiergeräts für die Paralysierten“. Mithilfe der Elektroenzephalographie (EEG) wurden Hirnströme von Patienten so ausgewertet, dass sie weiterhin mit der Außenwelt kommunizieren konnten.
Das Verfahren war gewissermaßen eine “Gehirnschreibmaschine”. Geläufiger spricht man von Gehirn-Computer-Schnittstellen (“Brain-Computer-Interfaces”, BCI).
Leider funktioniert das aber nicht so, dass ein Computer die zu sprechenden Wörter direkt im Gehirn erkennt. Das wäre sehr komfortabel und dann wohl echtes “Gedankenlesen”.
Stattdessen lernen die Versuchspersonen, mitunter über Wochen und Monate hinweg, bestimmte Muster der Gehirnaktivität zu erzeugen. Dafür stellen sie sich beispielsweise Bewegungen – etwa linke Hand oder rechte Hand – vor. Die damit einhergehenden Reaktionen im motorischen Kortex können unter günstigen Umständen dann als ja/nein- oder links/rechts-Signal ausgewertet werden.
Dass das aber auch Jahrzehnte später sowohl für die Patienten als auch die technische Umsetzung eine Herausforderung ist, beschrieb ich erst vor Kurzem (Gehirn-Computer-Schnittstellen und der (Alb-)Traum vom Gedankenlesen). Bei dem konkreten Aufbau von Forschern an der Universitätsklinik Utrecht gelang es der Patientin, mithilfe der “Gehirnschreibmaschine” in etwa ein Zeichen pro Minute zu “tippen”.
Zwar ließ sich mit der Verwendung eines Algorithmus zur Wortvorhersage, wie wir sie von Smartphones kennen, die Geschwindigkeit in etwa verdoppeln. Doch selbst dann muss man sich die Kommunikation mit der Außenwelt immer noch als mühsam vorstellen.
Zudem musste auch diese ALS-Patientin für diesen “Erfolg” monatelang üben. Mit ihrem älteren System, das mit einer Kamera Augenbewegungen aufzeichnet, war sie viel schneller. Das funktionierte aber nicht unter allen Lichtverhältnissen, beispielsweise in der prallen Sonne. Und was, wenn die Krankheit schließlich auch die Augen lähmt?
Relevante Forschung
Hier kann und muss man auch eine Lanze für die Forschung brechen, an der sich Wissenschaftler wie Niels Birbaumer beteiligen. Diese erzeugt nämlich nicht nur bunte Bildchen mit dem Hirnscanner, die die Fachzeitschriften und manchmal auch die Feuilletons füllen. Nein, solche Versuche haben große Auswirkungen auf die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten.
Aber auch hier gibt es, wie so oft, eine “Dual Use” Problematik: Was für die Patienten ein Notnagel ist, verunsichert andere Bürgerinnen und Bürger. So hatte man schon in den 1950ern bis 1970ern, in der Zeit des Kalten Kriegs, Angst vor Gedankenkontrolle durch die Regierung – oder den Feind.
Zwar war (und meiner Meinung nach: ist) das mit Blick auf die technischen Möglichkeiten Science-Fiction. Tatsache ist aber, dass beispielsweise der spanische Hirnforscher José M. R. Delgado (1915-2011) hierzu an renommierten US-Institutionen forschte. In der Öffentlichkeit verbreitete der “Hirforscher mit dem ferngesteuerten Stier” gar die Idee einer neurowissenschaftlich bedingten “psychozivilisierten Gesellschaft” als Utopie.
Jahrzehnte später sind bekanntermaßen Tech-Milliardäre wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg an Gehirnschnittstellen interessiert. Dass man hier echtem Gedankenlesen näher gekommen wäre, ist mir aber nicht bekannt.
Gute wissenschaftliche Praxis
Neben Forschungsfragen und Utopien gibt es natürlich auch Standards für gute wissenschaftliche Praxis. Und mit denen ist der Tübinger Professor Birbaumer vor ein Paar Jahren in Konflikt geraten.
Konkret ging es um eine 2017 in der angesehenen Fachzeitschrift PLOS Biology erschienene Arbeit, in der Birbaumer der nächste große Durchbruch gelungen schien: Zum ersten Mal soll die “Gehirnschreibmaschine” bei einem Patienten gelungen sein, der vollständig eingeschlossen war (“Completely Locked-In State”, CLIS).
