Drogen als Anpassung – weil wir es können?

Eine Antwort auf Stephan Schleims Ausführungen

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Christian P. Müller (Universitätsklinik Erlangen)

Die Theorie der Drogen-Instrumentalisierung (Die Droge als Instrument) schließt eine Lücke, eine zumindest aus der Sicht des Autors große Lücke, in unserem Verständnis, warum und auf welchen neurobiologisch vermittelten Weg Menschen psychoaktive Substanzen wie Suchtdrogen konsumieren. Es gibt neuropharmakologische Theorien, wie eine Droge Euphorie auslösen kann und über diesen Mechanismus eine wiederholte Einnahme triggert. Aber viele psychoaktive Substanzen lösen ja gar keine Euphorie aus! Dann gibt es Theorien, die beschreiben, wie ein regelmäßiger Konsument möglicherweise eine Drogensucht entwickelt. Aber die allermeisten regelmäßigen Konsumenten auch harter Drogen entwickeln ja gar keine Sucht!

Nun, wie kann man dann erklären, dass so viele Menschen, die meisten Erwachsenen nämlich, um den gesamten Erdball verteilt, regelmäßig psychoaktive Substanzen zu sich nehmen, ohne Euphorie zu empfinden und ohne sich auf direktem Weg in die Sucht zu befinden? Was hält dieses Verhalten am Leben und sorgt dafür, dass es Generation für Generation wieder etabliert wird?

Die Theorie der Drogen-Instrumentalisierung kann das erklären, in dem sie beschreibt, wie Menschen aus geregeltem, situativ hoch systematischem und gut kontrolliertem Konsum verschiedenster Substanzen einen Nutzen ziehen. Sie verfolgen Instrumentalisierungsziele und erzielen so einen Instrumentalisierungsgewinn. Weiter argumentiert die Theorie der Drogeninstrumentalisierung, das wir nicht nur die formalen neurobiologischen Anlagen besitzen, Drogen zu finden, zu entwickeln und zu nutzen, sondern dies auch noch einen evolutionären Vorteil bieten kann gegenüber den Menschen, die von dieser Fähigkeit keinen Gebrauch machen. Das kann die große Verbreitung erklären, und auch, warum das Verhalten nicht ausstirbt. Stephan Schleim fragt aber ganz zu Recht: sollte man eine Drogeninstrumentalisierung regelrecht empfehlen, um in unserer schnelllebigen und hoch ambitionierten Welt mithalten zu können?

Die Theorie der Drogeninstrumentalisierung beschreibt, was Menschen tun, getan haben, und sicherlich auch noch eine ganze Weile weiter tun werden. Sie beschreibt dagegen nicht, was sie tun sollen, oder besser was sie tun könnten, aber trotzdem unterlassen sollten. An dieser Stelle kann ich nur meine persönliche Meinung zu Stephan Schleims Frage nach dem Umgang mit der zweifelhaften Fähigkeit der Drogeninstrumentalisierung darstellen, da diese ja auch schon einen kleinen Imperativ in sich trägt. Und der ist getragen von den maximal schädlichen Konsequenzen des zur Debatte stehenden Verhaltens. Und das ist in dem Fall immer noch die Drogensucht, ein dauerhaft zwanghafte Einnahme von Substanzen, die nachweislich physiologische Schäden anrichten und zum körperlich-geistigen Verfall des Individuums und oft auch seiner sozialen Umwelt führen.

Bisher wissen wir trotz vieler guter neurobiologischer Anhaltspunkte noch immer nicht genau, wer von einer Suchtentwicklung aus dem regelmäßigen Konsum heraus wirklich gefährdet ist, und wer dieser wiederstehen kann. Da jede Drogensucht auch mit einer Phase der Drogeninstrumentalisierung beginnt, dieses oft über Jahre aufrecht erhalten wird, kann man eine aktive Instrumentalisierung von psychoaktiven Substanzen also niemanden ernsthaft empfehlen. Das Phänomen leugnen sollte man aber auch nicht. Was bleibt also zu tun?

