Das Polen-Experiment: Wo Gesundheitspolitik an Grenzen stößt

Wie Preiserhöhungen und Verbote die Konsumierenden auf den Schwarzmarkt und ins EU-Ausland treiben

Zurzeit ist es wieder “in”, anderen vorzuschreiben, wie sie leben sollen. Während wir das bei religiösen Motiven schneller als Fanatismus wahrnehmen, dominieren in drogenpolitischen Diskussionen heute die Gesundheitsnarrative. Dann werden Preiserhöhungen und Verbote wissenschaftlich-medizinisch verbrämt. Und wer will schon gegen Gesundheit sein?

Dabei stehen viele der Studien, die belegen sollen, dass zum Beispiel Alkohol oder Zigaretten schon ab dem ersten Schluck beziehungsweise Zug – oder sogar durch Passivrauchen und “Passivtrinken” – schaden sollen, auf wackeligen Beinen. Beispielsweise beruhen diese oft nur auf unzuverlässigen Selbstbefragungen, sind die statistischen Modelle heute so komplex, dass viele sie gar nicht mehr verstehen (zumal auch Mediziner, die ich hin und wieder selbst ausgebildet habe, nicht gerade für ihr Statistikverständnis bekannt sind), und kann immer nur ein Teil der relevanten Faktoren berücksichtigt werden.

Und natürlich gibt es auch keinen störenden Druck auf Wissenschaftler, die Ergebnisse zu liefern, die in den Zeitgeist passen oder von Geldgebern sowie den Medien belohnt werden. Denn spätestens mit dem Masterabschluss wird man in den Himmel der Objektivität aufgenommen und steht über allen weltlichen Zwängen. Man lässt darum nie störende Daten aus, die der ersehnten Publikation in den Top-Zeitschriften im Wege stehen. Oder wählt aus einer schier unendlichen Zahl von Möglichkeiten einfach das Modell aus, das zum gewünschten Resultat führt.

Denn wenn die Peer Reviewer (die denselben Zwängen unterliegen) einmal den Daumen hoch gegeben haben, ist der Rest egal. Dann ist das Prädikat “Wissenschaft” ein für alle Mal vergeben. Sollten die Studien sich später als nicht wiederholbar herausstellen, dann beruft man sich auf die statistische Unschärfe. Man hat ja schließlich nur mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit versprochen, dass die Ergebnisse stimmen. Wissenschaft ist komplex.

Erziehung zum guten Bürger

Doch lassen wir die wissenschaftstheoretischen Aspekte außen vor und wenden wir uns der Praxis zu. In den Niederlanden will der Staat seinen bürgerlichen Schäfchen – nach skandinavischem Vorbild – endlich beim gesunden Leben helfen. Schon vor rund zehn Jahren hob man darum das Mindestalter für den Kauf und Verzehr von Alkohol auf 18 Jahre, wie es jetzt auch in Deutschland gefordert wird.

Wie unerhört, dass Minderjährige seitdem im Verborgenen und damit bei fehlender Aufsicht trinken. Sie wagen es, gegen die höchste Gesundheitspflicht zu verstoßen! Man denke auch an die Eltern, die ihren Kindern in den heimischen vier Wänden Alkohol einschenken. Unangekündigte polizeiliche Stichproben würden hier sicher helfen. Idealerweise könnte man, wie früher, das Abschließen der Wohnungstüren verbieten. Dann wären staatliche Kontrollen besonders effektiv.

Wenn es nur der “Public Health” (öffentlichen Gesundheit) nutzt, dann muss man eben in den sauren Apfel beißen und ein paar bürgerliche Freiheiten aufgeben.

Der Gesundheitsmarkt muss wachsen

Die populären Jugendfreizeiten in den Nachbarländern Belgien und Deutschland, wo man auch minderjährig saufen darf, sind nur ein vorübergehendes Übel. Schließlich kann man auf schärfere Maßnahmen in diesen Ländern hinwirken. Und wenn es weniger Geselligkeit mit dem traditionellen Schmiermittel Alkohol gibt und mehr und mehr Jugendliche einsam und depressiv zuhause sitzen, werden sie immerhin potenzielle Kunden der Pharmaindustrie.

Weil das vorherrschende Gesundheitsmodell so gut funktioniert – immer mehr Menschen werden nämlich immer länger krank (Die Deutschen sind kränker denn je), wodurch der Markt stetig wächst –, wird es auf immer mehr Bereiche ausgedehnt. Man kann einen Kuchen nicht gleichzeitig aufbewahren und essen: Wenn die Gesundheitsfürsorge wie ein Markt organisiert wird, wirken dort eben die bekannten Marktmechanismen. Immerhin steigt so das Bruttoinlandsprodukt und wird die Volkswirtschaft “produktiver”, obwohl kränker.

Während man pathologische Systemfaktoren – wie zum Beispiel ungesunde Lebensmittel, Stress, Lärm, Umweltverschmutzung – als Kollateralschäden kapitalistischer Bestrebungen in Kauf nimmt, treibt man die Individuen zu immer mehr Gesundheitsoptimierung an. Freilich stresst das viele zusätzlich. Aber dann rennen sie wieder zum Arzt, ins Fitnessstudio, zum Personal Trainer, Coach oder Yogalehrer. Und das führt zu mehr Umsatz und ist also gut für den Markt.

In den Niederlanden “hilft” man seinen Bürger*innen nun durch immer höhere Zigarettenpreise. Gleichzeitig wird die Anzahl der Verkaufspunkte massiv eingeschränkt. Dass nun Jugendliche immer mehr vapen, markiert schlicht das nächste Aufgabengebiet der Gesundheits- und Drogenpolitiker. Übrigens dürfen hier Eltern keine Alkoholika mehr kaufen, wenn sie in Begleitung minderjähriger Kinder sind. Man kann ja einen Babysitter regeln, die Kleinen einfach draußen warten lassen, wenn man noch den passenden Wein zum Abendessen sucht – oder eben endlich abstinent leben. Amen!

Polen-Urlaub inklusive

Wenn man da aber nicht die Rechnung ohne den Wirt macht! Zigaretten haben beispielsweise den Vorteil, relativ klein und leicht zu sein. Dadurch haben sich schon Reiseunternehmen darauf spezialisiert, Ausflüge nach Deutschland und Luxemburg anzubieten. Laut EU-Recht darf man nämlich 800 Zigaretten beziehungsweise vier Stangen, 200 Zigarren und ein Kilo Tabak mit zurück nehmen. (Achtung: Keine Gewähr! Prüft die für euch geltenden Richtlinien selbst.) Früher gab es die Butterfahrt, heute die Zigarettentour.