Alles schien perfekt, die ohnehin schon beeindruckende Karriere des Professors mit noch einem Stern versehen. Wenn da nicht ein junger Informatiker und Neurowissenschaftler im eigenen Hause gewesen wäre, der sich die Daten genauer angeschaut hätte. Und darüber beharrlich kritische Fragen stellte.
Aus den kritischen Fragen wurde schließlich ein Forschungsskandal, über den Anfang 2019 die Medien berichteten (FAZ, Süddeutsche, ZEIT…). Auch ich schrieb hier auf MENSCHEN-BILDER einen Artikel und wunderte mich darüber, dass kein Hirnforscher oder Neuropsychologe den Fall in der Öffentlichkeit kommentieren wollte, jedenfalls nicht namentlich.
Die Journalisten, die die komplexen statistischen Fragen natürlich nicht selbst beantworten konnten, mussten darum schließlich eine Statistikerin aus der freien Wirtschaft einschalten. Diese fand, ebenso wie später eine Kommission der Universität Tübingen und schließlich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die Birbaumers Forschung jahrelang finanziert hat, Fehler.
Harte Konsequenzen
Eine Pressemitteilung der Universität vom 6. Juni 2019 sprach dann auch wörtlich von “wissenschaftlichem Fehlverhalten“. So würden Daten fehlen, seien von den Forschern Daten selektiv ausgewertet worden und fehlten auch weitere Informationen zum Nachvollziehen der Studie.
Etwas später, am 19. September 2019, berichtete die DFG ebenfalls über “wissenschaftliches Fehlverhalten“. Birbaumer wurde von ihr für fünf Jahre von der Antragsstellung und Begutachtung von DFG-Projekten ausgeschlossen. Das Verhängen solcher Strafen ist in der Forschungswelt sehr ungewöhnlich.
Die strittige Arbeit in der Fachzeitschrift wurde erst am 25. April und 12. Dezember 2018 mit Korrekturen versehen. Am 16. Oktober 2019 folgte ein Warnhinweis. Am 16. Dezember des Jahres zogen die Herausgeber die Arbeit dann mit Verweisen auf die Untersuchungen der Universität Tübingen und der DFG vollständig zurück.
Der Ruf des Hirnforschers war damit stark beschädigt. Wiederholt wurde auch sein harsches Auftreten gegenüber den Medien und Untersuchungsgremien thematisiert. Birbaumer kritisierte seinerseits die Arbeit der Untersuchungsgremien und beharrte darauf, alle Vorwürfe zu widerlegen.
Gleichzeitig stellte er sich als große Hoffnung für die ALS-Patienten dar. Auf einer eigenen Website “Kommunikation für ALS: Falsche Anschuldigungen” heißt es, Birbaumer und dem Erstautor der Studie, Ujwal Chaudhary, sei Ungerechtigkeit widerfahren.
Rechtsstreit und Vergleich
Birbaumer wehrte sich schließlich auch gerichtlich, nämlich am Landgericht Bonn, wo die DFG – ein eingetragener Verein – ihren Sitz hat. Dort einigte man sich nun am gestrigen 5. April auf einen Vergleich: Die Institution schreibt, dass damit “eine frühere Entscheidung des Hauptausschusses der DFG gegen Birbaumer wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens in großen Teilen Bestand” hat.
Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Überraschenderweise gelang Birbaumer nämlich parallel zum Gerichtsverfahren ein wissenschaftlicher Erfolg: Wie Nature Communications erst am 23. März 2022 berichtete, hätten Chaudhary, Birbaumer und andere Wissenschaftler die Gehirnschreibmaschine nun bei einem vollständig eingeschlossenen Menschen umgesetzt.
Dafür waren dem ALS-Patienten Elektroden ins Gehirn implantiert worden. So kann man Signale besser aufzeichnen als mit einem störungsanfälligen EEG-System auf der Kopfhaut.