Als erstes, und dies geschieht zum Teil auch schon unter anderem Label, ist eine pädagogische Aufklärung des Konsumenten von Nöten. Sobald eine Gesellschaft psychoaktive Drogen in ihrem Konsum akzeptiert, muss ein mündiger Konsument das Ziel sein, der auch jederzeit in der Lage ist, ein Nicht-Konsument zu werden. Nur so werden Konsumenten in die Lage versetzt, eine umfassende Kontrolle über ihren Konsum zu behalten, regelmäßig auf den Konsum zu verzichten, oder aber ihn gar nicht erst zu beginnen.

Sowohl Drogeninstrumentalisierung als auch Drogensucht sind durch eine Vielzahl einzelner Verhalten charakterisiert (z.B. Arbeiten für die Droge; Drogen kaufen gehen; Drogen zubereiten etc.). Die Mehrzahl dieser Verhalten ist in ihrer Steuerung unbewusst. Phänomene der klassischen und der operanten Konditionierung treiben hier den Konsum und die Instrumentalisierung an. (Vielleicht merke ich zum Beispiel gar nicht, dass ich nur nach zwei Bier in der Kneipe anfange mich emotional zu öffnen und aus dem Alltag heraus zu einem Sozialleben fähig bin. Dass ich dabei immer eine Droge, den Alkohol, instrumentalisiere, muss ich nicht wissen, damit dieses Verhalten funktioniert.)

Man kann sich aber den eigenen Konsum und seine Parameter durchaus bewusst machen und reflektieren. Dafür gibt die Theorie der Drogeninstrumentalisierung schon mal eine Einordnung der meisten Konsumszenarien und sogar eine pharmakologisch gesicherte Grundlage vor. Viele nicht süchtige Konsumenten sollten sich darin wieder finden. Und dann kann jeder selber fragen, ob er die so angestrebten Ziele unbedingt mittels einer Droge erreichen will, was im westlichen Kulturkreis z.B. durchaus akzeptiert ist, oder ob man lieber auf andere, nicht-pharmakologische Hilfsmittel zurückgreifen mag.

Ein Verständnis der Mechanismen der Drogeninstrumentalisierung sollte deshalb in Gesellschaften mit legal erhältlichen Drogen wie Alkohol, Nikotin und Coffein, zur psychologischen Grundausbildung aller gehören, genauso wie das geschärfte Bewusstsein dafür, das es sich bei den meisten dieser Substanzen eigentlich um Gifte handelt, die bei chronischer Einnahme und/oder hoher Dosierung eben auch als solche wirken.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint auch auf Telepolis – Magazin für Netzkultur. Die Titelgrafik stammt von Myriams-Fotos auf Pixabay.

Die Serie über Drogenpolitik

Avatar-Foto

Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

10 Kommentare

  1. Warum nehmen Tiere keine Drogen ? Wahrscheinlich weil sie -anderes als der Mensch- die Fähigkeit haben das Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus in ihnen permanent aufrecht zu erhalten. und somit gesund zu leben. Sie haben ,da sie nur in der einzig wahren Realität leben, keinen Dauerstress. Der Mensch lebt in seinen virtuellen Realitäten, wo Stress kaum noch heruntergefahren werden kann.
    Dieser gesunde Zustand nach innerem Ausgleich, innerer Ruhe, was sich bei Tieren zwangläufig einstellt, ist also bei Menschen, die in ihrem ständigen Gedankenkarussell leben, nicht mehr gegeben. Aus diesem Grund sind Drogen bei ihm wahrscheinlich Hilfsmittel um diesen Zustand der Entspannung, den jedes Tier kennt, zu erreichen, zu mindestens zeitweilig.

