“Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo”

Ein Folgeinterview mit dem Psychologen Michael P. Hengartner

Frage: Herr Dr. Hengartner, in Ihrer neuen Forschungsarbeit und unserem Interview kamen sie zu dem Schluss, die immer häufiger verschriebenen Antidepressiva seien größtenteils nutzlos und potenziell schädlich (“Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich”). Ich fasse kurz einige der wichtigsten Punkte zusammen:

Bei den Wirksamkeitsstudien der Medikamente gebe es systematische Verzerrungen bei der Placebo-Kontrolle. Beispiele sind, dass Patienten mit starker Placebo-Reaktion oftmals ausgeschlossen werden und viele Patienten sowie Forscher aufgrund der gemeldeten Nebenwirkungen erraten könnten, wer Placebo bekam und wer den Wirkstoff. Außerdem seien schwerwiegende Nebenwirkungen unterschlagen oder so umformuliert worden, dass die Antidepressiva in einem besseren Licht dastehen. Ein allgemeines Problem seien die finanziellen Verstrickungen vieler Forscher mit der Pharmaindustrie.

Neue Studie im Lancet

Nur wenige Tage nach unserem Gespräch, am 21. Februar, erschien in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift Lancet eine Studie, die zu einem ganz anderen Schluss kommt: Auf Grundlage der Daten von rund 115.000 Patienten zeige sich, dass alle der 21 untersuchten Antidepressiva besser wirken als Placebo. Sogar die Nachrichtenagentur Reuters berichtete darüber.

Der Psychiatrieprofessor Carmine Pariante vom King’s College in London kommentierte, mit der Studie gehöre der Streit über die Wirksamkeit von Antidepressiva endlich zu den Akten gelegt. Kommentatoren im Telepolis-Forum verwiesen nur wenige Minuten nach Erscheinen unseres Interviews auf diese neue Veröffentlichung. Sie halten dennoch an Ihrer Meinung fest. Warum?

Michael P. Hengartner: Zuerst will ich nochmals festhalten, dass ich nicht behauptet habe, Antidepressiva hätten überhaupt keinen Effekt, bloß dass sie mehrheitlich, also in den meisten Fällen, wirkungslos bzw. nutzlos seien. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Es muss weiter betont werden, dass die Lancet-Studie selbst nicht zu einem ganz anderen Schluss kam als ich und sehr zurückhaltend formuliert wurde. Die Studienautoren interpretierten die Befunde dahingehend, dass Antidepressiva sich signifikant, d.h. überzufällig, von Placebo unterscheiden und darum wirksam sind, dass die ermittelte Effektstärke jedoch schwach sei.

Meistens nicht besser als Placebo

Ein Effekt in dieser ermittelten Größenordnung bedeutet, dass sich Medikament und Placebo bei rund 90% aller Patienten in ihrer Wirksamkeit nicht unterscheiden. Diese wichtige Information wird in der Arbeit aber leider nicht erwähnt. Die Autoren räumten jedoch ein, dass die Gefahr für Verzerrungen (im Sinne einer Überschätzung der Wirksamkeit) moderat bis hoch sei und dass keine Rückschlüsse auf die Langzeitwirkung der Medikamente getätigt werden können

Die Studie berichtet außerdem nicht nur Wirksamkeit bezüglich Symptomreduktion, sondern auch die Rate vorzeitiger Behandlungsabbrüche. Viele Forschende erachten dieses Maß als das zuverlässigere Wirksamkeitskriterium, da es objektiv und weniger anfällig für Verzerrungen ist. Bezüglich vorzeitiger Behandlungsabbrüche waren nur 2 Medikamente statistisch signifikant besser als Placebo (obschon auch hier die Effekte schwach waren); 18 unterschieden sich nicht von Placebo, und 1 Medikament war sogar signifikant schlechter als Placebo.

Wenn man die schwache Effektstärke bezüglich kurzfristiger Symptomreduktion und die vorzeitige Abbruchrate zum Maßstab nimmt, und dies vor dem Hintergrund eines beachtlichen Verzerrungsrisikos interpretiert, so wäre es maßlos übertrieben hier von einem überzeugenden Wirksamkeitsnachweis zu sprechen. Hier haben die Medien unkritisch und falsch berichtet.

Leider haben sich insbesondere Kommentatoren mit ablehnenden bis sogar feindseligen Rückmeldungen einzig und allein auf diese Medienberichte gestützt. Die Lancet-Studie selbst haben die meisten wahrscheinlich gar nicht gelesen.

Antidepressiva sind größtenteils wirkungslos

Ich denke, dass die korrekte Schlussfolgerung darum ist, dass Antidepressiva größtenteils, das heißt, bei den meisten Patienten, wirkungslos sind. Dass Medienberichte und einige Fachpersonen eine ganz andere Botschaft übermittelt haben, ist ein anderes Problem. Aber vielleicht sollten Sie dann eher diese Parteien fragen, wie sie zu solch einer unkritischen und undifferenzierten Schlussfolgerung gekommen sind.

Dass diese Meta-Analyse keinesfalls beweist, dass Antidepressiva wirksam sind, haben auch verschiedene renommierte Professoren wie Peter Gotzsche und Joanna Moncrieff hervorgehoben.

Individuelle Unterschiede

Frage: In der Online-Diskussion zu unserem Interview ging es bisweilen heiß her. Manche steckten Sie oder uns beide in eine Ecke mit Impfgegnern. Vereinzelt schrieben Patienten, wie Antidepressiva ihr Leben gerettet hätten; andere erklärten, die medikamentöse Behandlung habe ihr Leben beinahe vernichtet.

In Erinnerung blieb mir auch die Reaktion eines psychiatrischen Krankenpflegers, der die Frage aufgrund seiner langjährigen Erfahrung schwer zu beurteilen fand, in letzter Konsequenz den Antidepressiva aber mehr Positives als Negatives beimaß. Wie erklären Sie sich solche großen Unterschiede in der Praxis?

Michael P. Hengartner: Die in den Studien berichteten schwachen Effektstärken sind Mittelwerte. Das bedeutet darum auch, dass einige wenige Patienten einen deutlichen Nutzen wahrnehmen, sowie aber andere auch einen beachtlichen Schaden erfahren. Beide Extreme, das heißt, großer Nutzen sowie großer Schaden, sind aber seltene Fälle.

Die große Mehrheit der Patienten streut nahe um den Mittelwert, im Bereich keiner Wirkung bis schwacher Wirkung. Das sind ganz simple aber grundlegende Gesetze der Statistik.

Dass in der Klinik häufiger ein vermeintlicher Nutzen beobachtet wird, als in den wissenschaftlichen Studien, hat damit zu tun, dass in der Praxis der Placeboeffekt nicht vom eigentlichen Wirkstoff des Medikamentes unterschieden werden kann. Wie oben erläutert wurde, ist rund 90% der Wirksamkeit von Antidepressiva auf Placeboeffekte zurückzuführen.