Die DFG wundert sich darüber, wie Birbaumer und manche Medien diese wissenschaftliche Veröffentlichung darstellen. In der Pressemitteilung vom 5. April heißt es:
“Die nun in ‘nature communications’ veröffentlichte Studie Birbaumers wurde unmittelbar Gegenstand umfangreicher fachwissenschaftlicher wie auch öffentlicher medialer Berichterstattung und Kommentierung. In dieser wurde die neue Arbeit teilweise in direkten Bezug zu den gegen Birbaumer ausgesprochenen Maßnahmen gestellt und als ‘Rehabilitierung’ gewertet.”
DFG-Pressemitteilung vom 5. April 2022
Gegenüber einem biomedizinischen Online-Medium habe Birbaumer sogar gesagt, er habe damit den Fall gewonnen und die Maßnahmen gegen ihn müssten aufgehoben werden. Darauf reagiert die DFG, dass “diese Äußerung in mehrfacher Hinsicht nicht den Tatsachen entspricht”.
Mediale Unterstützung
Unterstützung erhielt Birbaumer jedoch in der FAZ – und zwar in einem Kommentar, der sofort am 22. März veröffentlicht wurde, also am selben Tag wie die neue Studie. Darin heißt es, “Niels Birbaumer wurde zu unrecht verdächtigt. Seine neue Studie ist ein Meilenstein.”
Differenzierter sieht das allerdings ZEIT Online am 4. April, wo man den Fall noch einmal in seiner Gesamtheit Revue passieren ließ. Leider verbergen sich die Artikel hinter Bezahlschranken.
Tatsächlich werden hier unterschiedliche Fragen vermischt: Erstens, gab es bei der Studie in PLOS Biology aus dem Jahr 2017 wissenschaftliches Fehlverhalten? Zweitens, funktionieren “Gehirnschreibmaschinen” bei vollständig eingeschlossenen Patienten?
Und diese Vermischung ist ganz im Sinne Birbaumers: Die Kritik des Informatikers, den Kampf in den Medien und schließlich wissenschaftlichen Gremien 2019 hat er verloren. Auch mit dem Vergleich bleibt die DFG in diesem Sinne eindeutig – und dürfte daher auch die ursprüngliche Publikation zurückgezogen bleiben.
Entscheidend ist hierfür ein Absatz aus dem Vergleich, auf den sich die Institution und Birbaumer nun geeinigt haben:
“Zwischen der DFG und Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Birbaumer besteht dabei Einigkeit, dass das konkrete Verfahren der DFG wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens gegen Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Birbaumer auf Basis der Verfahrensordnung der DFG zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten ordnungsgemäß und entsprechend den Verfahrensvorschriften durchgeführt wurde.”
DFG-Pressemitteilung vom 5. April 2022
Damit räumt auch Birbaumer ein, dass ihm, jedenfalls gemäß den DFG-Kriterien, Fehlverhalten nachgewiesen wurde. Der Erfolg in der wissenschaftlichen Frage nach der Möglichkeit solcher “Gehirnschreibmaschinen” ändert daran nichts.
Die DFG und wohl auch das Landgericht Bonn dürften sich freuen, dass damit der Rechtsstreit beigelegt ist. Denn auch Richterinnen und Richter sind nicht dafür ausgebildet, komplexe statistische Fachfragen zu beantworten. Juristisch bliebe dann ein langwieriger wie kostspieliger Streit zwischen Gutachten und Gegengutachten, der sich auch noch durch die Instanzen ziehen könnte.
Probleme in der Wissenschaft
Das ganze Verfahren wirft aber auch ein fragliches Licht auf die Forschung und ihren Umgang mit Problemen: Den Medienberichten zufolge ging es dem jungen Informatiker und Neurowissenschaftler anfangs um ein genaues Verständnis des wissenschaftlichen Verfahrens. Als er auf Probleme hinwies, habe man ihn im Umfeld Birbaumers ausgegrenzt.
So eskalierte die Sache überhaupt erst. Wenn Birbaumer eine gewisse Schludrigkeit bei der Erhebung der Daten eingeräumt hätte, wäre das Urteil gegen ihn – sowohl in den Medien als auch von den Institutionen – wahrscheinlich milder ausgefallen. Der Hirnforscher, der sich in dem kurzen Vergleich ganze fünfmal als “Professor Dr. Dr. h.c. mult.” titulieren lässt, hielt an seiner Unschuld fest und warf den Gremien Fehler vor.