Für RTL News hat jetzt der Journalist Eise Pulles die Probe aufs Exempel gemacht. Während ein Päckchen Zigaretten in den Niederlanden zurzeit durchschnittlich 11,10 Euro kostet, ist es in östlicheren EU-Ländern viel billiger: In Slowenien liegt der Durchschnittspreis bei 4,80 Euro, in Polen bei 3,90 Euro und in Bulgarien sogar nur bei 3,10 Euro.

Eise fand einen Flug ins polnische Kattowitz für nur 100 Euro. Er nahm noch einen Kameramann mit und buchte eine Übernachtung im Luxushotel. Für Zigaretten und Tabak zahlten die Journalisten, einschließlich der Reise mit Essen und Trinken, 552 Euro pro Person. In der niederländischen Heimat hätten sie allein für die Rauchwaren fast 1.000 Euro hinblättern müssen – pro Person! Somit haben sie pro Kopf rund 430 Euro gespart. Und der Umwelt mit dem Flug noch etwas Gutes getan.

In den Niederlanden sinkt zwar der Verkauf von Zigaretten, wie es sich die Politiker vorgestellt haben. Manche Bürgerinnen und Bürger hören tatsächlich mit dem Rauchen auf und tun ihrer Gesundheit damit potenziell etwas Gutes. Gleichzeitig verkehren aber immer mehr Rauchwaren, die nicht im Inland gekauft wurden. Darum schaut der Fiskus in die Röhre: Die Steuereinnahmen sinken, während Steuerlöcher gefüllt werden wollen.

Schlechte Vorbilder

Länder wie Neuseeland und Australien (28 Euro pro Päckchen Zigaretten) sind eben nur bedingt Vorbilder für eine Zoll- und Handelsunion wie die EU. Dort kann man nicht eben ins Auto, den Reisebus oder ins Flugzeug steigen, um schnell bei den Nachbarn auf Shoppingtour zu gehen.

Dabei sollte man den tatsächlichen Gesundheitsnutzen nicht überschätzen: Mit solchen Public Health-Maßnahmen (“Volksgesundheit” darf man im Deutschen seit dem folgenschweren Gesundheitsfanatismus der Nazis nicht mehr sagen) kann man zwar das durchschnittliche Verhalten in der Bevölkerung beeinflussen. Gerade die gesundheitlichen Härtefälle erreicht man damit aber eher nicht.

Will sagen: Wer schwer abhängig ist, greift dann eben tiefer in die Tasche oder weicht auf billigere, potenziell illegale und schädlichere Alternativen aus. Vielleicht wird der Gesundheitsschaden dadurch sogar noch größer. Für die Härtefälle braucht man Präventionsmaßnahmen und dort, wo es zu spät ist, gut erreichbare individuelle Angebote.

Während der tatsächliche Gesundheitsnutzen solcher Maßnahmen also noch zu beweisen ist, sind die negativen Auswirkungen auf den Staatshaushalt offensichtlich. Darum schrieb das von Jahrzehnten der Stagnation geplagte japanische Finanzministerium jüngst sogar einen Wettbewerb aus, wie man junge Leute wieder zu mehr Alkoholkonsum motivieren kann.

Ernsthaft

Der geneigte Leser mag mir meinen stellenweisen Zynismus verzeihen. Beim Thema Gesundheitsschutz hört für manche ja der Spaß auf. Aber nachdem ich mich seit gut 20 Jahren wissenschaftlich mit (der gesellschaftlichen Regulation von) Substanzkonsum beschäftige, sind die vielen Widersprüche anders kaum noch auszuhalten. Dabei muss man kein Einstein sein, damit einem nach rund 100 Jahren Verbotspolitik die größeren Drogenprobleme denn je auffallen.

Vernünftig wäre es, die Gründe für und den Nutzen des Substanzkonsums mit in die Rechnung aufzunehmen. Und auch die Freiheit sollten wir nicht vergessen. Doch wie quantifiziert man abstrakte Werte für die heute so beliebten gesundheitsökonomischen Rechenmodelle? Was nicht in die Gleichung passt, bleibt außen vor. So einfach geht das!

Insofern warte ich auf den ersten Leser, der mir die erstbeste im Internet gefundene Zahl zu jährigen Alkohol-, Tabak- oder anderen Drogentoten um die Ohren haut. Die Datengrundlage hat er wahrscheinlich nicht geprüft – und noch weniger verstanden.

Beantworte mir nur diese eine Frage, lieber geneigter Leser: Wie hätte das Leben dieser Menschen ohne Substanzkonsum ausgesehen, wäre es kürzer oder länger, besser oder schlechter gewesen? Für einen ersten Anhaltspunkt könnte man die Lebenserwartung in freieren Gesellschaften mit der in unfreieren vergleichen.

Risiken und Nebenwirkungen des Lebens

Die heutigen Trends – fast schon möchte ich sagen: die Hysterie – unserer Gesundheits- und Drogenpolitik haben viel mit unserer Wahrnehmung von Risiken zu tun. Durch die statistische Brille ist klammheimlich der Zustand der Gesundheit verschwunden und haben wir alle nur noch größere oder kleinere Krankheitsrisiken. Wie das funktioniert, kann man auch ohne komplizierte statistische Modelle erklären:

Stellen wir uns vor, in einem Raum befinden sich neun männliche Obdachlose. Jetzt gesellt sich zu ihnen Elon Musk, mit einem geschätzten Vermögen von zurzeit rund 250 Milliarden US-Dollar, in den Raum. Auf einmal besitzen die zehn Menschen in diesem Raum durchschnittlich 25 Milliarden! Dabei haben neun von ihnen tatsächlich nicht einmal eine Wohnung.

Und so werden auch in der Gesundheitsforschung Menschen in allerlei Gruppen unterschieden: in Männlein und Weiblein, Jüngere und Ältere, Alkoholtrinker und Abstinenzler und so weiter. Wenn sich nun in so einer Gruppe statistisch höhere Krankheitsrisiken ergeben (die oft übrigens sehr gering sind), wird dieses Risiko auf jeden Einzelnen in der Gruppe übertragen. Das ist aber ebenso ein Fehlschluss, wie einem der genannten Obdachlosen ein Milliardenvermögen zu unterstellen. Dieser Fehler hat in der Wissenschaft einen eigenen Namen: ökologischer Fehlschluss. Trotzdem ist er gang und gäbe.

Dazu kommt, dass sich unsere moralischen Vorstellungen mit unserer Risikowahrnehmung vermischen. Das herrschende Narrativ in der Gesundheitspolitik ist nun: Alkohol schadet schon ab dem ersten Tropfen! Jeder Alkoholtote ist einer zu viel!