Dies mag den Eindruck erwecken, dass die Medikamente in der Mehrheit aller Fälle wirksam und nützlich sind. Dass die gleiche Wirkung jedoch auch mit einem Traubenzucker bei deutlich weniger Nebenwirkungen erreicht werden könnte, ist man sich viel zu selten bewusst.

Und bezüglich persönlicher Angriffe und der Diskreditierung als Impfgegner: Ich selbst bin natürlich geimpft und habe großes Vertrauen in den Impfschutz. Scheinbar fühlen sich insbesondere einige Ärzte durch meine kritische Evaluation der Antidepressiva persönlich angegriffen, so dass sie dann zum Gegenschlag ausholen.

Zweifel am Nutzen einer medikamentösen Therapie verletzt diese Leute womöglich in ihrer Berufsidentität. Jedenfalls versuche ich, mir darüber nicht zu viele Gedanken zu machen, denn dadurch kommen die Forschung und der Erkenntnisgewinn nicht weiter.

Statistisch signifikant, nicht klinisch relevant

Frage: In die Diskussion schaltete sich auch PD Dr. Martin Plöderl ein, Suizidpräventionsforscher an der Medizinischen Paracelsus-Universität in Salzburg. Er machte den Hinweis, der Effekt der neuen Lancet-Studie sei zwar statistisch signifikant, nicht aber klinisch relevant. Tatsächlich wurde in der medialen Berichterstattung vor allem die Botschaft verbreitet, Antidepressiva würden wirken – wie stark diese Wirkung ist, wurde jedoch kaum kommuniziert. Was ist Ihre Sicht auf diesen Punkt?

Michael P. Hengartner: Ja, das ist genau das grundlegende Problem. Es wird – wohl bewusst – selten über die Effektstärke berichtet. Ich habe oben bereits erläutert, dass bei einer Effektstärke dieser Größenordnung rund 90% der Wirksamkeit auf Placeboeffekte zurückzuführen ist. Dies heißt aber nicht, dass die restlichen 10% zwingend auf die medikamentöse Wirkung zurückzuführen sind.

Wie in meiner Übersichtsarbeit und im Interview erwähnt, gibt es zahlreiche methodische Verzerrungen, welche diesen restlichen Effekt erklären können. Prof. Peter Gotzsche, Direktor des Nordic Cochrane Center und einer der arriviertesten Forscher in der Medizin, hatte beispielsweise berechnet, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva vollends verschwindet, wenn die Verzerrung durch den Beobachtereffekt statistisch mitberechnet wird. Der Beobachtereffekt beruht auf dem Umstand, dass die Begutachter in den Studien aufgrund spezifischer Nebenwirkungen meistens erahnen können, welcher Patient den Wirkstoff bekommt und wer das Placebo.

Medikamente, die wirken, weil sie neu sind?

Diese Verzerrung zeigte sich übrigens auch in der Lancet-Studie: So wurden Medikamente, wenn sie neu auf den Markt kamen und die Hoffnung auf Wirksamkeit hoch war, deutlich wirksamer eingeschätzt, als wenn sie nicht mehr ganz neu waren. Da ein Medikament ja nicht an Wirksamkeit verliert, nur weil es bereits ein paar Jahre auf dem Markt ist, ist dies ein klares Indiz dafür, dass die Erwartungshaltung der Begutachter die Ergebnisse verfälscht hat.

Aber auch diese wichtige Information wurde in den Medienberichten mit einigen wenigen Ausnahmen unterlassen – Spiegel Online veröffentlichte im Gegensatz zu anderen Medien einen durchweg kritischen Bericht und hatte auf diesen Umstand hingewiesen. Dass aber führende Psychiatrieprofessoren wie Carmine Pariante in ihren Stellungnahmen solch wichtige Aspekte mit keinem Wort erwähnen, finde ich sehr bedenklich und stellt deren wohlwollende Interpretation der Studie in Frage.

Um die zweifelhafte Wirksamkeit der Medikamente nochmals mit anderen Zahlen zu verdeutlichen: Der mittlere Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo in der Lancet-Studie und früheren Analysen entspricht rund 2 Punkten auf der meistverwendeten Depressions-Beurteilungsskala, welche von 0 bis 54 Punkte reicht. Oftmals wird auf dieser Skala eine Differenz von mindestens 3 Punkten für einen klinisch minimalst bedeutsamen Effekt vorausgesetzt. Dieser Wert wurde jedoch eher willkürlich festgelegt.

Wissenschaftliche Befunde suggerieren, dass eine Fachperson erst ab 7 Punkten eine minimale Verbesserung in der depressiven Symptomatik eines Patienten wahrnehmen kann. Selbst wenn man annimmt, dass der ermittelte Effekt von 2 Punkten nicht durch Verzerrungen aufgebläht wurde, was sehr unwahrscheinlich ist, so ist die angebliche Wirksamkeit von Antidepressiva dennoch dermaßen klein, dass selbst der geübteste Kliniker diesen Effekt bei seinen Patienten unmöglich feststellen könnte.

Und die Psychotherapie?

Frage: Ihnen wurde auch eine zu unkritische Sicht auf die Psychotherapie vorgeworfen. Am Anfang unseres Gesprächs hatten Sie erwähnt, sich auch mit der Psychotherapieforschung beschäftigt zu haben. Darauf sind wir aber nicht mehr zurückgekommen. Vielleicht können Sie hier nun ergänzen, zu welchen Ergebnissen sie diesbezüglich gekommen sind. Verdienen Sie eigentlich selbst Geld als Psychotherapeut?

Michael P. Hengartner: Ich habe soeben eine kritische Arbeit zur Wirksamkeit von Psychotherapie publiziert. Auch hier haben systematische Verzerrungen in der Methodik zu einer deutlichen Überschätzung der kurzfristigen Wirksamkeit geführt.

Jedoch wissen wir inzwischen auch, dass sich der primäre Nutzen der Psychotherapie im Vergleich zur medikamentösen Behandlung nicht in der kurzfristigen Symptomreduktion äußert, sondern hauptsächlich in einer dauerhaften und nachhaltigen Beschwerdefreiheit. Dies wurde in mehreren Meta-Analysen repliziert.

Zudem verbessert Psychotherapie auch das soziale Funktionsniveau der Patienten, was Medikamente nicht können. Und ich verdiene kein Geld als Psychotherapeut. Ich bin momentan einzig und allein in Forschung und Lehre tätig.

Steigende Diagnosezahlen

Frage: Zum Schluss noch eine Frage aus aktuellem Anlass: Die Barmer Ersatzkasse veröffentliche gerade am 22. Februar ihren Arztreport 2018. Darin heißt es, die Anzahl der Diagnosen für depressive Störungen bei jungen Erwachsenen sei von 4,3% im Jahr 2005 auf 7,6% im Jahr 2016 gestiegen, also um beachtliche 75%.

Auch die Anzahl derer, die Antidepressiva verordnet bekamen, sei von 2,1% auf 3,3% gestiegen. Sogar noch stärker, nämlich um 89%, habe die Diagnose für Reaktionen auf schwere Belastungen zugenommen: Diese erhielten inzwischen 6,6% der jungen Erwachsenen.