Ein Teilerfolg ist für ihn nun, dass die DFG die Strafmaßnahmen schon zum 1. Januar 2023 auslaufen lässt, also vor Ende der fünf Jahre. Die Vermischung der formalen und wissenschaftlichen Fragen arbeitet für ihn – und wie der Kommentar in der FAZ zeigt, geht sie mancherorts auf. Den formalen Streit konnte er nicht gewinnen, den wissenschaftlichen schon.
Problematisch ist auch der damalige Umgang mit dem jungen Informatiker. Seinen Publikationen zufolge stand ihm eine blendende Karriere in den Neurowissenschaften bevor. Zur Zeit des Skandals war er Postdoktorand an der Universität Tübingen und betreute dort auch einige Doktoranden. Aus seinem Umfeld erfuhr ich damals, dass die Geschehnisse einige Nachwuchswissenschaftler “sehr verunsichert” haben.
Der “Whistleblower” musste nämlich die Universität verlassen. Sein Vertrag lief schlicht aus und wurde nicht verlängert. Das ist der “Vorteil” befristeter Stellen, dass sich im Streitfall lästige Kündigungsklagen erübrigen. Heute arbeitet er laut eigenen Angaben bei einem lebenswissenschaftlichen Unternehmen in der freien Wirtschaft.
Soll man so in der Wissenschaft mit Leuten umgehen, die kritische Fragen stellen? In der DFG-Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis heißt es, dass Zweifel an den Ergebnissen zu guter Forschung dazugehören:
“Zu den Prinzipien gehört es insbesondere, lege artis zu arbeiten, strikte Ehrlichkeit im Hinblick auf die eigenen und die Beiträge Dritter zu wahren, alle Ergebnisse konsequent selbst anzuzweifeln sowie einen kritischen Diskurs in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zuzulassen und zu fördern.”
DFG: Gute wissenschaftliche Praxis, Fassung vom September 2019
Das ist mehr als nur ein Lippenbekenntnis. Einrichtungen, die bei der DFG Mittel beantragen, verpflichten sich zur Einhaltung der Leitlinien für gute wissenschaftliche Praxis. Damit dürften diese für so gut wie alle Fachhochschulen, Universitäten und Forschungsinstitute Deutschlands gelten.
Milliarden vom Steuerzahler
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhält Jahr für Jahr über 3 Milliarden Euro vom Steuerzahler zur Verteilung an Wissenschaftler aller Disziplinen. Den kritischen Nachwuchsforscher mit einem kleinen Projekt an einer anderen Institution aufzufangen, wäre für sie kein Problem gewesen – vor allem wenn man weiß, wie wenig junge Wissenschaftler in Deutschland verdienen.
So könnte man ein Zeichen dafür setzen, dass gute wissenschaftliche Praxis und Zweifel mehr sind als hehre doch leere Worte. Damit hätte man auch ein deutliches Zeichen für den wissenschaftlichen Nachwuchs gesetzt.
Natürlich wiegt in einem hierarchischen System das Schicksal eines unbekannten Informatikers weniger als das Wort eines “Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult.” Letzteres steht übrigens für mehrere erhaltene Ehrendoktorwürden (Lateinisch: doctor honoris causa). Aber was wäre in diesem Fall wohl eine Frage der Ehre?
P.S. Im deutschen Sprachraum besteht ein Personenname aus Vor- und Nachnamen. Dass man sich hier akademische Doktorgrade in Ausweise eintragen lassen kann, führt wohl dazu, dass manche die Bedeutung einer Person daran festmachen, was alles vor ihrem Namen steht. Aber immerhin arbeiten Politiker mit Plagiaten hart daran, die öffentliche Wahrnehmung von Doktoren zu verändern.
Hinweis: Dieser Beitrag erscheint auch auf Telepolis.
