Alkohol: Prävention oder Gesundheitswahn?

Über die Risiken der Debatte und was stattdessen wirklich hilft

Im ersten Teil haben wir uns die wissenschaftliche Argumentation der Sendung 13 Fragen zur Regulierung von Alkoholkonsum näher angeschaut. Dabei sahen wir, dass das Thema komplex ist, die Antialkoholikerin Nathalie Stüben und der LINKEN-Politiker Niema Movassat die Studienergebnisse aber einseitig darstellten.

Im Folgenden setzen wir uns mit der gesundheitsökonomischen Berechnung der (angeblichen) Kosten und Risiken des Alkoholkonsums auseinander. Was wäre zudem, wenn die Gesundheitskultur in einen Gesundheitswahn umkippt? Und welche alternativen Ansätze zur Prävention gibt es stattdessen?

Risiken und Nebenwirkungen des Antialkoholismus

Wenn Einseitigkeit unwissenschaftlich ist, dann ist es die ökonomische Berechnung der (angeblichen) gesellschaftlichen Folgekosten des Alkoholkonsums schlechthin. So gut wie alle wissen nämlich, dass mäßiger Alkoholkonsum einen psychosozialen Nutzen hat.

Leichte Euphorie, weniger Schüchternheit, mehr Offenheit im Umgang mit anderen oder Stressabbau wissen die Gesundheitsökonomen jedoch nicht zu quantifizieren. Darum taucht der Nutzen des Substanzkonsums in ihren Modellen und Gleichungen überhaupt nicht auf. Das räumte beispielsweise Annika Herr, Professorin für Gesundheitsökonomie an der Universität Hannover, in der Diskussion “Alkoholkonsum: Risikoloses Trinken gibt es nicht” im Deutschlandfunk (hier als Video) offen ein.

Das heißt aber, dass diejenigen, die sich in der Diskussion auf diese ökonomischen Berechnungen berufen, von vorneherein voreingenommen argumentieren – voreingenommen gegen Alkohol. Und wer tat das in der Sendung?

“Drei Milliarden Einnahmen durch die Alkoholsteuer. 40 Milliarden Euro… auf jeden Fall deutlich mehr an Folgekosten für die Gesundheit. Also die Kosten für die Gesellschaft, die die Allgemeinheit trägt, sind massiv.”

Niema Movassat; ca. 35:40 Minuten

Antialkoholikerin Stüben sekundierte dem LINKEN-Politiker sofort und meinte, es seien sogar 57 Milliarden! Das suggeriert, die Deutschen müssten nur zwei Jahre lang ihren Alkoholkonsum massiv einschränken und schon wäre beispielsweise das Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro finanziert, bliebe sogar noch ein satter Bonus übrig.

Glücklicherweise ließ die Redaktion von 13 Fragen meine warnenden Worte in der Sendung: “Das sind berechnete Kosten. Das sind Gesundheitsmodelle mit abstrakten Kosten, die nicht so eins-zu-eins geglaubt werden sollten.” Dass die Berechnung einseitig und voreingenommen ist, sahen wir bereits. Doch wie plausibel ist sie eigentlich auf der Kostenseite?

Die 57 Milliarden stehen so wortwörtlich im neuen Bericht über Alkoholabhängigkeit der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Und auch wenn ich die Arbeit des DHS insgesamt sehr schätze, muss ich sie für diese Berechnung kritisieren: Die genannte Zahl setzt sich aus direkten (vor allem Krankheitsbehandlung) und indirekten (vor allem Verdienstausfälle) Kosten zusammen. Erstere sollen 16,6 Milliarden, letztere 40,4 Milliarden betragen.

Fragliches Menschenbild

Wenn man indirekte Kosten so berechnet, dann unterstellt man aber gleichzeitig, wir Menschen müssten 100 Prozent berufsfähig und effizient sein. Das scheint mir gerade für einen LINKEN-Politiker ein problematisches Menschenbild vorauszusetzen. Ähnlich könnte man dann auch argumentieren, dass die von der Arbeiterbewegung mühsam erstrittenen Privilegien der Freizeit und Urlaubstage volkswirtschaftliche Kosten verursachen: Denn in diesen Zeiten erwirtschaften die Menschen ebenfalls nichts.