Laut dem neuen Arztreport der Barmer Ersatzkasse gab es bei jungen Menschen einen beachtlichen Anstieg bei der Diagnose von Depressionen.

Nun behaupten aber die führenden Forscher zur Häufigkeit psychischer Störungen seit vielen Jahren, es gebe keinen Anstieg. Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung selbst mit der Epidemiologie, also mit der Häufigkeit psychischer Störungen. Was ist Ihre Sichtweise auf dieses Thema?

Michael P. Hengartner: Diese Zahlen in der genannten Arbeit beruhen auf diagnostizierten Fällen, das heißt, auf der Diagnosestellung durch zuständige Fachpersonen (z.B. Hausärzte oder Fachärzte in Kliniken). Nun hat die Sensibilisierung für die Diagnose Depression tatsächlich dazu geführt, dass sie von Fachpersonen stärker berücksichtigt wird und darum auch häufiger diagnostiziert wird, wohingegen die Störung vor vielleicht 20-30 Jahren, selbst wenn vorhanden, oftmals nicht erkannt wurde und darum auch nicht diagnostiziert wurde. Darum der Anstieg der Diagnose in den letzten Jahren.

Hierbei geht es aber nur um die Bestimmung der Störung, das heißt, um die Diagnosestellung. Die Verbreitung der Störung in der Allgemeinbevölkerung hat deswegen nicht zugenommen. Fast alle epidemiologischen Studien kommen zum Schluss, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von Depressionen in der Bevölkerung seit vielen Jahren nahezu unverändert hoch ist. Zu diesem Ergebnis kam auch eine neuere Studie.

In dieser Arbeit wird auch aufgezeigt, dass die massive Zunahme der Antidepressivaverschreibungen nicht zu einer Reduktion der Depressionshäufigkeit geführt hat. Das finde ich sehr interessant, denn sollten die Medikamente tatsächlich wirksam sein, dann hätte die vielfache Zunahme in den Verschreibungsraten seit den 1990er Jahren ja zu einem deutlichen Rückgang der Störung führen sollen.

Antidepressiva, sofern wirksam, sollten ja nicht nur die Symptome abmildern oder gänzlich beseitigen. Sie sollten angeblich auch Wiedererkrankungen vermeiden. Folglich sollte die Rechnung lauten: Je mehr Antidepressiva, desto weniger depressive Episoden. Leider ist es aber nicht so.

Das ist natürlich auch den Autoren aus der obengenannten Studie aufgefallen. Nur interpretieren sie diesen Widerspruch dahingehend, dass die Medikamente nicht an die richtigen Personen in der richtigen Dosierung verschrieben werden. Dies mag zu einem gewissen Grad sicherlich zustimmen, doch meines Erachtens ist die plausiblere Erklärung, dass die Medikamente größtenteils einfach wirkungslos sind. Nur so kann ich mir erklären, dass die Häufigkeit von Depressionen nicht rückläufig ist.

Wer differenzierte und wissenschaftlich fundierte Informationen über Antidepressiva sucht, insbesondere auch über die oftmals verschwiegenen schädlichen Langzeitfolgen oder über schwere Enzugssymptome beim Absetzen, sei auf die Internetseite des Council for Evidence-Based Psychiatry verwiesen. Diese Seite wird von führenden Experten auf dem Gebiet unterhalten und laufend aktualisiert.

Hinweis: Dieser Beitrag erscheint parallel auf Telepolis – Magazin für Netzkultur.

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Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

27 Kommentare

  1. Auch Michael P.Hengartner macht in meinen Augen eine vorschnelle Schlussfolgerung, wenn er aus der gleichzeitigen Zunahme der Antidepressivaverordnung und der Anzahl der Depressisonsdiagnosen, schliessen will, dass dies ein weiterer Hinweis auf die Wirkungslosigkeit von Antidepressiva sei. Denn:
    1) der Verordnungsanstieg ist zwar deutlich, doch nur ein kleiner Teil der Gesamtbevölkerung (jeder daraus kann erkranken) erhält überhaupt Antidepressiva. Im Jahr 2006 wurden 2% der Bevölkerung Antdepressiva verordnet, im Jahre 2016 3.3%. Dieser Verordnungsanstieg könnte sich nur dann deutlich auf die Gesamterkrankungsrate auswirken, wenn es wenig Ersterkrankungen gäbe, Rezidiverkrankungen aber häufig wären.
    2) Es fehlt eine Angabe wieviele der Patienten während der Einnahme von Antidepressiva einen neuen Depressionschub erleiden.
    3) Niemand behauptet, Antidepressiva heilten Depressionen dauerhaft und es ist bekannt, dass viele Patienten Antidepressiva vorzeitig absetzen.

  2. Die Lancet-‘21 antidepressants’ Metaanalyse wird auch auf der Website Psychotropical Research besprochen und dort wird vor allem darauf hingewiesen, dass diese Metastudie nur eine kleine Subgruppe von depressiven Patienten überhaupt aufnahm (Zitat, übersetzt von DeepL):
    Wir dürfen nicht vergessen, dass die betrachteten Studien nicht diejenigen mit suizidaler Depression (vielleicht die wichtigste Gruppe für eine wirksame Behandlung), die Jungen, die Alten, die mit medizinischen Komorbiditäten, die mit anderen Medikamenten behandelten, und die große Gruppe ohne erreichte Remission mit der Erstbehandlung (~70%), umfasst.

    Das bedeutet, dass solche Analysen nur für etwa 10 % der “realen” Patienten relevant sind, die für die Behandlung mit Antidepressiva in Frage kommen, und nicht für diejenigen, die in der Facharztpraxis gesehen werden.

    Fazit: Die Lancet-Metastudie über die Wirksamkeit von Depressiva ist allein schon problematisch, weil sie sehr viele Patienten ausschloss und damit nur etwas über eine kleine Subgruppe von mit Antidpressiva behandelten depressiven Patienten aussagt.

  3. @Holzherr: Ausschluss “echter” Patienten

    Danke für den Hinweis; ja, das hatten wir im ersten Interview bereits ausführlich besprochen: Die Studien tun so, als seien sie repräsentativ; in Wirklichkeit untersuchen sie aber nur eine kleine Untergruppe der Depressiven. Eben die, die sich am besten für den gewünschten Effekt untersuchen lassen.

    Das weiß eigentlich auch jeder, schon seit Ewigkeiten, und trotzdem geht es immer so weiter.

    Das ist doch eine interessante Erkenntnis darüber, wie wissenschaftliche Forschung in manchen Bereichen funktioniert.

  4. “Diese Verzerrung zeigte sich übrigens auch in der Lancet-Studie: So wurden Medikamente, wenn sie neu auf den Markt kamen und die Hoffnung auf Wirksamkeit hoch war, deutlich wirksamer eingeschätzt, als wenn sie nicht mehr ganz neu waren. Da ein Medikament ja nicht an Wirksamkeit verliert, nur weil es bereits ein paar Jahre auf dem Markt ist, ist dies ein klares Indiz dafür, dass die Erwartungshaltung der Begutachter die Ergebnisse verfälscht hat.”