Gerade starb leider die nur 18-jährige Schweizer Rennradfahrerin Muriel Furrer nach einem Fahrradunfall. Bisher rief meines Wissens niemand, Fahrradfahren schade schon ab dem ersten Meter. Dabei ist es faktisch so, dass mit jedem abgelegten Fahrrad- oder auch Autokilometer die Wahrscheinlichkeit für einen Verkehrsunfall zunimmt; und trotzdem haben im Einzelfall die allermeisten Verkehrsteilnehmer keinen Unfall. Allen Risiken zum Trotz ist unser Verkehr heute ziemlich sicher.

Widersprüche

Unsere Gesundheits- und Drogenpolitik ist nicht nur voller Fehlschlüsse, sondern beruht auch auf vielen Widersprüchen. Ich erwähnte schon, dass wir immer kränker werden, obwohl (oder gerade weil?) wir uns immer fanatischer mit Gesundheit beschäftigen. Ganz analog wird jetzt das Denken über Alkohol und Zigaretten immer fanatischer, obwohl immer weniger Menschen Alkohol trinken und Zigaretten rauchen! Man vergleiche die heutigen Zahlen einmal mit dem Konsum in den 1970ern.

Es ist Paradox, dass Alkohol und Zigaretten dem Anschein nach immer gefährlicher werden, je seltener sie konsumiert werden. Und es ist zum Beispiel auch beim Alkohol, der seit Jahrtausenden kulturell etabliert ist und sogar medizinische Anwendungen hatte und hat, völlig unplausibel, dass jeder Tropfen schadet.

Vor rund 100 Jahren glitt die Gesellschaft in einen derartigen Gesundheitsfanatismus ab, dass sie (ihrer Meinung nach) Alkoholkranke schlicht zwangssterilisieren ließ. Die Nazis steckten diese Menschen etwas später, stigmatisiert mit einem schwarzen Dreieck für “Asoziale”, sogar ins Konzentrationslager – vor allem wegen ihrer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit.

Und die Bundesrepublik wies später jahrzehntelang Schadensersatz für solche Sterilisierungen mit der Begründung ab, es habe sich nicht um spezifisches NS-Unrecht gehandelt. (Denn schließlich wurden solche medizinischen Zwangsmaßnahmen auch in den ach so vorbildlichen skandinavischen Ländern mit ihren blonden blauäugigen “Herrenmenschen” durchgeführt.)

Ich könnte hier noch viele weitere innere und äußere Widersprüche dieses Denkens anführen. Es sei nur kurz an die jüngste Cannabisdebatte erinnert: Während Ärzte es selbst an Kranke verschreiben, bauschten sie in der Öffentlichkeit mit teils maßlos übertriebenen, teils nachweislich falschen Aussagen die Gefahren auf. Ist Cannabis ohne Rezept vielleicht schlicht aus dem Grund gefährlicher, dass dann Ärzte und Apotheker nicht daran verdienen?

Freiheit

Die allzu oft fehlende Größe in der Gleichung ist allerdings die Freiheit. Als die DDR zerfiel, sagte man über die aus Ostdeutschland Fliehenden, sie würden “mit den Füßen abstimmen”. Warum stimmen dann aber nicht die Konsumierenden von Genussmitteln und Drogen ebenso mit den Füßen ab, wenn sie die Substanzen (legal) mit dem Auto, Bus oder Flugzeug im Ausland holen? Oder (illegalisiert) beim “Dealer” im Park um die Ecke?

Die Freiheit dieser Menschen wird bagatellisiert, indem man sie – wieder mit einem medizinischen Trick – schlicht als Süchtige darstellt. Dabei kam die Weltgesundheitsorganisation – nach Jahrzehnten erfolgloser Versuche – schon in den 1960ern zu dem Ergebnis, dass man “Sucht” nicht klar definieren könne.

In den 1990ern definierten einflussreiche Forschungsdirektoren beispielsweise des amerikanischen National Institute on Drug Abuse (NIDA) dann Sucht schlicht als Gehirnerkrankung. Später, nachdem sich ihre Versprechungen wieder einmal als haltlos herausgestellt hatten, räumten manche ein, dass man sich dieses Tricks bemüht hatte, um an die Fördertöpfe zu gelangen.

Über diese Dichotomie Freiheit-Sucht lässt sich bei anderer Gelegenheit noch einmal genauer nachdenken. Doch bis hierher findet sich schon genug Stoff zum Nachdenken. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie besser nicht ihren Arzt oder Apotheker.

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Folgen Sie Stephan Schleim auf Twitter/X oder LinkedIn. Titelgrafik: Aviavlad Lizenz: Pixabay

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35 Kommentare

  1. Update: Ich lese gerade in einem Bericht der niederländischen Gemeinden (VNG vom 26. 9. 2024), dass – zehn Jahre nach dem Alkoholverbot unter 18 – 71% der Minderjährigen auf Berufsschulen Alkohol trinken.

    Unerhört!

  2. No country for young men…

    Ich find’s interessant, dass die Angst alter Leute, die den Planeten in ein Sterbehospiz für Gammel-Faschisten zu verwandeln versuchen, zwei Ausdrucksformen annehmen kann: Wir erlauben Zigaretten, weil es die alten Wege sind, die alten Götter und die alten Sitten. Oder wir verbieten Zigaretten, weil es uns das gute Gefühl gibt, alte, boshafte, cholerische Despoten zu sein, deren Launen sich alle fügen müssen. Dass da ein Widerspruch drin ist, hält einen Trump, Xi, Putin, Ayatollah nicht auf, auch nicht den, der sich in unseren Seelen versteckt.

    Globale wie nationale Politik wird von einem Zeitgeist bestimmt, der das Schlimmste verkörpert, das das Altersheim zu bieten hat: Ein Altern ohne Weisheit und ohne Würde, wir sperren uns vor Angst in Särgen ein, nageln den Deckel zu, darin knurren und bellen wir und rasseln mit den Dritten, um den Tod auszusperren, und weil das dem Tod ziemlich egal ist und unsere Körper uns immer noch ermorden wollen, wird’s immer schlimmer. Im Grunde mumifizieren wir die Welt bei lebendigem Leibe mit Regeln und Verboten und purer Angststarre, um sie so zu bewahren, wie sie nie war, damit sie nicht zucken und sich nicht verändern kann. Während wir zugleich in einer Mumie gefangen sind, die uns nach und nach zermalmt, all das fließt ineinander und so winden wir uns in Panik, Wahn, Paranoia und unlösbaren Widersprüchen.