Würde man also, rein menschlich gesehen, einen Sollwert von weniger als 100 Prozent ansetzen, dann würde ein Großteil der (angeblichen) Kosten des Alkoholkonsums sofort verschwinden. Diese Zahlen existieren also vor allem in den Rechenmodellen der Ökonomen.

Bei den direkten Kosten, den 16,6 Milliarden, sollte man bedenken, dass das Geld nicht einfach weg ist. Die Behandlungen fördern nämlich den Umsatz im Gesundheitswesen – und bedeuten also auch Gewinne der Klinikbetreiber sowie Ärztinnen und Ärzte.

Diese Sichtweise kann man makaber finden. Wenn man aber schon ökonomisch argumentiert, dann darf man sich nicht wieder nur die eine Seite heraussuchen, die einem gefällt, sondern muss das konsequent zu Ende denken. Man kann wieder nicht gleichzeitig die Torte essen und für später aufbewahren.

Individuum und Gesellschaft

Nun könnte man vielleicht sagen, dass es sozial ungerecht ist, wenn – wegen des Alkoholkonsums einzelner Menschen – die Gemeinschaft der Versicherten die Behandlung alkoholbedingter Erkrankungen bezahlt. Nun sind Trinkkulturen allerdings seit Jahrtausenden fester Bestandteil der europäischen Kultur (siehe z.B. Spode, 2010). Außerdem beteiligen sich viele daran. Die Kostenverteilung erscheint dann schon auf den ersten Blick gerechter als beispielsweise die Kosten der Polizeieinsätze bei Fußballspielen.

Wer hier trotzdem ein Problem sieht, der könnte die soziale Gerechtigkeit durch eine Erhöhung der Besteuerung alkoholischer Getränke bei gleichzeitiger Senkung der Krankenkassenbeiträge erhöhen. Wenn in Deutschland jährlich rund 10 Milliarden Liter (Alkoholatlas, für 2016) alkoholischer Getränke konsumiert werden, könnten die medizinischen Kosten mit 1,30 Euro pro Liter vollständig getilgt werden. (Vergessen wir nicht die heute schon bestehenden Steuereinnahmen.)

Fairerweise müsste der Steuersatz für Bier niedriger, für Wein etwas höher und für Spirituosen deutlich höher liegen. Ökonomen könnten das präzise berechnen. Nehmen wir einmal 50 Cent für einen halben Liter Bier an, dann ginge es also um spürbare Mehrkosten – aber sie wären auch nicht immens hoch, wenn man das beispielsweise mit den inflationsbedingten Preissteigerungen vergleicht. Dafür würden dann die Gesundheitskosten durch die Alkoholkonsumenten vollständig selbst bezahlt.

Noch ein letzter Hinweis hierzu: Bei der Nutzenberechnung fehlt nicht nur der individuelle “Spaßfaktor”, um es einmal salopp zusammenzufassen. Vielmehr müsste man auch die Auswirkungen auf gemeinschaftliche Aktivitäten miteinbeziehen: Würden Bar-, Club-, Festival-, Gaststätten-, Volksfestbesuche und so weiter ohne oder zumindest mit deutlich weniger Alkoholkonsum immer noch Spaß machen? Oder blieben dann die Kunden weg und würden vielleicht ganze Geschäftszweige absterben?

Und wenn schließlich Alkohol zur Stresskompensation konsumiert wird, wären die Menschen ohne das Mittel wahrscheinlich weniger produktiv. Das müsste man im gesundheitsökonomischen Modell als Folgekosten des Antialkoholismus miteinbeziehen.

Man sieht einmal mehr, wie komplex das Thema ist – und wie zurückhaltend man gegenüber denjenigen sein muss, die unterkomplexen Alarmismus verbreiten. Der Historiker Hasso Spode, der sich ausführlich mit der Geschichte des Alkohols beschäftigte, bringt es manchmal so auf den Punkt: Bei uns gebe es eigentlich gar keine neutrale Alkoholforschung, sondern eine einseitige “Alkoholfolgeschädenforschung”. Die heutige Wissenschaft ist negativ gegenüber Alkohol und anderen Substanzen voreingenommen.