    Hier untersucht jemand die Einschätzungen von Ärzten und Patienten (in WWW-Rating-Sites) und findet u.a. das Gegenteil zum Neu!-also-besonders-wirksam!:
    “So if you want to know what medication will make you happiest, at least according to this analysis your best bet isn’t to ask your doctor, check what’s most popular, or even check any individual online rating database. It’s to look at the approval date on the label and choose the one that came out first.” (meine Hervorhebung)

    Auch die Kommentare liefern gute Denkansätze gegenüber den weiteren gefundenen Paradoxa.

    Text seines Posters auf dem 2017er Meeting der American Psychiatric Association hier (~1/3 scrollen, Titel “High Patient Satisfaction With Antidepressants Predicts Early Drug Release Date Across Online User – Generated Medical Databases”)

  5. A meme that continues to appear regularly in the media and in the comments section of this blog is “antidepressants are no better than placebo.” It is a false belief based on a faulty interpretation of the evidence. A new study has just come out that should put the final nail in its coffin. Antidepressants are indisputably effective when prescribed appropriately for moderate-to-severe major depression. Part of the confusion is that they have often been prescribed inappropriately for mild depression or sadness, where there is no evidence to support their use. They are serious drugs for a serious illness, not “happy pills.”

    https://sciencebasedmedicine.org/the-debate-is-over-antidepressants-do-work-better-than-placebo/

  6. Man muss die Ursachen von Krankheiten bekämpfen, und darf nicht an den Folgen herumdoktern. Die Ursachen von Krankheiten liegen in beruflichen Problemen oder Selbstzerstörung (Alkohol, falsche Ernährung usw.). Mehr dazu auf meiner Internetseite (bitte auf meinen Nick-Namen klicken).

  7. Mir ist bewusst, dass ich einen Aspekt herausgreife, der den weiteren Inhalt nur am Rand betrifft. Aber es scheint mir wichtig, da hier ein falsches Verständnis von Statistik vorzuliegen scheint.
    Im Artikel findet sich folgende Sätze über die “Gesetze der Statistik”:

    “Die große Mehrheit der Patienten streut nahe um den Mittelwert, im Bereich keiner Wirkung bis schwacher Wirkung. Das sind ganz simple aber grundlegende Gesetze der Statistik.”

    Es bleibt dabei relativ unklar was diese Gesetze sein sollen. Wenn damit mathematische Sätze gemeint sind, dann sagen die nicht etwas darüber aus, wie tatsächliche Verteilungen aussehen.
    Wenn eine Normalverteilung zur Analyse verwendet wird, dann ist die eine Annahme, aber kein Gesetz. Verteilungen können durchaus anders aussehen und das lässt sich nur durch Erfahrung beurteilen, ob eine Verteilung angebracht ist. Dementsprechend ist es eine empirische Frage, ob die große Mehrheit nahe dem Mittelwert schwankt. Dies wäre alles durch empirische Daten zu belegen und der Ausdruck “Gesetz der Statistik” erscheint mir unangebracht.

  8. @Mistelberger: Neue Studie

    Wie kann man diese Schlussfolgerung ziehen, wenn der statistische Effekt kleiner als die klinische Relevanz ist und zudem die Mehrheit der Studien, die dort ausgewertet wurden, im Sinne der Wirksamkeit verzerrt sind? Letzteres steht sogar in der Studie selbst.

    Mir ist es persönlich völlig gleichgültig, welche Medikamente besser wirken als andere – bei den Antidepressiva gib es aber seit langer Zeit mehr als genug journalistische wie wissenschaftliche Publikationen, die systematische Verzerrungen und Verfälschungen dokumentieren, auf denen eine Milliarden(!)industrie fußt.

    Diese Fakten immer wieder außen vor zu lassen und nur auf das Ergebnis zu schauen (und es dann auch noch sehr selektiv zu interpretieren, wie es hier bei der neuen Studie fast überall passiert), wenn doch der Prozess nicht zuverlässig ist, das halte ich für unwissenschaftlich.

  9. The discrepancy between Turner’s and Kirsch’s interpretations hinges on what these effect size numbers mean in terms of clinical significance,. Values of 0.2, 0.5, and 0.8 were once proposed as small, medium, and large effect sizes, respectively. The psychologist who proposed these landmarks admitted that he had picked them arbitrarily and that they had “no more reliable a basis than my own intuition.” Later, without providing any justification, the UK’s National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) decided to turn the 0.5 landmark (why not the 0.2 or the 0.8 value?) into a one-size-fits-all cut-off for clinical significance. In an editorial published in the British Medical Journal (BMJ), Turner explains with an elegant metaphor: journal articles had sold us a glass of juice advertised to contain 0.41 liters (0.41 being the effect size Turner, et al. derived from the journal articles); but the truth was that the “glass” of efficacy contained only 0.31 liters. Because these amounts were lower than the (arbitrary) 0.5 liter cut-off, NICE standards (and Kirsch) consider the glass to be empty. Turner correctly concludes that the glass is far from full, but it is also far from empty. He also points out that patients’ responses are not all-or-none and that partial responses can be meaningful.

    Mehr: https://sciencebasedmedicine.org/antidepressants-and-effect-size/

  10. @Mistelberger: praktische Relevanz

    Alle Grenzen in der Statistik sind willkürlich, nämlich von Menschen beziehungsweise wissenschaftlichen Gemeinschaften gemacht und akzeptiert. Wenn man das ablehnt, dann darf man gar keinen Signifikanztest mehr berechnen. Dann ist die Aussage der Studie noch unklarer.

    Wie dem auch sei, ob der Effekt nun unterhalb der Schwelle für praktische (bzw. hier: klinische) Relevanz ist oder knapp darüber: Fakt ist, dass diese wichtige Frage in der Wissenschaftskommunikation so gut wie gar nicht besprochen wird – und auch die von mir soeben erst wieder genannten systematischen Verzerrungen der Datenbasis.

    Nach wie vor ist das Ergebnis der Studie, dass wenn man sich im Interesse der Wirksamkeit (also im Interesse der Forscher und Pharmaindustrie) systematisch verzerrte Studien anschaut, dass es dann einen gar nicht oder bloß gerade so klinisch relevanten Effekt für Antidepressiva gibt

    An den euphorischen Berichten, von denen Sie hier ein Beispiel zitieren, sieht man, dass das mit Wissenschaft nichts zu tun hat, sondern mit Nebelwerfern; man könnte es auch Propaganda nennen.

  11. Eine Erklärung für die relativ geringe Wirksamkeit von Antidepressiva in grossen Studien und Metastudien wäre eben auch, dass nur gewisse Patienten davon profitieren, viele aber nicht. Das entspricht ja auch den Berichten aus der Praxis, wo relativ häufig mehr als ein Präparat probiert wird, bis eine befriedigende Wirkung eintritt. Man kann heute nicht im voraus sagen, welche Patienten von einem bestimmten Antidepressiva profitieren und welche nicht.