    Hoffnung, Leben, Aufbruch, Risikobereitschaft, Neugier, Offenheit, Freiheit – all das wird auf die private Ebene gedrückt, wo man nicht alle Wähler berücksichtigen muss, sondern nur sich selbst. Firmen, Individuen, Regionen, Gruppen tun vieles, das schon wie das Leben nach dem Tode wirkt, die Wiedergeburt, nachdem der Sensenmann die Throne durchgeputzt hat und man wieder (hoffentlich) frei atmen darf. Doch der Widerspruch zwischen Etablierten-Leichenstarre und Populisten-Fäulnis dominiert die Menschheit so sehr, dass das Leben auf Standby warten muss, bis es wieder eine Chance bekommt.

    Und weil all das ein System betrifft, das deutlich langsamer altert als ein Mensch, werden wir ganze Generationen haben, die ihre Jugend, gar ihr Leben, nur mit Warten verbringen. Wasser treten, Zeit totschlagen, sich irgendwie durchmogeln, bis die alte Welt hoffentlich mit einem Winseln endet und nicht mit einem Knall, und sie nach eigener Fasson neu anfangen können. Ich sehe nicht ein, warum man Menschen, die ihre gesamte Zeit auf Erden in einer Telefon-Warteschleife verbringen müssen, verbieten sollte, sich das Hirn weg zu dröhnen.

  3. Sehr geehrter Herr Schleim,

    danke für den Interessanten Beitrag!

    Meines erachtens ist es wohl teil von der Frage, ob der Mensch eher zum Guten oder Bösen tendiert. Denn, gehe ich davon aus das Menschen sich, sobald sie können, allen Genüssen wild hingeben und nur unter zwang ein geordnetes und konstruktives Leben leben können, muss ich ja ihre Freiheit einschränken, schließlich sind sie ja nicht entscheidungsfähig. Oder eben die Personengruppen, die ich als nicht verantwortungslos befinde. Manche müssen zum Glück gewzungen werden, in dieser Richtung würde es dann wohl gesehen werden.

    Also Bevormundung aus einer Position des Klügeren und weiseren.

    Zu dem Teil für Tödliche Sport, fortewegungs und Verschmutzungsarten:

    Persönlich hatte ich eine solche Erkenntnis, als die Nachricht kam, das Ewigkeits Chemikalien in meiner Heimat im Grundwasser vorkommen. Eine Massiv schlechte Nachricht. Zur gleichen Zeit wurde in Wien eine Messerstecherei mit knapp zwanzig jungen Männern begangen. Natürlich war die Nachricht, das eventuell die Wasserversorgung verseucht ist, nicht so bedeutend wie wenn ein paar Männer sich mit Messern Niederstechen.

    In einer Millionen Stadt.

  4. @Forster: Substanzen & Risiken

    Die allermeisten Menschen gehen mit psychoaktiven Substanzen doch recht vernünftig um.

    Für diejenigen, die – insbesondere unter Substanzeinfluss – die Kontrolle über den Substanzzufluss verlieren, gibt es Sicherungsmechanismen, z.B. durch die Verkehrspolizei; und bei der Cannabisgesetzgebung in Deutschland sah man ja gerade, wie viel Mühe man sich bei der Bestimmung eines Grenzwerts gab.

    Mit richtiger Information/Prävention reduziert man auch die Probleme; meines Wissens gibt es bei den Verletzungen durch Verkehrsunfälle einen sinkenden Trend.

  5. P.S. Und es scheint doch etwas Kulturelles zu sein, wenn wir die Entscheidung von Menschen für ein Leben im Schlaraffenland – mit allen seinen guten und schlechten Seiten – als Beleg für ihre Irrationalität nehmen; und als Rechtfertigung, sie zu “retten” (nachdem man sie für krank/süchtig erklärte, wobei “süchtig” von einem alten Wort für “krank” abstammt [nämlich “siechen”, siehe auch engl. “sick”, niederl. “ziek”]).*

    * Das ist natürlich ein Thema für sich; aber es wird schon irgendwie surreal, wenn man zuweilen die Kollateralschäden und Nebenwirkungen solcher Rettungsmissionen sieht.

  6. @Stephan Schleim

    Die allermeisten Menschen gehen mit psychoaktiven Substanzen doch recht vernünftig um.

    Dem würde ich wohl so zustimmen, diejenigen die einen massiven Niedergang erfahren, fallen eben am stärksten auf.

    Für diejenigen, die – insbesondere unter Substanzeinfluss – die Kontrolle über den Substanzzufluss verlieren, gibt es Sicherungsmechanismen, z.B. durch die Verkehrspolizei; und bei der Cannabisgesetzgebung in Deutschland sah man ja gerade, wie viel Mühe man sich bei der Bestimmung eines Grenzwerts gab.

    Was aber kostspielig ist, den ich muss ja jemanden dafür abstellen, Drogen affine aus dem Verkehr zu ziehen. Am ende muss man auf die Vernunft der Mitmenschen hoffen, das die meisten Wissen was sie tun.

    Mit richtiger Information/Prävention reduziert man auch die Probleme; meines Wissens gibt es bei den Verletzungen durch Verkehrsunfälle einen sinkenden Trend.

    Welche wären das? Reicht hierbei reine Aufklärung in form von Werbung oder muss es tiefer gehen in Richtung lehren? Also Menschen mit der Wirkung vertraut machen bevor es dazu kommt?

    Schönen Abend, danke für die Antwort auf meinen ersten Beitrag 🙂

  7. @Forster: Substanzen & Siechtum

    … diejenigen die einen massiven Niedergang erfahren, fallen eben am stärksten auf.

    Ja – und wenn man in der sogenannten Suchtmedizin arbeitet, dann sieht man den ganzen Tag solche Leute und schließt schließlich: Drogen machen die Menschen kaputt!

    Das ist natürlich sehr selektiv. Und in den Menschen im Niedergang sieht man dann nur noch die Substanz als Ursache – nicht die Symptome, die sie überhaupt zum ungesunden Substanzkonsum veranlassten. (Bei manchen war es freilich bloße Neugier oder das Umfeld, wie z.B. Kokain in der Finanzbranche.)

    Was aber kostspielig ist …

    Das Kostenargument – na ja, zurzeit verliert der Staat Milliarden durch den Schwarzmarkt, verdienen Kriminelle eben diese Milliarden usw., Jahr für Jahr, und bedrohen schließlich die ganze Gesellschaft.

    Was unterm Strich wohl günstiger wäre?