Vom Prinzip her ist das ja alles sehr interessant: Gehirnströme sind lt. der Hebbschen Regel angelegte “Autobahnen” im Gehirn, was man dann zu Mustern zusammenstellen kann die Wörter/Sätze (Gedanken) ergeben könnten. Diese Muster wären allerdings bei jedem Menschen anders ,müssten also “gelernt” werden .So wäre wahrscheinlich der Torschrei im Stadion der Fangemeinde
ein einheitliches Muster in allen Gehirnen. Man könnte also nur “Gedanken lesen”
wenn man die Muster ,also die jeweilige Gehirnaktivität (Gehirnströme) , codiert hat. Jeder “Gehirnstrom” sozusagen ein Trampelpfad, Bundesstraße oder eine Autobahn im Gehirn incl. der Wegweiser .Vielleicht könnte es in absehbarer Zeit entsprechende Technik geben die Gehirnströme in erforderliche Informationen (Code) umsetzt ,was dann auch kriminell genutzt werden kann.
@Golzower: Gedankenlesen
Wichtig scheint mir die Feststellung, dass so ein System bis auf Weiteres ans jeweilige Individuum angepasst wird bzw. werden muss.
Aber ja – wenn wir davon ausgehen, dass unsere Gedanken in einem starken Sinne auf neuronalen Prozessen basieren, dann müsste echtes Gedankenlesen zumindest prinzipiell möglich sein.
Wenn man den “neuronalen Code” knackt, metaphorisch gesprochen, sollte das dann theoretisch auch auf alle Personen übertragbar sein.*
* metaphorisch, weil wir nicht vergessen sollten, dass auch Begriffe wie “Code” oder “Information” unterschiedliche Bedeutungen haben können
Im Artikel Brain Implant Allows Locked-In Man to Translate Thoughts Into Written Sentences kommt Niels Birbaumer als Erfinder/Entwickler einer „Gehirnschreibmaschine“ für einen ALS-Patienten vor, die tatsächlich funktioniere, die aber individuell angepasst werden müsse und mit Kosten von über 500‘000 Dollar pro Patient über 2 Jahren verbunden sei. Dort liest man:
[Gekürzt. Man sollte nicht viele Absätze von einer anderen Seite kopieren. Das wird wahrscheinlich nicht mehr von der Zitationsklausel des Urheberrechts gedeckt. Mit Bitte um Verständnis, S. Schleim]
Fazit: Die Beschreibung des von Nils Birbaumer angewandten Verfahrens im Artikel Brain Implant Allows Locked-In Man to Translate Thoughts Into Written Sentences um einem ALS-Patienten im fortgeschrittenen Stadium eine Kommunikation über eine Kombination von Elektroden im Motorkortex und ein Neurofeedback-Verfahren zu ermöglichen muss tatsächlich als höchst experimentell und höchst individuell eingestuft werden und kann keinesfalls als klinisches Standardverfahren eingestuft werden.
Für Aussenstehende ist es schwierig festzustellen, inwieweit überhaupt etwas Neues erreicht wurde. Es hapert wohl schon an der Reproduzierbarkeit.
Brain Computer Schnittstellen in einer Kombination mit der Datenauswertung durch eine künstliche Intelligenz scheinen für viele Patienten mit fortgeschrittenen Lähmungen sehr vielversprechend zu sein und Nils Birbaumers Forschungen und Anwendungen sind nur eine von vielen.
Eine Übersicht über die verschiedenen Herangehensweisen findet man in The combination of brain-computer interfaces and artificial intelligence: applications and challenges.
Es scheint sowohl smarte motorische als auch sensorische BCI-Schnittstellen zu geben und sowohl invasive als auch nicht-Invasive (z.B. EEG). Verbleibende Schwierigkeiten sind die langen Trainingszeiten, (fehlende) Echtzeit-Rückmeldungen und die Überwachung von BCIs. Insgesamt muss nach von einer präklinischen Phase der Entwicklung von BCIs sprechen, was bedeutet, dass die wenigsten Patienten heute eine BCI erhalten. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz verspricht nun aber, die Daten besser interpretieren zu können. Eines der Probleme ist es das echte Signal vom Rauschen, von Hintergrundsignale zu unterscheiden, ein weiteres die individuellen Unterschiede in den Signalen richtig zu interpretieren.