  12. Noch eine Bemerkung zum Verhältnis Antidepressiva-Therapie versus Gesprächstherapie. In der Praxis gibt es nur für die leichteren Fälle überhaupt eine Wahlmöglichkeit. Bei schwereren Fällen von Depression ist eine Gesprächstherapie gar nicht möglich und viele Psychiater leiten die Gesprächstherapie erst ein, nachdem die schwersten Symptome mit Antidepressiva beseitigt sind.
    Eine häufiges Fehlurteil in der Öffentlichkeit ist es Depression mit Traurigkeit gleichzusetzen. Doch Depression ist meist weit mehr als Traurikgeit. Fast immer findet sich bei einer depressiven Episode eine tiefe Anhedonie (Unfähigkeit zu Lust/Freude) in Kombination mit einer ausgeprägten Antriebslosigkeit. Gespräche mit solchen Patienten sind zwar möglich, aber sie bewirken sehr wenig, weil diese Patientinnen/Patienten nicht aufnahmebereit sind. Es ist also ein wirkliches Dilemma und der tiefere Grund, warum Psychiater so froh sind um jedes Mittel, welches die Stimmung und den Geisteszustand dieser Patienten deutlich ändert (aufhellt).

  13. Wenn ich die Funktion von Antidepressiva richtig verstehe, greifen sie in die Produktion von Neurotransmittern (Serotonin, Dopamin etc.) an den Synapsen ein, in dem sie diese Prozesse im Sinne einer “Besserung” manipulieren wollen. Für mich ist das ein sehr subtiler Prozess, da ich bei jedem Menschen ein etwas anderes “gesundes Gleichgewicht” von Neurotransmittern sehe. Um dieses Gleichgewicht wieder zu erreichen,muss man es meiner Ansicht nach erkennen und nicht nach dem Motto “das könnte passen ” Antidepressiva verschreiben. So könnte meiner Ansicht nach ein zuviel an Serotonin/Dopamin die Manie bei Manisch-Depressiven noch verstärken und zu Psychosen führen.Fehldiagnosen wären bei solch subtilen Bewertungen also leicht möglich. Motto: Bei vier Psychologen erhalten sie sechs Diagnosen…Im übrigen behandeln Antidepressiva für mich nur die Erscheinungen und nicht die Ursachen der Probleme…

  14. Was ich mich bei all dem immer wieder frage ist folgendes: Welchen effekt hat eigentlich die diagnosestellung selbst auf den krankheitsverlauf? Was ich meine ist, inwieweit entlastet eine solche diagnose den patienten bei ihrer formulierung, weil er sich denken kann “Oh, gut dann bin ich also nicht komplett verrückt und jetzt weiß ich, was ich habe, nämlich eine depression.” Und aus diesem grund allein – der druck der unsicherheit ist erstmal weg – ist schon eine verbesserung zu erkennen. Dies würde eher auf erstdiagnosen zutreffen. Es könnte aber auch so laufen, dass der patient mit dieser diagnose in ein noch tieferes loch gestoßen wird und der zustand dadurch noch verschlimmert wird.

    Der zweite aspekt wäre der, inwieweit verfestigt die gestellte diagnose die symptomatik auf lange zeit gesehen? Im sinne von, “ah, der patient hat bereits eine diagnose ‘depression’ erhalten, also hat er eine depression und wird entsprechend behandelt, also es wird mit ihm umgegangen als hätte er eine depression. Von der anderen seite her betrachtet, könnte auch ein patient, der diese diagnose hat, seine psychischen probleme sehr einfach auf diese diagnose schieben und sich gewissermaßen dahinter verstecken und auf eine behandlung als depressiver vertrauen, nach dem motto: “Ich habe halt eine depression.” Werden denn solche aspekte in klinischen studien überhaupt berücksichtigt? Und eine weitere frage, die sich daraus ergibt: Wie groß ist statistisch gesehen der anteil von fehldiagosen?

    Und dies bringt mich zu einer noch weiteren frage? (Ich muss hier bekennen, dass ich kein fachmann bin und auch die studien und ihr design nicht kenne!) Aber was ich mich frage ist: Wird denn bei solchen studien auch untersucht, ob die medikamente bei gesunden kontrollpersonen, also solchen, die keine diagnose haben, eine wirkung haben und seien es nur die nebenwirkungen und ob es bei solchen auch einen placeboeffekt gibt, wenn sie keinen wirkstoff erhalten? Das wäre doch sicherlich auch interessant zu untersuchen und würde die studien doch aussagekräftiger machen, oder etwa nicht? Oder sind solche untersuchungen teil einer klinischen studie? Bisher jedenfalls hatte ich immer den eindruck, dass doppelblindstudien sich nur darauf bezogen haben, dass kranke eben mit einem wirkstoff oder einem placebo behandelt werden.

    Und was sagt eigentlich das verhalten der patienten über die wirksamkeit eines medikaments aus, wenn diese das medikament vorzeitig absetzen, weil die nebenwirkungen überwiegen oder sie sich subjektiv gar noch schlechter fühlen als vor der behandlung? Hier scheint ja dann der leidensdruck ohne medikamente aushaltbarer zu sein als mit medikamten.

  15. “Nebelwerferin” Harriet Hall führt in dem verlinkten Atikel aus:

    If we followed Kirsch’s interpretation and rejected antidepressants, how would we treat depression? Psychotherapy avoids the side effects of drugs, but it has its own drawbacks: it is expensive, time-consuming, and variable in quality. How effective is psychotherapy? Psychotherapy trials also suffer from publication bias, just like antidepressant drugs. And when one weeds out low quality studies, psychotherapy has an effect size of only 0.22, lower than the value for antidepressants reported by Kirsch himself, So if we reject any treatment below the (arbitrary) 0.5 cutoff, when a mental health care provider is faced with a patient in need of help, is he or she to do nothing at all?

  16. Können Behandlungsabbrüche ein Wirksamkeitskriterium sein?

    Die folgende Aussage von Michael P. Hengartner irritiert:

    Die [Lancet-]Studie berichtet außerdem nicht nur Wirksamkeit bezüglich Symptomreduktion, sondern auch die Rate vorzeitiger Behandlungsabbrüche. Viele Forschende erachten dieses Maß als das zuverlässigere Wirksamkeitskriterium, da es objektiv und weniger anfällig für Verzerrungen ist. Bezüglich vorzeitiger Behandlungsabbrüche waren nur 2 Medikamente statistisch signifikant besser als Placebo (obschon auch hier die Effekte schwach waren); 18 unterschieden sich nicht von Placebo, und 1 Medikament war sogar signifikant schlechter als Placebo.

    [Fettung von mir]
    .
    Dass Behandlungsabbrüche (bei vielen?) als Wirksamkeitskriterium gelten, wäre mir neu. Solche Abbrüche werden in erster Linie als Hinweis auf die (fehlende) Akzeptanz und (mangelnde) Verträglichkeit der jeweiligen Therapie gesehen.