    Welche wären das? Reicht hierbei reine Aufklärung …

    Dass man Leute über die Dosierungen, potenzielle Probleme bei Mischkonsum usw. informiert; oder dass man vielleicht nach einer Stunde meint, wieder einen “klaren Kopf” zu haben, doch Wahrnehmung und Reaktionsvermögen durchaus noch eingeschränkt sind.

    Ich war ja auch mal junger Mann. Mein Risikoverhalten hielt sich noch in Grenzen. Aber was z.B. ein paar Freunde mit Alkohol am Steuer gemacht haben, das war wirklich lebensgefährlich. (Mit der legalen Volksdroge Nummer 1, wohlgemerkt.)

    Es wäre doch eine tolle Sache, könnte man Leuten Trainingssessions im Fahrsimulator anbieten. Wir haben in Groningen ja eine Verkehrspsychologie. Vielleicht kann ich die Kollegen irgendwann einmal darauf ansprechen.

    Aber im heutigen politischen Klima will man die Substanzen ja lieber verbieten, obwohl das nicht funktioniert, als Bürger*innen zum vernünftigen Umgang mit zu verhelfen.

    P.S. Ich freue mich über jeden Leser hier mit ernsthaftem Interesse am Thema.

  8. Paul S.
    “Ich sehe nicht ein, warum man Menschen, die ihre gesamte Zeit auf Erden in einer Telefon-Warteschleife verbringen müssen, verbieten sollte, sich das Hirn weg zu dröhnen.”

    “Verbieten”, das klingt so absolut, als ob jeder Mitmensch der Richter des Mitmenschen wäre.
    Und es stimmt auch nicht.
    Es ist aber ein Zeichen von Verantwortung, wenn man den Betroffenen darauf hinweist , dass er falsch handelt.
    Schon vor 3000 Jahren gibt es den Ausspruch aus der Bibel : Soll ich der Hüter meines Bruders sein ?
    Und jetzt benutze ich einmal die englische Bezeichnung “social care”.
    In England ist Sozialfürsorge definiert als die Bereitstellung von Sozialarbeit, persönlicher Pflege, Schutz oder sozialer Unterstützung für Bedürftige oder gefährdete Kinder oder Erwachsene oder Erwachsene mit Bedürfnissen aufgrund von Krankheit, Behinderung, Alter oder Armut.
    Und da jeder Mensch auf die Hilfe des Mitmenschen angewiesen ist, ist social care vernünftig.

    Fürsorge ist gut solange sie nicht in Überfürsorge umschlägt.
    Und seit die Menschheit erkannt hat, dass man mit Fürsorge Geld verdienen kann, sind wir ja wieder beim Thema Gesundheitspolitik.
    Es gilt also den gangbaren Weg auszuloten, wo der Mitmensch die Fürsorge akzeptiert und sie nicht als Bevormundung ansieht.

    Paul S. (letzter Hinweis) wer sich das Hirn zudröhnt ist schon hilfebedürftig.

  9. Stephan Schleim
    “Die allzu oft fehlende Größe in der Gleichung ist allerdings die Freiheit. ”
    Volle Zustimmung !!

    Es gehört zu den inneren Widersprüchen einer Gesellschaft, dass sie sie nicht lösen kann und auch nicht lösen darf !
    Die Freiheit braucht das Laster als Gegengewicht zur Tugend. (würde jetzt ein Philosoph sagen, ein Politiker sollte sich dagegen hüten, solche Weisheiten von sich zu geben)

    Die Freiheit besteht darin, dass wir Toleranz üben bei unseren Mitmenschen und unsere Mitmenschen Toleranz üben bei uns selbst.

    Und so gesehen ist ist das Polen Experiment ein kleines Übel,

    Der Volksmund sagt es treffend:”Zu viel und zu wink ist ein Ding” wink = wenig.

  10. @N 01.10. 12:32

    „Und seit die Menschheit erkannt hat, dass man mit Fürsorge Geld verdienen kann, sind wir ja wieder beim Thema Gesundheitspolitik.“

    Entsprechende Blüten kann das dann treiben, wenn hier das Geldverdienen die Hauptmotivation werden kann. Das ist dann nicht nur teuer, sondern auch lästig. Was ich schon alles erlebt habe an überflüssigen vorgeschlagenen Maßnahmen, das reicht mir.

    Dazu mögen auch ständige Gesundheitsaufklärung und Vorsorgemaßnahmen gehören. Es würde mich nicht wundern, wenn das über den Noceboeffekt sogar Krankheiten fördert. Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass die Leute immer kränker werden.

    Eigentlich sollte doch der Fortschritt der Medizin das Gegenteil bewirken.

    „Es gilt also den gangbaren Weg auszuloten, wo der Mitmensch die Fürsorge akzeptiert und sie nicht als Bevormundung ansieht.“

    Bei Sucht ist man öfter schnell dabei, die Leute zu bevormunden. Das gilt erster Linie für Prohibitionsmaßnahmen, manchmal aber auch für therapeutische Zwangsmaßnahmen. Es wird hier dass teils erhebliche Lebensleid ziemlich ausgeblendet, zugunsten von vordergründigen Argumenten für ein drogenfreies Ideal.

    @Paul S. 30.09. 21:19

    „Hoffnung, Leben, Aufbruch, Risikobereitschaft, Neugier, Offenheit, Freiheit…“

    Man muss sein Leben und auch seine Gesundheit riskieren, wenn man wirklich leben will. Ständig das Minimum an Risiko zu suchen ist dann am Ende womöglich sogar krankmachend. Und wenn es nur daran liegt, dass man sich mit zu viel Vorsicht am Ende einfach viel zu wenig trainiert.

    Es kann aber auch noch daran liegen, dass man vom Schicksal bestraft wird, wenn man sein Leben einfach nicht einsetzt. Leben ist immer fernab vom thermodynamischem Gleichgewicht, und will stets gefordert sein.

    Am Ende absolvieren die Mediziner eine umfangreiche und sehr anstrengende Ausbildung, um dann hinterher zur Hälfte Überflüssiges anzustellen. Das ginge alles sehr viel entspannter, wenn man sich wirklich nur auf sinnvolle Maßnahmen konzentrieren würde. Platz für mehr Menschlichkeit im Umgang wäre dann auch noch.

  11. Tobias Jeckenburger
    “Entsprechende Blüten kann das dann treiben, wenn hier das Geldverdienen die Hauptmotivation werden kann. Das ist dann nicht nur teuer, sondern auch lästig.”

    Zum Glück ist der Mensch besser als gedacht, in den Hospitzen des Mittelalters haben die Kranken und Sterbenden Obdacht gefunden auch ohne Bezahlung.