Im Artikel werden folgende Anwendungen besprochen:
– Bildschirm Cursor Control über eine Hirn-Computerschnittstelle, Selektion einer Cursorstelle und Auslösen eines Mausklicks, was zu einer Tippgeschwindigkeit von bis zu 32 Buchstaben in der Minute führte
-Neuroprosthetik welche Greifbewegungen und das selber Trinken etwa von Kaffe ermöglichte
– Taktiles Feedback, also Vermitteln von Berührungsempfindungen. Hier fehlt teilweise noch die nötige Präzision in der Stimulation der „richtigen“ Nervenzellen
– als kochleares Implantat, also Innenohrersatz. Das ist schon länger im praktischen Einsatz.
– als Sprechsynthesizer
– als visuelle Prothese, wobei Lichtsignale in elektrische umgewandelt werden und diese an die „richtigen“ Sehnerven weitergeleitet werden
In der Diskussion werden folgende Probleme besprochen:
Fazit: Hirn-Computerschnittstellen sind vielversprechend aber immer noch ein „work in progress“ und damit in der präklinischen Phase.
Je näher man den motorischen Regionen kommt, umso klarer ist, was der Patient machen will.
Der kortikale Homunkulus im motorischen Kortex könnte zur Bedienung einer Tastatur genutzt werden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Homunkulus#Homunkulus_in_der_Neuroanatomie
@Karl Bednarik: ja, der Homunkulus, also die Abbildung der Körperregionen/Muskeln auf den Motorkortex wird benutzt um zu erkennen, welche Muskeln angesteuert werden sollen. Doch gemäss Improving Motor Imagery-Based Brain-Computer Interface Performance Based on Sensory Stimulation Training: An Approach Focused on Poorly Performing Users gibt es gute und schlechte Performers. Bei schlechten Performers gelingt es nur schlecht aus den abgeleiteten EEG-Hirnströmen herauszufinden, welche Muskeln sie aktivieren wollen. Im verlinkten Artikel wird deshalb versucht, nicht nur die Motorkortex-Aktivierungen (MI) zu „lesen“, sondern zusätzlich die somatosensorischen (SMI) um die Performance zu verbessern. Dazu liest man im Artikel:
Ich dachte an die Nahinfrarotspektroskopie:
Bei Messungen der Hirnaktivität werden dynamische Änderungen des Sauerstoffgehaltes des Blutes durch die Schädeldecke hindurch gemessen. Hieraus können aufgrund des Prinzips der neurovaskulären Kopplung Rückschlüsse auf umschriebene Aktivierungen in der Großhirnrinde abgeleitet werden. Mit diesem Verfahren lässt sich auch ein optisches Brain-Computer Interface realisieren. Das nahinfrarote Spektrum des Lichtes wird verwendet, weil zwischen 650 nm und 1000 nm das Licht besonders gut das Gewebe durchdringt und somit eine Analyse von tieferen Gewebeschichten ermöglicht wird.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nahinfrarotspektroskopie#Anwendung
@Karl Bednarik (Zitat):“ Mit diesem Verfahren lässt sich auch ein optisches Brain-Computer Interface realisieren.“
Ja, scheinbar ist es heute aber dem EEG noch unterlegen. Siehe dazu Brain-computer interface using a simplified functional near-infrared spectroscopy system wo man liest:
@Golzower,
was Sie beschreiben betrifft die anatomische Zellebene. Das bedeutet dass Sie sich auf die einzelnen Axone und Dendriten beziehen, jene die Verbindungen zwischen Neuronen herstellen. Diese Verbindungen werden durch das EEG aber nicht gemessen, auch nicht wenn man die räumliche Auflösung des EEG weiter verbessert.
Das EEG misst die elektrische Dipole basierend auf postsynaptischen Potentialen. Damit diese Dipole entsteht müssen erstens sehr viele Neurone parallel zueinander positioniert sein (ein paar andere Ausrichtungen zueinander sind auch möglich) und zweitens müssen die postsynaptischen Potentiale zeitlich synchron vorliegen. Wenn Neurone entgegengesetzt ausgerichtet sind gleicht sich auch das elektrische Potential aus. Das EEG kann dann nichts messen, obwohl weiterhin Signale ein- und ausgehen.
Was also gemessen wird ist eine gleichzeitige Modulation der Zellmembran sehr vieler Neurone die in bestimmten räumlichen Konfigurationen zueinander ausgerichtet sind. Dabei fängt das EEG primär Aktivität von der Gyri Oberfläche ab; die räumliche Präzision der Messung ist dazu sehr ungenau. Umgekehrt misst MEG primär die Aktivität in den Sulci (Furchen) der Gehirnoberfläche.