  2. @Querdenker: Früher war Religion der Ausgleich und der Kleber für den “Fortschritt” des geistigen Stillstandes und der “individualbewussten” Bewusstseinsbetäubung.
    Wenn sie also nicht nur Ausgleich und Kleber wäre, dann …,

  3. Allerdings musste sie “säkularisiert” werden, anstatt sie in der Interpretation richtig zu stellen 😉

  4. @Prof. Dr. Müller: Es sind nicht in erster Linie die Substanzen, es ist vielmehr asoziale/wettbewerbsbedingte Arbeitswelt, die “zum körperlich-geistigen Verfall des Individuums und …” führen.😒

  5. @Querdenker (Zitat):„ Warum nehmen Tiere keine Drogen ? “
    Das stimmt nicht: Vor allem Alkohol konsumieren viele Tiere um Rauschzustände zu erreichen wie man unter Rausch im Tierreich nachlesen kann.
    Nur der Mensch aber kultiviert Pflanzen um später berauschende Verabreichungsformen daraus herzustellen. Nun klar: nur der Mensch hat die planerischen und technischen Fähigkeiten, um etwa Weintrauben anzubauen und systematisch zu vergären.

    Allerdings lohnt sich Alkoholkonsum auch wegen den zugeführten Kalorien was wohl erklärt, dass sehr viele Tiere Alkohol verstoffwechseln können. Am wenigsten gut können das aber Menschen in Reisanbaugebieten in denen es den Reisanbau bereits einige tausend Jahre gibt. Dort ist ein Grossteil der Bevölkerung alkoholintolerant, wohl weil die Alkoholintoleranten bessere Reisbauern sind, denn der Reisanbau erfordert viel Disziplin und die Einhaltung regelrechter Zeitpläne – etwas was Trinkern von Reiswein schwierig fällt, so dass sie einen evolutionären Nachteil gegenüber Alkoholintoleranten haben.

  6. Zu M. Holzherr
    Ja und Nein. Tiergehirne sind so geartet, dass sie auch Suchtsysteme ausbilden, was am limbischen System liegt. Allerdings haben Drogen per se nicht die Funktion im Kampf-Fluchtsystem wie beim Menschen, wo der Einfluss auf das Nervensystem -also die Bewusstseinszustände -gewollt ist ( Motivierend, entspannend, berauschend etc. )Tiere bleiben trotz dem in ihrer Realität. So wird eine Ratte bei einem Börsencrash niemals eine Schockstarre bekommen, ein Mensch in schon. Der kann deswegen sogar aus dem Fenster springen. So gesehen kann seine Realität auch seine Droge werden.

  7. @Querdenker: Berauschte Tiere bleiben genauso wenig in der Realität wie berauschte Menschen. Sie schwanken nach dem Trunk genauso wie Menschen und schlafen oft ihren Rausch aus. Trinken und Saufen gab es übrigens auch beim Menschen schon lange bevor es eine Börse gab und weder Menschen noch Tiere sind jederzeit mit Kampf-Fluchtsituationen konfrontiert. Das Normale und die Regel ist vielmehr bei Tier und Mensch die Langeweile. Trinken und Saufen ist auch ein Mittel gegen diese Langeweile und das sowohl beim Tier als auch beim Menschen. Interessanterweise gibt es aber sowohl beim Menschen als auch bei Schimpansen Abstinente, also Individuen, denen es nicht schmeckt.

  8. Ist Drogenkonsum eine freie Entscheidung?
    Rauchen und Trinken geschieht zuerst einmal bei sozialen Anlässen und beginnt meist im Vorerwachsenenalter unter dem Einfluss der Kolleginnen und Kollegen.
    Wer zugleich raucht und drinkt konsumiert auch häufiger Cannabis, pflegt also einen tendenziell polytoxikomanen Lebensstil. Dazu braucht es keine bewusste Entscheidung im Sinne von: „Ich bin ein Raucher, Trinker und Kiffer, weil es mein Leben bereichert und es zu mir gehört.“ Vielmehr ergibt es sich einfach so.