    Was wir heute erleben ist ein Luxusphänomen. Dem angehenden Arzt wird geraten nicht nur eine Diagnose zu stellen sondern auch noch eine Therapie anzubieten.
    Es ist ja kein Zufall dass die meisten Knieoperationen in Deutschland durchgeführt werden .

    Und ….wenn hier über die Grenzen der Gesundheitspolitik gesprochen werden soll,
    dann ist das auch eine Luxusgrenze. Oder doch nicht mehr ? Wenn ein Kranker ein halbes Jahr auf einen Termin beim Arzt warten muss ?

    Bleiben wir bei der Zigarette. Wer hier extra nach Polen fährt, der hat ein Luxusproblem.

  12. @Schleim

    Einen wunderschönen Abend 🙂

    Es wäre wohl die Frage übrig, haben Drogen einen Positiven Nutzen für den Menschen, oder sind sie eine reine Vermeidungsstrategie für unzuhaltare Zustände bzw. hedonistisches Handeln? Also fern des Kulturellen Aspekts versteht sich. Ich persönlich würde zwar schon sagen, das jegliche Stimulantien auch ihren Sinn haben, jedoch wäre wohl ein Kosten Nutzen Fazit wichtig. (Vergleiche Alkohol, Nikotin, Marihuana, Kokain, Lsd, Meth ect.) Also, in welcher Intensität davor warnen. Gesellschaftliche verpönung hilft a auch nicht gegen Missbrauch, wie man es beim Iran und seinen Alokoholabhängigen sieht.

    Zum Kostenargument: Ist glaub ich ähnlich wie bei der Förderung von Finanzknappen Gesellschaftsschichten. Langfristig sicher weit billiger und lukrativer (Der Staat kassiert statt Kriminielle Mileus) jedoch hören sie sich nicht so cool an, wie radikales alehnen und bekämpfen.

    Danke für die Anregung! Offener Dialog und eben selbst ausleben haben wohl den größten Erfolg, wichtig ist ja nur, das die Jüngeren auf das Zeug nicht hängen bleiben und es ein muss wird.

    Es wäre interessant andere Ansätze auch gesellschaftlich auszuprobieren, nur muss man dafür halt auch einige Gruppen überzeugen.

    P.S. Ich freue mich über jeden Leser hier mit ernsthaftem Interesse am Thema.

    Ernsthaftes Interesse habe ich stets dabei 🙂

  13. Nur ein Einwand:
    Das Mit-Rauchen ist tatsächlich sowohl unangenehm als auch schädlich.
    Das bemerke ich auch an meinen Husten-Anfällen.
    Jeder darf alles rauchen, solange ich nicht seine Abgase einatmen muss.

  14. @Forster: instrumenteller Konsum

    Es wäre wohl die Frage übrig, haben Drogen einen Positiven Nutzen für den Menschen …

    Das versuchen wir hier ja seit Jahren unter dem Begriff des instrumentellen Substanzkonsums zu diskutieren, hier die Einleitung in die (deutsche) Serie

    …oder mein neues Buch dazu (englisch) gibt’s sogar gratis.

    … oder sind sie eine reine Vermeidungsstrategie für unzuhaltare Zustände bzw. hedonistisches Handeln?

    Auch eine “Vermeidungsstrategie” (besser: Bewältigungsstrategie, engl. coping) kann einen Nutzen haben – warum konsumieren denn zum Beispiel Soldaten im Kriegseinsatz so viele psychoaktive Stoffe? Mitunter übrigens sogar Diamorphin und Methamphetamin (die in der Zivilgesellschaft freilich als “Heroin” und “Crystal Meth” verpönt sind).

    Die Einseitigkeit eines Großteils der wissenschaftlichen Forschung erkennt man sofort daran, dass sie nur von “Drogenmissbrauch” spricht und den möglichen Nutzen gar nicht mitbedenkt.

    Wenn man mal die Neugier des Menschen (engl. sensation seeking) außen vor lässt, die bei manchen eben stärker ist als bei anderen, so streben doch alle Lebewesen nach einer lebensfähigen Balance (Homöostase). Warum nehmen denn so viele Psychopharmaka (einschließlich Schmerzmitteln)?

  15. P.S. Natürlich

    In meinem Bekanntenkreis schwören viele auf “natural medicine” (denken dabei v.a. an Psilocybin oder vielleicht auch Ayahuasca, manchmal Kakao) – und treten gleichzeitig als Kreuzritter gegen Alkohol auf. Was könnte bitteschön natürlicher sein als ein Glas Bier oder Wein? Und im Gehirn wirkt’s eben vor allem auf die Botenstoffe Glutamat und GABA. In geringen Mengen positiver als in größeren.

  16. @Prof. S. Schleim
    Ihre sucht- und gesundheitspol. Position sei hier nur in einem wichtigen Gesichtspunkt ergänzt: kontrolliertes Alkoholtrinken. Daran arbeitet aktuell praktisch Prof. Joachim Körkel, Ev. FHS Nürnberg. Die wissenschaftlich-argumentative Grundlage zum Kontrollierten Trinkverhalten hat der Sozialwissenschaftler Dr. Richard Albrecht bereits 1981 in den Mitteilungen der Dt. Gesellsch. für Verhaltenstherapie in einer medizin- und betriebssoziol. Studie über alkoholgefährdete Beschäftigte 1981 skizziert.

  17. H.Heine und wer sich für Vodka interessiert.
    Betreff: Kontrolliertes Alkoholtrinken
    Wie die Russen dazu stehen.
    Als Apéritiv: Ein Viertel der russischen Männer erreicht das 55. Lebensjahr nicht. Etwa 30.000 Menschen sollen jedes Jahr an Alkoholvergiftung sterben – mindestens. Rund 14 Liter Alkohol werden in Russland jährlich von jedem der 144 Millionen Einwohner konsumiert.
    https://www.fluter.de/was-fuer-eine-flasche

  18. @Heine: kontrollierter Konsum

    Tja – wo kämen wir da denn hin, wenn jede*r selbst entscheidet, was für ihn/sie ein unproblematischer (Alkohol-) Konsum ist?

    Etwas ernster: In der Suchtmedizin galt lange Zeit das Dogma, dass nur Abstinenz das Therapieziel sein kann; früher durfte man noch nicht einmal in Psychotherapie behandelt werden, so lange man noch trank/konsumierte! Nach und nach erkennt man das jetzt, zumindest für manche Menschen, als unrealistisch. Aber man muss sich mal das Leid vor Augen halten, das durch dieses Dogma entstand! (Wohlgemerkt, nicht durch die Substanz, sondern das Denken der Therapeutinnen und Therapeuten, die eigentlich helfen wollen und sollen.)