Risiken des Gesundheitswahns

Das ist eben das Paradigma der sogenannten “Public Health” Forschung: Dass sich der Staat zunehmend um die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger kümmert, um angeblich deren Lebensqualität zu steigern, vor allem aber die Effizienz zu erhöhen und die Kosten zu senken.

In der Sendung machte sich vor allem die Schriftstellerin Kerstin Ehmer gegen die Forderung nach zunehmender staatlicher Einmischung stark. Wie eine Gesellschaft aussieht, die vom Gesundheitswahn in eine Gesundheitsdiktatur umkippt, hat bekanntermaßen Juli Zeh in ihrem Bestseller “Corpus Delicti” formuliert.

Dass man im Deutschen von “Public Health” spricht, hat übrigens noch eine erschreckende historische Fußnote. Eine passende deutsche Übersetzung wäre nämlich “Volksgesundheit”. Diese Bezeichnung ist durch den Missbrauch der Nationalsozialisten aber zu einem Unwort geworden. Im Namen des Gesundheitsschutzes begingen Nazis nämlich furchtbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wobei Zwangssterilisierung insbesondere von Alkoholabhängigen – diese galten als erbkrank – noch vergleichsweise “harmlos” waren.

Bei der Entschädigung dieser Opfer hat sich die bundesrepublikanische Politik nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Erst 1988 rang man sich, unter anderem aufgrund des unermüdlichen Einsatzes des Sozialpsychiaters Klaus Dörner, zur Anerkennung dieser “Gesundheitsmaßnahmen” als NS-Unrecht durch.

Nun liegt mir nichts ferner, als die Teilnehmer der ZDF-Sendung in die Nähe von NS-Verbrechen zu rücken. Es ist aber ein historisches Fakt, dass ein Gesundheitswahn und insbesondere auch die Mäßigkeitsbewegungen gegen Alkohol immer wieder in rassistische und eugenische Auswüchse umschlugen. So schreibt zum Beispiel Spode über Gesundheitstrends seit dem späten 19. Jahrhundert, die in Nationalismus, Kommunismus und Faschismus gleichermaßen aufkamen:

“Ihre Verfechter trennten – teilweise – Welten, doch gemeinsam war ihnen der gesellschaftssanitäre, ‘hygienische’ Impetus, die Utopie der optimierten Effizienz und der normierten Homogenität als Basis einer wahren Gerechtigkeit und der Erschaffung eines ‘neuen Menschen’. […] Der Siegeszug diverser Heilslehren in der Zwischenkriegszeit erscheint heute als ein kollektiver Rauschzustand, der die vermeintlich ‘zivilisierte’ Welt erfasst hatte. Der ideologische Rausch ging bezeichnenderweise Hand in Hand mit einer physischen Ernüchterung: Der Konsum alkoholischer Getränke fiel auf historische Tiefststände; in einigen Ländern war er nun illegal. Vielen schien es um 1920, die Abschaffung des Alkohols sei nur noch eine Frage der Zeit. Sahen die einen ein Goldenes Zeitalter der Ordnung und des Wohlstands gekommen, so entsetzte die anderen die Tyrannei der ‘verkappten Religion’ des Antialkoholismus.”

Spode, 2010, S. 376-377

Und das war eben über viele Jahre die Begründung der Bundesrepublik gegen die Anerkennung der Geschädigten des “Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” vom 14. Juli 1933: Weil andere Länder – insbesondere auch die Länder Skandinaviens – mitgemacht hätten, könne es sich nicht um spezifisches NS-Unrecht handeln. Die Diskussion um die Entschädigung und Ächtung im Zusammenhang mit diesem Gesetz geht übrigens heute, fast 90 Jahre später, immer noch weiter.

Nochmal: Keiner der Teilnehmer der Debatte hat solche Maßnahmen im Sinn. Zudem ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Rechtsstaat und den Grund- und Menschenrechten verpflichtet. Man sollte aber die Risiken mitbedenken, wenn man staatlichen Stellen zu viel Macht in Gesundheitsfragen gibt. Mit anderen Worten: Die Autonomie und Freiheit der Menschen muss man hier zwingend miteinbeziehen – doch auch diese finden in den Berechnungen der Gesundheitsökonomen keinen Platz.