    Beim Lesen des Aufsatzes von Peter Gotzsche (Link im Beitrag) ist mir klar geworden, welche Idee dahintersteckt, wenn Behandlungsabbrüche als Maß für Wirksamkeit genommen werden.

    Der Gedanke dabei ist offenbar, dass vor allem die Patienten, die mit der Wirksamkeit der Therapie unzufrieden sind, die Studie vorzeitig abbrechen, was vor allem in der Placebo-Gruppe der Fall sein sollte.

    Das heißt, wenn in beiden Gruppen, Verum und Placebo, in etwa gleich viele Patienten, sagen wir jeweils rund 20%, vorzeitig aussteigen, dann wird das gemäß Gotzsche und Hengartner als Beleg dafür genommen, dass das Verum keinen therapeutischen Nutzen hat, also praktisch so wirkungslos ist wie das Placebo.

    Ich halte diese Interpretation der Abbruchsdaten für ziemlich fragwürdig. Man gewinnt den Eindruck, als sollte auf Biegen und Brechen bewiesen werden, dass Antidepressiva bei rund 90% nicht besser wirken als Placebo. Gute Wissenschaft geht anders.

    Was man nicht übersehen sollte: Im Falle der Verum-Gruppe kann ein vorzeitiger Therapie-Abbruch dazu führen, dass die maximal mögliche Besserung nicht erreicht und darum die Wirksamkeit des Präparats unterschätzt wird (aufgrund des LOCF-Verfahrens bei der Auswertung). Das wäre dann eine Verzerrung zuungunsten des Wirkstoffs. Aber dies wird von Michael P. Hengartner überhaupt nicht diskutiert. Passt wohl nicht ins Konzept.

  17. @Balanus: Behandlungsabbrüche vor einer Mindesteinnahme von 2 bis 3 Wochen bedeuten in der Regel, dass das Antidepressiva erst einen kleinen Teil seiner Wirkung entfaltet hat. Das gilt allerdings auch für Placebo.
    Dennoch müsste man beim Erfassen von Behandlungsabbrüchen auf alle Fälle auch die Zeitspanne bis zum Behandlungsabbruch erfassen um überhaupt eine verwertbare Aussage zu erhalten.

  18. @Balanus & Holzherr: verquere Logik?

    Erstens sind im Text zwei Artikel von Gøtzsche zitiert. Welchen meinst du? Bisschen schlampiger Stil so.

    Zweitens, welche Wirksamkeit? Die Studie von Cipriani et al. im Lancet hat doch gerade gezeigt, dass es keine klinisch relevante Wirksamkeit von Antidepressiva gibt, jedenfalls spezifisch für Depressionen. Würdet ihr bitte einmal den Stand der Forschung zur Kenntnis nehmen?

    Drittens, ich würde eher erwarten, dass Patienten in der Wirkstoffgruppe abbrechen, denn die haben ja keine klinisch relevante Wirkung (siehe zweitens), dafür aber die Nebenwirkungen. Wenn in der Zielgruppe also mehr Abbrüche sind als in der Kontrollgruppe, dann spricht das gegen die Wirksamkeit des Medikaments. Ich kann mich aber irren, habe jetzt keine Zeit, das im Artikel zu überprüfen.

    Was man nicht übersehen sollte: Im Falle der Verum-Gruppe kann ein vorzeitiger Therapie-Abbruch dazu führen, dass die maximal mögliche Besserung nicht erreicht und darum die Wirksamkeit des Präparats unterschätzt wird…

    Was aber nur plausibel ist bei einem Medikament, das allgemein (klinisch relevant) wirkt; also nicht den hier untersuchten Antidepressiva.

  19. @Balanus: Vielleicht neu für Sie; sollte jedoch nicht neu sein, wenn Sie sich in den letzten 10 Jahren ein wenig mit psychopharmakologischer Forschung auseinandergesetzt haben.

    Im Jahre 2008 haben beispielsweise Barbui, Furukawa und Cipriani eine Meta-Analyse zur Wirksamkeit von Paroxetin publiziert, wo sie vorzeitige Behandlungsabbrüche als das primäre Outcome verwendet haben, da sie im Gegensatz zu verzerrungsanfälligen, subjektiven Bewertungsskalen wie dem HAMD ein objektives Wirksamkeitskriterium darstellen (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2211353/). Sofern Sie sich ein wenig mit der Antidepressiva-Forschung auskennen, sollten Sie auch wissen, dass diese drei Herren nicht irgendwelche Laien sind, sondern führende Experten auf diesem Gebiet. Cipriani ist auch der Erstautor der vielbeachteten (und in dieser Kommentarspalte vieldiskutierten) Meta-Analyse, welche kürzlich im Lancet publiziert wurde.

    Besonders interessant wird es aber, wenn wir die Schlussfolgerungen der beiden Meta-Analysen vergleichen. In der 2008er Arbeit, welche nur den Wirkstoff Paroxetin untersucht hat und welche, wie oben erläutert, vorzeitige Behandlungsabbrüche als primäres Outcome verwendete, wurde durch Cipriani und Kollegen geschlussfolgert: “Among adults with moderate to severe major depression in the clinical trials we reviewed, paroxetine was not superior to placebo in terms of overall treatment effectiveness and acceptability.”

    Exakt 10 Jahre später schlussfolgert Cipriani in der Lancet-Meta-Analyse, dass ALLE Antidepressiva (darunter natürlich auch Paroxetin), wirksam und nützlich seien. Woher der Sinneswandel? Die ermittelten Effekte waren die gleichen, und auch in der Lancet-Studie wurden vorzeitige Behandlungsabbrüche als eines der beiden primären Outcomes verwendet (das andere primäre Outcome war die Response-Rate gemäss HAMD). Scheinbar wurden in der Lancet-Studie die vorzeitigen Beandlungsabbrüche aber nicht mehr als objektives Wirksamkeitskriterium angesehen, sondern lediglich als Mass der Akzeptanz (englisch “acceptability”). Passte wohl nicht mehr ins Konzept der Autoren, die vorzeitigen Behandlungsabbrüche als objektives Wirksamkeitskriterium zu erachten, denn dann hätte man ja schlussfolgern müssen, dass 19 von 21 untersuchten Antidepressiva wirkungslos seien (d.h. nicht besser als Placebo).

    Was ist Wirksamkeit? Nun, Wirksamkeit ist das Verhältnis von Risiken zu Nutzen, denn nur so lässt sich bestimmen, ob ein Medikament mehr Vorteile als Nachteile hat. Und wie können wir dieses Verhätnis von Risiken zu Nutzen wohl am besten erfassen? Genau, mit den vorzeitigen Behandlungsabbrüchen, denn wer bricht schon eine Behandlung ab, wenn der Nutzen (d.h. Symptomreduktion) die Risiken (d.h. Nebenwirkungen) deutlich überwiegt? Und was misst die Responserate? Nun, leider nur die subjektive Symptomreduktion, nicht aber die Risiken, die damit verbunden sind. Der kritische Leser möge selbst urteilen, welches Wirksamkeitskriterium objektiver und präziser ist.