Daher sind “Gehirnströme” auf der Ebene die Sie beschreiben (also auf den Landstraßen und Autobahnen des Gehirns) bis heute nicht messbar.
Ein Gerät dass die Aktionspotentiale misst existiert noch nicht. Ich habe vor einiger Zeit von einer Professorin für Elektrophysiologie aber gehört dass ein solches Gerät, also zur Messung der Aktionspotentiale, in der Entwicklung sei. Details sind mir nicht bekannt
@Bednarik: Homunkulus
Aufgrund dieser “Arbeitsteilung” im motorischen Kortex arbeitet man hier ja oft mit der Vorstellung von Bewegungen, bei denen sich in den entsprechenden Regionen dann Unterschiede messen lassen.
Dass man die Signale für die Tastendrücke auch früher aufzeichnen könnte, bei den Nervenbahnen oder bestimmten Netzwerken von Neuronen im Gehirn, scheint mir vom Prinzip her keine andere Sache zu sein, sondern vor allem eine technische Herausforderung.
Das funktioniert aber leider nicht unter allen Bedingungen und auch nicht bei allen Personen. Bei dem neuen Versuch hat man Elektroden direkt ins Gehirn implantiert; bei der vorherigen Patientin, auf die ich im Text verwies, wurden Elektroden direkt auf die Hirnhaut gelegt.
@Bednarik: Nahinfrarotspektroskopie
Die funktioniert offenbar bei dunkelhäutigen Menschen schlechter. Zufällig gab es dazu gerade heute eine Veröffentlichung in Nature Neuroscience unter dem Stichwort “Rassismus gegen Farbige in der Hirnforschung“.
Dazu ein anderes Mal vielleicht mehr.
@Philipp: Aktionspotentiale
Sie meinen ein nicht-invasives Verfahren? Denn ich dachte hier an Zellableitungen mit implantierten Elektroden.
Aber dann musst man eben Aktionspotentiale. Und dann? Das wäre mal eine Frage für einen guten Neurophilosophen.
@Stephan Schleim:
Ihre Ergänzung ist korrekt; ich bezog mich auf nicht-invasive Verfahren. Natürlich besteht die Möglichkeit ein einzelnes Neuron aus entnommenen Gewebe beispielsweise via Patch clamp anzustechen und zu messen. Ein anderes Beispiel sind die von Ihnen angesprochenen Elektroden.
Elektroden lassen sich z.B. extrazelluär einsetzen, d.h. zwischen vielen Neuronen positioniert. Da Neurone mitunter eigene Feuercharakteristiken aufweisen, lassen sich die von vielen Neuronen aufgezeichnenten Signale im Umkreis der Elektrode nachträglich sortieren. Neurone und deren Aktivität werden damit indirekt identifizierbar. Man spricht dann vom “Spike sorting”. http://www.scholarpedia.org/article/Spike_sorting
Es existieren mittlerweile Elektroden mit extrem vielen Aufnahmestellen. Ein Problem ist allerdings dass die Softwareanalyse, d.h. gute Methoden um die Daten auch ordentlich auszuwerten, nicht hinterkommt.
Zu Philipp:
Bleiben wir bei der anatomischen Zellebene. Lassen sie Klienten zum Bsp. das Alphabet aufsagen und Wörter bilden und beobachten sie mit entsprechender Technik die blitzartigen Verzweigungen der neuronalen Verschaltungen hierzu im Gehirn.
Entsprechend der Hebbschen Regel “feuern” Neurone die oft genutzt werden stärker und bilden feste Bahnen(zwei-vier und sechsspurige Autobahnen) . Wenn sie diese Bahnen kennen und auf Grund der erkannten Muster zuordnen können, könnten sie auch -an Hand der abgespeicherten Bahnungen- bestimmte Aussagen(Bedeutungen) über Wörter/Gedanken treffen die der Klient gerade “denkt”. Hierzu gehört wohl eine entsprechende Technik, bzw. eine riesige Datenverarbeitungsmenge, was ja das Gehirn (ja auch blitzartig) macht. Inwieweit zum Bsp. die neuronale Verschaltung bei Buchstaben oder Wörtern bei allen Menschen gleich ist-was logisch wäre da es “neutrale” nicht emotionale Reize sind- sollte geprüft werden.
