Das Gehirn vor Gericht

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Blüht unserem Rechtssystem eine Neuro-Revolution? Werden bald „gefährliche Gehirne“ aus dem Verkehrt gezogen – statt Personen zur Verantwortung? Helfen Hirnscans, Verdächtige einer Straftat zu überführen oder ihre Schuldfähigkeit zu klären?

Von den Vertretern des harten Determinismus, die aufgrund der vollständigen neuronalen Bestimmung von Willen und Handlung keinen Platz für Freiheit und Verantwortung sehen, wird sie gerne proklamiert, die Neuro-Revolution. Doch anders als bei politischen Revolutionen, geht es ihnen nicht darum, eine Regierungsform durch eine andere zu ersetzen, sondern gleich die ganze Theorie vom Menschen umzustürzen. Der Mensch ist demnach keine Person mehr, die aus Gründen handelt, sondern ein Gehirn mit Anhängseln, in dem elektrische Signale übermittelt werden. Wenn aber niemand aus freien Stücken oder Gründen handele, dann sei es verkehrt, Menschen die Verantwortung für ihre Taten zuzusprechen und, sofern sie krimineller Natur sind, dafür zu verurteilen. Wie könne man jemanden für schuldig befinden, wenn es doch bloß das Neuronenfeuern war und keine Gründe, das Gehirn und nicht der Mensch?

Diese metaphysische Position, die gerne von manchen namhaften Hirnforschern vertreten wird, folgt dabei weder aus den wissenschaftlichen Beobachtungen, noch ist sie selbst wissenschaftlich. Aus der Entdeckung bestimmter Gesetzmäßigkeiten, denen der neuronale Informationsaustausch unterliegt, folgt keinesfalls die Annahme des vollständigen Determinismus. Beispielsweise gibt es auch Gesetze, die den radioaktiven Zerfall beschreiben – dennoch gilt dieser als Paradebeispiel für einen indeterministischen Prozess. Davon, die auf Zellebene beobachteten Regelmäßigkeiten und in den Lehrbüchern beschriebenen Mechanismen mit menschlichen Handlungen in Zusammenhang zu bringen, ist man noch meilenweit entfernt. Tatsächlich können die Vertreter der Determinismusthese immer darauf verweisen, man habe eben noch nicht alle festlegenden Faktoren gefunden, so lange noch eine Lücke in der vollständigen neuronalen Erklärung des Menschen klafft. Damit ist sie aber nicht widerlegbar und genügt nicht dem Kriterium der Falsifizierbarkeit, das dem Wissenschaftstheoretiker Karl Popper zufolge für wissenschaftliche Theorien essenziell ist. Dass der harte Determinismus von Wissenschaftlern vertreten wird, macht die Position nicht automatisch wissenschaftlich.

Die Neuro-Revolution ist allerdings nicht nur eine Spielwiese für Theoretiker und Philosophen, sondern hat bereits ganz praktische Blüten getrieben. Man denke beispielsweise an die beiden US-amerikanischen Firmen, No Lie MRI und Cephos, die an Verfahren arbeiten, Wahrheit und Lüge anhand der Gehirnaktivierung zu unterscheiden. Dabei stützen sie sich auf experimentelle Daten, die mit der Kernspintomographie gewonnen wurden. Hier ist es allerdings wichtig, die experimentelle Situation nicht einfach mit einer realen gleichzusetzen, wie sie in der wirklichen Welt vorkommen mag. Wenn beispielsweise Studenten vom Versuchsleiter eine Spielkarte bekommen und danach an einem Computer immer den „nein“-Knopf drücken sollen, wenn auf dem Bildschirm steht, ob sie diese Karte besitzen, ist das sehr weit von der Lebenswelt entfernt. Nicht ohne Grund fordert daher auch der Neuroethiker Henry Greely die Regulierung dieser Technologie – und zwar rechtzeitig vor ihrem Einsatz:

Wir brauchen eine Institution, die den Einsatz bildgebender Verfahren zur Lügendetektion reguliert. (Henry Greely, Professor Rechtswissenschaft an der Stanford University)

Damit ist die Hirnforschung aber keinesfalls vom Tisch. Sehr wohl müssen sich neben den Neurowissenschaftlern auch Philosophen, Ethiker und Juristen mit den neuen Entwicklungen auseinander setzen. Denken wir an therapeutische Eingriffe ins Gehirn, an Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung oder auch an die Möglichkeit des „Gedankenlesens“ – in allen diesen Bereichen ist es wichtig, die empirischen Daten ernst zu nehmen und auf ihre sinnvolle Verwertbarkeit für praktische Anwendungen aber auch ihr Missbrauchspotenzial zu überprüfen. Nirgends ist aber eine Neuro-Revolution in Sicht und der Ruf nach ihr erinnert an die märchenhafte Warnung vor dem bösen Wolf, der dann doch nicht kommt.

In der neuen Ausgabe von Gehirn&Geist findet sich eine dreiteilige Artikelserie, in der die neurowissenschaftlichen Funde im Hinblick auf ihre rechtlichen Konsequenzen diskutiert werden. Der Artikel „Justizias neue Kleider“, in denen die Frage des neuronalen Determinismus und vier konkrete Szenarien ausführlicher diskutiert werden, ist als kostenlose Leseprobe erhältlich.

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5 Kommentare

  1. @ warum eigentlich….

    gehören jene, welche solche, noch irrationalen Behauptungen aufstellen, zu den “namhaften” Wissenschaftlern und nicht die, welche sich an die Fakten halten ?

    Ich weiß, lieber Herr Schleim, über die Antwort dazu können wir nur rätseln, daher ist diese Frage auch nur eine rein rhetorische, welche zum Ausdruck bringt, dass ich mich sehr darüber wundere, dass immer diejenigen “namhaft” werden, welche uns allzu einfache bzw. vereinfachende (Welt-)Erklärungen liefern…….

  2. @Armand: Umgekehrte Kausalität?

    Liebe Frau Armand,

    man müsste hier genauer untersuchen, wie die zeitliche Reihenfolge ist. Ich denke, viele der “namhaften Hirnforscher” haben durchaus solide Forschung geleistet, um sich den Namen zu verdienen. Warum manche dann später die Wissenschaft hinter sich lassen und sich auf das Gebiet der Metaphysik begeben, zudem mit fragwürdigen Argumentationen, das kann ich Ihnen allerdings nicht verraten.

    Viele Grüße

    Stephan Schleim

  3. @ Umgekehrte Kausalität

    Ja, ich gebe Ihnen recht. Die Grundlagenforschung der “Namhaften” ist durchaus fundiert und sogar mit Fragen und kritischen “Untertönen” versehen….jederzeit auch für kritische wissenschaftliche Arbeiten zitierfähig und plausibel…

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