    PS: Vorzeitige Behandlungsabrüche werden auch in anderen Störungsbildern seit vielen Jahren als objetives Wirksamkeitskriterium verwendet, geschätzter Balanus (ist Ihnen aber wohl auch neu). Siehe beispielsweise die Arbeit von Lieberman und Kollegen aus dem Jahre 2005 zur Wirksamkeit von Neuroleptika in der Behandlung der Schizophrenie (http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa051688). PS: Auch Lieberman ist kein unerfahrener Laie, sondern einer der bekanntesten und meistzitierten Schizophrenie-Forscher überhaupt. Und gemessen an der grosszügigen finanziellen Unterstützung, die er über viele Jahre hinweg von der Pharmaindustrie erhalten hat, ist er auch alles andere als ein pharmakritischer Querdenker. Sie können mir darum gerne glauben, dass viele führende Experten die vorzeitigen Behandlungsabbrüche als valides Wirksamkeitskriterium erachten.

    Zum Aspekt der “sytematischen Verzerrung” durch LOCF mag ich mich gar nicht gross äussern. Das ist bloss ein weiterer verzweifelter Versuch, mit undifferenzierten Argumenten meine Arbeit zu diskreditieren. Vorzeitige Behandlungsabbrüche führen natürlich auch in der Placebogruppe zu einer Unterschätzung der Wirksamkeit, denn Spontanremission braucht Zeit und erfolgt nicht innerhalb weniger Tagen (das musste sogar Martin Holzherr eingestehen, der sich hier nicht gerade als ein pharma- und wissenschaftskritischer Denker profiliert hat). Somit beeinflussen vorzeitige Behandlungsabbrüche die Wirksamkeit in Verum und Placebo gleichermassen und der Effekt hebt sich auf.

  20. Bitte entschuldigen Sie, falls nun zweimal ein ähnlicher Kommentar von mir erscheint: Es gab Probleme bei der Übermittlung und darum hatte ich nochmals von vorne begonnen.

  21. @Martin Holzherr

    »Behandlungsabbrüche vor einer Mindesteinnahme von 2 bis 3 Wochen bedeuten in der Regel, dass das Antidepressiva erst einen kleinen Teil seiner Wirkung entfaltet hat. Das gilt allerdings auch für Placebo.«

    Ich glaube, man muss es anders formulieren: Die pharmakologische Wirkung tritt relativ schnell ein (vielleicht nach einer Woche oder so), aber die Symptome verschwinden nur langsam. Unter Placebo gibt es keine solche Wirkung, aber die Symptome bessern sich in den ersten vier, fünf Wochen mit der gleiche Rate wie unter dem Wirkstoff. Das ist wohl der natürliche Verlauf von depressiven Episoden.

    @Stephan Schleim

    »Erstens sind im Text zwei Artikel von Gøtzsche zitiert. Welchen meinst du? Bisschen schlampiger Stil so. «

    Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr Professor ;-). Gemeint war der Aufsatz, der mit dem Namen ‚Peter Gotzsche‘ verlinkt ist.

    @ Michael P. Hengartner

    Danke für die ausführliche Entgegnung!

    Vorab, die psychopharmakologische Forschung ist mir fremd, ich weiß nur, dass generell in der Medizin ein erheblicher methodischer Aufwand betrieben wird, um gute klinische Studien durchzuführen, schon allein deshalb, weil die Zulassungsbehörden dies fordern (deshalb mag ich auch kaum glauben, dass die Behörden offenkundige methodische Mängel einfach so durchgehen lassen).
    Nun scheint es ja so zu sein, dass gerade im Bereich der Psychopharmakotherapie das Ideal der guten klinischen Praxis schwer zu erreichen ist. Weil eben Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen eine effektive Verblindung des Prüfarztes in Frage stellen. Eine Bewertung der Symptomverbesserung ohne die gleichzeitige Erhebung wirkstoffbedingter unerwünschter Begleiterscheinungen ist offenbar nicht möglich. Vielleicht sind evidenzbasierte Medizin und Psychopharmakotherapie ja schon ein Widerspruch in sich, ich weiß es nicht.

    Sie schreiben:

    »In der 2008er Arbeit, welche nur den Wirkstoff Paroxetin untersucht hat und welche, wie oben erläutert, vorzeitige Behandlungsabbrüche als primäres Outcome verwendete, wurde durch Cipriani und Kollegen geschlussfolgert: “Among adults with moderate to severe major depression in the clinical trials we reviewed, paroxetine was not superior to placebo in terms of overall treatment effectiveness and acceptability.” «

    Ja, „…in terms of overall treatment effectiveness and acceptability“, heißt es da.

    Was aber nicht ausschließt, dass auch in dieser Metaanalyse das Medikament dem Placebo hinsichtlich der Symptome statistisch signifikant (knapp) überlegen war:

    Data extracted from 22 trials […] showed a statistically significant positive effect of paroxetine in terms of the proportion of patients who did not show an improvement of at least 50% on depression measures (random effect RR 0.83, 99% CI 0.77–0.90; number needed to treat to avoid 1 additional failure 9, 99% CI 7–14) (Figure 3). In other words, a greater proportion of patients who received paroxetine than of those given placebo had an improvement of 50% or more.

    (Barbui et al. 2008)
    .
    Es macht eben einen Unterschied, ob ich nach der Verbesserung der Symptome nach 8 Wochen Behandlung schaue, ober danach, wie viele Patienten nach 8 Wochen noch an Bord sind und von dort aus rückschließe auf die Wirksamkeit des Präparats zur Reduzierung der Symptome. Die Zahl der Studienabbrüche kann allenfalls Auskunft geben über den Therapieerfolg insgesamt.

    »Was ist Wirksamkeit? Nun, Wirksamkeit ist das Verhältnis von Risiken zu Nutzen, denn nur so lässt sich bestimmen, ob ein Medikament mehr Vorteile als Nachteile hat.«

    Mir scheint, hier werfen Sie Wirksamkeit und therapeutischen Nutzen durcheinander. Ein Präparat kann hochwirksam sein und dennoch therapeutisch nutzlos, z. B. wenn die unerwünschten Nebenwirkungen nicht akzeptabel sind.

    Wenn man in klinischen Studien vorzeitige Behandlungsabbrüche als primäre Zielvariable wählt, dann ist zuvor schon die pharmakodynamische Wirksamkeit hinsichtlich der Symptomreduktion nachgewiesen worden, denn ansonsten würde eine solche Studie ja überhaupt keinen Sinn ergeben. Oder irre ich mich da?