Hallo Golzower,
ich verstehe Ihre Überlegung schon. Das Projekt des “Connectome” möchte ja strukturelle und funktionale Verbindungen auf allen Ebenen erforschen.
Drei Punkte kurz notiert:
1. Die Lernregel von Hebb trifft so nicht auf alle synaptischen Verbindungen zu (die Realität ist etwas bunter als die Theorie).
2. Grundsätzlich gilt: Je weiter Sie “reinzommen”, umso mehr werden sie inter-individuelle Unterschiede finden. Wenn wir beispielsweise functional und structural connectivity (funktionelle und strukturelle Konnektivität) auf einer relativ weit rausgezoomten Ebene betrachten, d.h. mit flächig großen Nodes und Hubs (Knotenpunkten), dann finden wir im Mittel große Übersteinstimmungen zwischen Menschen. Diese Gemeinsamkeit bricht nun zunehmend zusammen je weiter Sie sich der Zellebene nähern. Sollte das Ziel darin bestehen Befunde zu ermitteln die über einzelne Personen hinausgehen, so benötigt man probabilistische bzw. statistische Modelle und Zusammenhänge.
3. Die neuronale Aktivität des Gehirns interagiert in einer nicht-linearen Weise mit der Umwelt. Das bedeutet dass Stimuli (also z.B. Wörter) nicht einfach additiv auf die laufende Spontanaktivität und ihrer strukturellen/anatomischen Basis fallen (wobei die Anzahl der möglichen “Aktivitätsmuster” höher ist als die der strukturellen Verbindungen).
Die gemessene stimulus-induzierte Aktivität, also die durch Stimuli wie Wörter ausgelöste Aktivität, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Ein identischer Stimulus kann bei verschiedenen sowie auch bei einem Menschen unterschiedliche Aktivitätgrade und -muster auslösen, je nach Zustand der vorherigen Aktivität des Gehirns. Die Arbeit wäre also nicht nur mit der Analyse von strukturellen Verbindungen (die auf der Zellebene im laufenden Wandel sein können) getan. Stattdessen müssen auch funktionale Zustände der Aktivität berücksichtigt werden.
@Golzower, Philipp: neuronale “Codes” und Großmutterzellen
Ziehen wir mal die Neuronen des Kleinhirns ab, also die große Mehrheit der Nervenzellen im Gehirn; dann bleiben in der Großhirnrinde… vielleicht 20 Milliarden übrig?
Wie viele von denen müsste man denn elektrophysiologisch ableiten, um den neuronalen “Code” zu entschlüsseln?
Natürlich würde man, wenn man lange genug sucht, irgendwann irgendwelche Zellen finden, die beispielsweise beim Denken an den Namen “Golzower” anders “feuern” als beim Denken an den Namen “Philipp”.
Das wäre aber auch nur wieder eine Korrelation – und nicht automatisch eine Entdeckung des neuronalen “Codes” von “Golzower”, “Philipp” usw.
Zudem hat man vor bald 15-20 Jahren ja schon die zuvor lange geschmähte Großmutterzelle in Form der z.B. “Jennifer Aniston-Zelle” entdeckt. (Und nein, das Beispiel stammt nicht aus der BILD-Zeitung, sondern aus Nature.)
Was hat’s gebracht?
@Stephan Schleim
Soweit wollte ich hier nicht ausholen Die von Ihnen verlinkte Studie ist mir bekannt. Dazu auch noch die folgende Studie: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4210637/
Zum Thema: Ich wollte lediglich auf die angesprochenen Punkte eingehen. Was Sie zur Diskussion stellen ist in seiner Breite ein anderes Thema. Und wie Sie sich vielleicht denken können unterscheidet sich meine Ansicht dazu nicht allzuweit von Ihrer. Wie diese Korrelationen entstehen und was oft alles ignoriert wird würde hier zu weit führen.
@Philipp: Sie dürfen hier so weit – oder unweit – ausholen, wie Sie möchten.
Gerne bis zum nächsten Mal!