    Literaturtipps:

    Körkel, J. (2008). Damit Alkohol nicht zur Sucht wird – kontrolliert trinken: 10 Schritte für einen bewussteren Umgang mit Alkohol. Stuttgart: TRIAS.

    Visontay, R. et al. (2023). Moderate Alcohol Consumption and Depression: A Marginal Structural Model Approach Promoting Causal Inference. Am J. Psychiatry, 180(3).

  19. @Schleim
    Ihren ernsten Hinweis nehme ich ernst. Sie verweisen letztlich auf das jeweils unterliegende Menschenbild. Und das von Körkel zielt auf einen mündigen & selbstentscheidenden Typus. – Hier der Hinweis aus dem Personenartikel “Richard Albrecht” bei wikipedia.de: Alkoholgefährdete Arbeitnehmer im Betrieb. Möglichkeiten und Grenzen von Rehabilitationsmaßnahmen. (= Mitteilungen der DGVT. Sonderheft III). Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, Tübingen 1981, ISBN 3-922686-50-8. – Freundliche Grüße, H. Heine

  20. @N 01.10. 12:32

    „Und ….wenn hier über die Grenzen der Gesundheitspolitik gesprochen werden soll,
    dann ist das auch eine Luxusgrenze.“

    Eine Luxusplage aber durchaus. Das ist wirklich alles sehr teuer. Geld, dass für die Energiewende und ganz aktuell für Aufrüstung fehlt.

    „Oder doch nicht mehr ? Wenn ein Kranker ein halbes Jahr auf einen Termin beim Arzt warten muss ?“

    Die überflüssigen Behandlungen sind doch auch hierbei Teil des Problems. Die Knieoperation ist offenbar lukrativer als die wirklich nötige Behandlung beim Hausarzt oder beim Psychiater. Wäre das besser geregelt, dass hier kein wirtschaftlicher Druck eine deutliche Schieflage verursachen würde, dann wäre auch das Problem mit partiellem Ärztemangel gelöst.

    „Bleiben wir bei der Zigarette. Wer hier extra nach Polen fährt, der hat ein Luxusproblem.“

    Der Suchtfaktor ist dann aber doch sehr konkret, und den würde ich jetzt wirklich nicht als Luxus abtun. Bei aller Schädlichkeit, im geringen Maße auch für Andere, ist der tatsächliche Spielraum meistens nicht so groß.

  21. @Schleim

    Vielen dank für die Verlinkungen! 🙂

    Wieweit Drogen eben auch als Stimulation und Verstärkung des Körpers genommen werden (zb. Koffein und Teein) ist sowieso ein gerade recht populäres Thema. Gerade im Prozess sind Mikrodosis einnahmen zur Leistungssteigerung

    Wobei eben hier vielleicht der Hund begraben liegt. Trinke ich gemeinsam mit meinen Artgenossen ein Bier um zu feiern, so hat das ja eine kulturelle Verbundenheit. Trinke ich, um mit meinem Leben klarzukommen oder um leistungsfähig zu bleiben, beginnt hier wohl schon der Verfall.

    Bezüglich der Russen und ihr hang zum Wodka: Der seit Jahrzehnten geförderte Alkoholmissbrauch gegen die eigene Bevölkerung hat einen ähnlichen Effekt wie die komplette Alkohol Abstinenz im Iran. Dort gibt es ebenfalls eine große menge an Alkoholkranken, aber wird durch die gesellschaftliche verpönung nur noch tiefer getrieben.

    oder auch: Warum sind die Drogentoten in Westeuropa nicht so hoch wie bei den USA?

    Anscheinend durch die Anerkennung und die Möglichkeit von Ersatz Medikamenten die den Konsum mit der Zeit reduzieren lassen. Gesellschaftliche Akzeptanz, gepaart mit Hilfestellung bei Überkonsum scheint dabei gut zu funktionieren 🙂

  22. @Forster: Homöostase

    Trinke ich, um mit meinem Leben klarzukommen oder um leistungsfähig zu bleiben, beginnt hier wohl schon der Verfall.

    Die Bewältigung eines Problems ist doch erst einmal ein Versuch, mit einer geänderten Situation klarzukommen; die Aufrechterhaltung der Homöostase, des Lebensgleichgewichts, ist ein Kennzeichen allen Lebendigen. (Was schon irgendwie tautologisch ist, denn ohne Lebensgleichgewicht tritt automatisch der Tod ein.)

    Wie kommen Sie jetzt auf Verfall? Sind das keine Vorurteile der Form, zusammen trinken = gut, alleine trinken = schlecht? Es bleibt beim Feiern mit Freunden ja eher nicht bei dem “einen Bier”.

    Ein Problem wird’s, denke ich, wenn Probleme, die eine Anpassung erfordern, langanhaltend nicht gelöst werden und/oder sich aufstapeln. Das kann man eben nicht mit Alkohol- oder was für einem anderen Konsum bewältigen, jedenfalls nicht auf Dauer.

    Wenn das Problem von selbst aufhört, kann man es aushalten; ansonsten sollte man es lösen. Dafür gibt es individuelle wie gemeinschaftliche, biologische, psychische und soziale Strategien.

  23. P.S. Psychopharmaka

    Warum nennen wir jemanden mit hohem Alkoholkonsum “Alki”, nicht aber jemanden mit hohem Antidepressivakonsum “Serotoni” oder mit hohem Schmerzmittelkonsum “Paramoli”?

    Das sagt mehr über uns und unsere Moral als über die wissenschaftlichen Fakten.

  24. T.Jeckenburger
    “Der Suchtfaktor ist dann aber doch sehr konkret, und den würde ich jetzt wirklich nicht als Luxus abtun”

    Du hast vollkommen Recht, Abhängigkeit ist oft stärker als jeder Wille.
    Einem unserer Nachbarn hat man das Raucherbein abgenommen. Was hat er nach der Operation wieder gemacht, ……eine Zigarette angezündet !

    Freud war selbst ein “Opfer” seiner Süchte. Er trank Alkohol, rauchte und nahm Kokain. Interessant dazu ist seine Theorie über Lustprinzip, Realitätsprinzip und Verdrängung.

    Stephan Schleim
    die Vorstellung vom Lebensgleichgewicht ist verständlich und auch vernünftig.
    Man darf sich über seinen Mitmenschen nicht moralisch erheben.
    Anmerkung: Der Gesetzgeber hat keine Gefühle, deswegen wird jede Gesetzgebung immer nur eine Lösung auf Zeit sein.
    Tipp: menschen-bilder . Die Finden Sie im Buchheim Museum am Starnberger See. Danach sind Sie nicht mehr der Gleiche.