    Wenn Prof. Dr. Christian P. Müller oben schreibt (Zitat): [es ist eine] pädagogische Aufklärung des Konsumenten von Nöten. Sobald eine Gesellschaft psychoaktive Drogen in ihrem Konsum akzeptiert, muss ein mündiger Konsument das Ziel sein, der auch jederzeit in der Lage ist, ein Nicht-Konsument zu werden., so ist das wohl als Appell und Ratschlag gemeint. Doch praktiziert wird das praktisch nicht und wie die meisten Raucher wissen ist man als Raucher nicht (Zitat) jederzeit in der Lage, ein Nicht-Konsument zu werden. Beim Alkohol ist das schon eher möglich, aber Alkohol gehört halt zu gewissen Festlichkeiten und Zusammenkünften einfach dazu. Wenn Prof. Dr. Christian P. Müller von Drogen als Instrumenten spricht, dann trifft er die Verhältnisse gut wobei aber der Instrumentalcharakter den Konsumenten oft gar nicht so bewusst ist. Für Konsumenten gehören Rauchen, Trinken und Kiffen vielmehr zum Erlebnis etwa eines Zusammentreffens, einer Feierlichkeit (Party, etc) oder eines Anlasses. dazu und ohne das wäre das Erlebnis ein anderes und die Erinnerung eine andere.

    Weil die Entscheidungen zum Rauchen , Trinken und Kiffen meist eben gar nicht so bewusst gefällt werden sondern sich durch die Umstände einfach so ergeben, richten sich auch die heute praktizierten „Vergrämungsmassnahmen“ wie Rauchverbot an vielen öffentlichen Orten, eine Alterslimite oder Tabak- und Alkoholsteuern nicht in erster Linie an den mündigen Bürger, sondern an den die Opportunitäten ausnutzenden Bürger, indem eben die Gelegenheiten vermindert und die Kosten erhöht werden.

    Sind Drogen vor allem wegen der Suchtgefahr gefährlich?
    Alkoholkonsum erhöht bereits in geringen Mengen das Brustkrebsrisiko, aber auch das Risiko für Mundhöhlen,- und Rachenkrebs, Kehlkopf- und Speiseröhrenkrebs, Leber-, Darm- und Magenkrebs. Gemäss einer australischen Studie senkt eine Reduktion des Alkoholkonsum das Risiko in den nächsten 20 Jahren an Krebs zu erkranken um 12%. Und zwar ganz unabhängig davon ob der Konsument alkoholsüchtig ist oder nicht. Es kommt nur auf die Menge an Öhnlich steht es mit dem Tabakonsum – nur ist Tabak noch gesundheitsschädlicher als Alkohol. Cannabis wiederum ist vor allem für Jugendliche gefährlich erhöht es doch das Psychosenrisiko bei Jugendlichen deutlich. Auch hier gilt, dass nur die Dosis wichtig ist und nicht die Sucht.
    Sucht schafft bei Alkohol, Opioiden etc allerdings neue Risiken: Die Anzahl der Überdosen und Drogensuizide nehmen zu, aber auch Arbeitslosigkeit, verantwortungsloses Handeln, Kriminalität und Zerfall des Soziallebens.

    Fazit: Drogen wie Alkohol, Tabak und Cannabis erhöhen ganz unabhängig von einer Sucht das Krankheitsrisiko. Konsumdämpfende Massnahmen sind heute weniger Aufklärung und Appell an die Vernunft als vielmehr Massnahmen die die Attraktivität dieser Mittel bei den Zielgruppen (z.B. Jugendliche) senken.

  9. Ergänzung zu meinem Vorgängerkommentar. Es muss heissen: Gemäss einer australischen Studie senkt eine Reduktion des Alkoholkonsum um ein Drittel das Risiko in den nächsten 20 Jahren an Krebs zu erkranken um 12%.

  10. ZU M. Holzherr
    Ich kann und will ihr Menschen Bild hinsichtlich der berauschenden Drogen nicht teilen. Wenn ich heute lese, dass in Berlin bereits an Grundschulen mit Drogen gehandelt wird bzw. meine Enkelin Drogen angeboten bekommen hat, dann ist dieser Staat einfach für mich ernsthaft krank, da er seine Zukunft, sprich die Kinder dem Profit der Drogenhändler unterwirft. In diesem Fall muss ich an die DDR denken, wo solche perverse Politik nie möglich gewesen wäre. Pfui Teufel.

Schreibe einen Kommentar