    »Zum Aspekt der “sytematischen Verzerrung” durch LOCF mag ich mich gar nicht gross äussern. Das ist bloss ein weiterer verzweifelter Versuch, mit undifferenzierten Argumenten meine Arbeit zu diskreditieren.«

    Was man bei Andrea Cipriani et al. (2018) zur LOCF-Methode in der Diskussion lesen kann, klingt aber überhaupt nicht verzweifelt:

    »The use of the last observation carried forward (LOCF) approach for imputing missing outcome data might have affected the estimates of treatment effect. […] The final result can be an underestimate of the true efficacy of the active drug.«

    .

    Für Placebo gibt es keine „true efficacy“, die unterschätzt werden könnte.

    LOCF ist wichtig, damit die Symptomreduktion nicht allein dadurch systematisch überschätzt wird, weil nur die verbliebenen Studienteilnehmer berücksichtigt werden. Wenn nun trotz LOCF ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Verum und Placebo festgestellt wird, dann hat dieses Ergebnis mehr Gewicht, als wenn man ohne LOCF gearbeitet hätte.

  22. @Mistelberger: Gelassenheit

    Sie können hier gratis Berichte über wissenschaftliche Themen lesen und auch gratis mitdiskutieren; der Autor (ich) und der Interviewpartner (Herr Hengartner) verdienen hieran nichts, sondern bieten es als reines Hobby an.

    Auf inhaltliche Argumente reagiere ich gerne und selbst Herr Hengartner hat sich – zu meiner Überraschung wie Freude – mehrmals die Mühe gemacht. Das war so nicht abgesprochen zwischen uns.

    Auf Ihre inhaltliche Kritik, die Sie oben aus einer anderen Publikation zitiert haben, wurde jedes Mal inhaltlich reagiert; Sie sind derjenige, der nicht auf Argumente eingeht.

    Daher sind hier auch Ihre Verhaltensvorschläge unpassend und haben mit der Sache nichts zu tun. Solche Kommentare können Sie besser lassen. Im Zweifelsfalle verweise ich auf die Kommentarregeln.

  23. @Balanus: Bürokratie und Pharma-Forschung

    Vorab, die psychopharmakologische Forschung ist mir fremd, ich weiß nur, dass generell in der Medizin ein erheblicher methodischer Aufwand betrieben wird, um gute klinische Studien durchzuführen, schon allein deshalb, weil die Zulassungsbehörden dies fordern (deshalb mag ich auch kaum glauben, dass die Behörden offenkundige methodische Mängel einfach so durchgehen lassen).

    Der Witz an der Sache ist doch, dass auf dem Papier alles stimmt, während alle Beteiligten, zumindest diejenigen, die es wissen wollen, auch wissen, dass das in der Praxis ganz anders abläuft (z.B. mit der fehlenden Repräsentativität, Beobachtereffekte, die die Placebo-Kontrolle unterlaufen usw.).

    In den beiden Interviews sowie der verlinkten Literatur findest du ja genügend Argumente.

    Das ist doch ganz oft so in unserer Gesellschaft: Alle wissen, dass es falsch ist, machen es aber trotzdem; mit schlauen Tricks sorgt man dafür, dass es auf dem Papier sauber ist, um das Gewissen rein zu waschen und sich vor dem Staatsanwalt zu schützen. Viele verdienen daran; die Kosten und Nebenwirkungen tragen die Gesellschaft und die Patienten.

    Würdest du es anders machen, wenn es um Milliarden ginge? Oder um deinen Arbeitsplatz und damit deine Existenzsicherung?

  24. > Auf Ihre inhaltliche Kritik, die Sie oben aus einer anderen Publikation zitiert haben, wurde jedes Mal inhaltlich reagiert; Sie sind derjenige, der nicht auf Argumente eingeht.

    Das sind zwei sehr sportliche Behauptungen. Eine “inhaltliche Reaktion” zu den von mir zitierten Artikeln kann ich nicht erkennen.

    Ich habe mir die Mühe gemacht, den Artikel zu lesen, die Kommentare dazu (auch die von Balanus), sowie die Veröffentlichung von Hengartner. Meine Schlussfolgerung habe ich in einem Satz zusammengefasst.

    > Das ist doch ganz oft so in unserer Gesellschaft: Alle wissen, dass es falsch ist, machen es aber trotzdem; mit schlauen Tricks sorgt man dafür, dass es auf dem Papier sauber ist, um das Gewissen rein zu waschen und sich vor dem Staatsanwalt zu schützen. Viele verdienen daran; die Kosten und Nebenwirkungen tragen die Gesellschaft und die Patienten.

    Um eine so umfassende Aussage bezüglich der Problematik der Antidepressiva zu treffen sind ihre Bemühungen ungeeignet.

    Die Kommentarregeln verlangen nicht, dass ich Ihrer Meinung bin. Sie sind vielmehr so formuliert, dass es mir durchaus möglich ist, meine eigene Meinung hier zu vertreten.

  25. @Mistelberger: Inhaltliches

    Wenn Sie die Inhalte nicht finden, dann empfehle ich Ihnen, die Augen zu öffnen; sie sind nämlich nicht zu übersehen.

    Ihr Hinweis auf “mehr Gelassenheit” hingegen war nicht inhaltlich, sondern eher abwertend psychologisch.

    Jeder darf hier (im Rahmen der Gesetze) seine Meinung sagen, idealerweise begründet. Sie neigen dazu, sich als Opfer darzustellen. Niemand hat Ihnen hier verboten, Ihre Meinung zu äußern – aber es sollte gemäß den Richtlinien eben eine Meinung zum Thema sein.

  26. Antidepressiva werden heute auch bei Schlafstörungen, Schmerzen, Ängsten und gar zur Behandlung prämenstrueller Beschwerden verschrieben wie ich der heutigen Sonntagszeitung entnehme. In meinen Augen ist das eine ungute Entwicklung, denn Antidepressiva sind nicht ohne Nebenwirkungen.
    Hier der Text auf den ich mich beziehe:

    Antidepressiva sind empfehlenswerter als klassische Schlafmittel»
    Antidepressiva gibt es also auch beim Haus­arzt. Erich Seifritz, ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich, sieht darin kein Problem. Im Gegenteil: «Zum Glück können Hausärzte Antidepressiva ver­schreiben», sagt er. Es sei positiv, endlich ver­träglichere Substanzen zur Verfügung zu haben, um depressiven Menschen zu helfen. «Grundsätzlich werden Depressionen und Angsterkrankungen eher zu wenig erkannt und so auch nicht behandelt», sagt er.
    Seifritz möchte auch die hohen Verschrei­ bungszahlen der Helsana­Studie präzisieren. Mit Antidepressiva werden heute längst nicht mehr nur Depressionen angegangen. Zuge­ lassen sind sie auch zur Behandlung von Schmerzen sowie Ess­ oder Angststörungen. Zudem sollen sie auch etwa gegen prämenst­ruelle Beschwerden oder Schlafstörungen sehr wirksam sein.

    Antidepressiva zur „Ruhigstellung“ lehne ich ab. Ich lehne überhaupt Medikamente, die nicht absolut nötig sind, ab. Wie ich auch Drogen als festen Bestandteil des Alltags ablehne.

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