  25. @Tobias & N: “Sucht”

    Es ist seit über 100 Jahren keiner medizinischen oder wissenschaftlichen Gruppe gelungen, eindeutig zu definieren, was “Sucht” (engl. addiction) sein soll; die WHO hat es in den 1960ern offiziell aufgegeben.

    Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass es keinen problematischen Substanzkonsum gibt.

    Der heutige Konsens ist aber, dass problematische Substanzabhängigkeit mit Kontrollverlust und Leid/bzw. Schaden einhergehen muss; kein Kontrollverlust und Leid/bzw. Schaden, kein Problem. 🤷🏻

    Das stand hier bestimmt schon einmal irgendwo im Blog bzw. hätten Sie in meinem kostenlosen eBook nachlesen können. Na, na!

  26. @Schleim

    Guten Abend!

    Ich wollte gar nicht auf Einzeltrinken hinweisen, vielleicht eher wie bei einem extremsportler der sich auf etwas vorbereitet.

    Es wird hohe Leistung (Körperlich, Geistig und Seelisch) gefordert, die wird zum teil mit Leistungssteigernden Produkten gehalten. Das geht ja auf eine gewisse Zeit, darf aber nicht der IST zustand werden, da sonst die Komponenten (Körper, Geist, Seele) eingehen.

    Das Wort Homoöstaase finde ich in diesem Zusammenhang übrigens genial und werde es wohl in meinen Wortschatz eingliedern.🙂

    Ich benutze öfters eher harte, radikale Worte (Verfall). Das hat jetzt keine direkt abwertende Tendenz von meiner Seite. Jedenfalls wollte ich es nicht so rüberbringen.

    Psychopharmaka: Vielleicht “beste Freunde der Pharma” kurz bfdp? Wobei das in Deutschland wohl verwechslungsgefahr birgt.

  27. Stephan Schleim
    Einverstanden, Sie schreiben ja kurz und verständlich “legitimate drug use reflects our own culture.”

    Und es ist eben eine Sache von Toleranz, wieviel Schaden durch drugs toleriert wird.

    Und es ist eine Sache von Staatsauffassung inwieweit der Staat sich mit dem
    Leid der einzelnen Bürger identifiziert oder ob Institutionen keine Gefühle haben dürfen.

    Anmerkung: Sie beschreiben diesen Spannungszustand als problematische Substanzabhängigkeit mit Kontrollverlust und Leid.
    Da gehe ich mit Ihnen conform.

  28. @Forster: Gleichstand vs. Änderung

    Dieses Spannungsfeld – und sagten Sie: Leistungsgesellschaft? – charakterisiert doch unser Leben. Früher lebte man mit Sonnenauf- und Untergang. Es gab die vier Jahreszeiten. Aber wohl kein “Burn-out”.

    Heute will ich gar nicht wissen, wie viele Updates permanent auf mein Telefon geladen werden, beinahe täglich, weil mich das stresst.

    Und manche Mittel, die Menschen dabei helfen, damit umzugehen, die erlauben wir (während wir Menschen einreden: Achtung, sie sind gefährlich!), und andere, die verbieten wir, dann nennen wir die Konsumierenden: Kriminelle!

    Und wenn dann jemand zusammenbricht, dann sagen wir nicht, dass war die Stressgesellschaft, sondern: das Mittel, die Substanz. Oder die Gene. Immer nur der Teil, die das Ganze.

    Tja. Homöostase, wonach unser Organismus strebt, das heißt wortwörtlich Gleichstand (besser: Gleichgewicht). Und wir leben in einer Zeit, in der nichts gleich bleiben darf.

    Ist es ein Wunder, dass immer mehr Menschen psychisch/psychosomatisch/somatisch krank werden?

  29. P.S. Selbst die Guten unter den Professor*innen die mir in meinem Leben begegnet sind, die waren so gut wie immer gestresst. Und weil das der “Normalzustand” ist, fällt das niemandem auf, wie dem Fisch das Wasser.

    Verrückte Welt.

  30. @N: Mittel & Kultur

    Das soll ich geschrieben haben? Na, dann wird’s wohl stimmen. 😉

    Gerade gelesen: Diamorphin (Heroin) blieb in Großbritannien immer, jedenfalls bis ins frühe 21. Jh., ein zulässiges Arzneimittel, v.a. bei Lungenkrebs. In den USA war es ab den 1920ern/1930ern das Teufelszeug schlechthin; immense Ressourcen flossen in den Streit, es wieder zuzulassen oder nicht – und es über all die Jahrzehnte zu verbieten.

    Großbritannien hat natürlich, verschärft durch den Brexit, große soziale Probleme; aber die schlimmste Epidemie aller Zeiten mit Heroin-artigen Substanzen (Opiaten, Opioiden), die haben die USA.

  31. “Die eigene Freiheit endet an der Freiheit der anderen.” (Stephan Schleim)

    Das ist natürlich ein netter Anspruch, aber was heißt der konkret. Darf man nur rauchen, wenn man garantieren können, da andere frei von jeglichen Einflüssen durch den Rauch bleiben? Reicht etwa der Geruchseinfluss schon aus? Darf man nur trinken, wenn man dadurch anderen keinen Einschränkungen auferlegt durch das eigene veränderte Verhalten (Gewalt, Unfälle, Belästigungen)?

  32. @Levi: Beispiel Rauchen & Alkohol

    Das Beispiel mit dem Rauchen fällt für mich eher in den Bereich der Höflichkeit als den der strafrechtlichen Reglementierung. Man kann schon einmal schauen, wem der Rauch in die Nase steigt, wenn man sich eine Zigarette ansteckt, oder? Und wenn jemand im Restaurant viel Geld für eine Mahlzeit bezahlt, dann ist es doch verständlich, dass der das Essen schmecken will und nicht den Rauch, oder?*

    Belästigungen,** Unfälle und Gewalt halte ich sehr deutlich für Beispiele dafür, die anderen in ihrer Freiheit einzuschränken, ja; das liegt übrigens nicht an der Frage, ob das durch Alkohol geschieht oder nicht. Aber wer unter dem Substanzeinfluss zu solchen störenden bis gefährlichen Verhaltensweisen neigt, der sollte weniger oder zumindest anders konsumieren, ja.

    * Für solche Fälle gibt es auch Hausregeln: Dann weiß jeder, worauf er sich einlässt; und wem’s nicht passt, der geht besser woanders hin. Das ist auch ein Beispiel für Freiheit, nämlich Vertragsfreiheit.

    ** Beim Begriff der Belästigung hat man natürlich das Problem der Definition: Was A als Belästigung empfindet, ist für B vielleicht normal; und das lässt sich auch gesetzlich definieren.

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