Dass auf der anderen Seite Werbungs- und Marketing-Maßnahmen nicht gerade autonomiefördernd sind, liegt auf der Hand. Darum waren wir in der Sendung einer Meinung, die Verfügbarkeit stark alkoholischer Getränke einzuschränken. Insbesondere das Anbieten von Spirituosen im Kassenbereich, die zu Impulsivkäufen verleiten und suchtkranken Menschen das Leben erschweren, war uns gemeinsam ein Dorn im Auge.

Zwischenbilanz

Fassen wir das bis hierher Gesagte zusammen: Zu Alarmismus besteht kaum Anlass. Die wissenschaftliche Datenlage ist komplex und wird insbesondere von aktivistischen Antialkoholikern einseitig dargestellt. Die häufig angeführten gesundheitsökonomischen Modelle sind von vorneherein voreingenommen. Und ein übertriebener Gesundheitsschutz kann in totalitäre Maßnahmen umschlagen.

Eine Vorstufe könnte sein, diejenigen auszugrenzen, die in einer Gesundheitskultur nicht den Idealvorstellungen entsprechen. Sie gelten dann beispielsweise als moralische Versager. Darin äußert sich die Doppelzüngigkeit unseres Umgangs mit dem Alkohol: Die Substanz ist allgemein verfügbar und sozial erwünscht – doch wer darüber die Kontrolle verliert, wird nicht mehr gerne gesehen. Die Ökonomen haben, wie wir sahen, für den (angeblichen) Schaden bereits die Rechnung aufgestellt.

Etwas spekulativer wäre noch ein Hinweis auf den Nozeboeffekt zu machen. Ebenso, wie wir wissen, dass positive psychologische Erwartungen (Placebo) die Gesundheit verbessern können, ist auch das Gegenteil wahr. Wenn man Menschen einredet, wie schlimm ihr Verhalten ist, wird man damit ihre Gesundheit beeinträchtigen. Das sollte man an anderer Stelle noch einmal vertiefen.

Prävention

Wie versprochen, will ich auch noch etwas über gelungene Prävention schreiben. Ein positives Vorbild ist hierfür das isländische “Planet Youth” Projekt, das unter dem Titel “Aufwachsen in einer chancenreichen Umgebung” auch schon in den Niederlanden erprobt wurde.

Island hat mit diesem Programm in inzwischen mehr als zwanzig Jahren den Alkohol-, Tabak- und anderen Drogenkonsum unter Jugendlichen deutlich reduziert. Es basiert auf den vier Säulen Familie, Freizeit, Freundeskreis und Schule. Wissenschaftliche Verfahren dokumentieren die Effekte. Damit und gestützt durch wissenschaftliche Funde aus anderen Ländern lassen sich die folgenden positiven wie negativen Faktoren identifizieren, hier kurz zusammengefasst:

Im familiären Bereich ist es hilfreich, wenn die Eltern wissen, wo sich die Kinder außer Haus aufhalten. Ebenso ist es ein schützender Faktor, wenn die Eltern die Kinder bei persönlichen und schulischen Problemen unterstützen. Zeit zusammen als Familie zu verbringen ist ein weiterer positiver Aspekt. Über Substanzkonsum sollte man Vereinbarungen treffen. Negativ wirkt sich hingegen aus, wenn die Eltern selbst (viel) trinken und in diesem Sinne Vorbilder für den Alkoholkonsum sind.

Im Freundeskreis helfen Vereinbarungen über den Substanzkonsum in Absprache mit anderen Eltern. Negativ wirkt es sich aus, wenn die Kinder noch spät draußen sind und unbeaufsichtigt feiern. Ebenso ist es ein negativer Faktor, wenn im Freundeskreis Substanzen konsumiert werden. Wissenschaftler räumen aber auch ein, dass Erwachsene hierauf wenig Einfluss haben.

In der Schule ist es positiv, wenn die Kinder ein gutes Verhältnis zu den Lehrerinnen und Lehrern haben und sich auch mit der Lehreinrichtung verbunden fühlen. Wenn an der Schule ein positives Klima besteht, dann ist das ebenfalls hilfreich.

Etwas umstrittener ist die Studienlage zu den Freizeitbeschäftigungen: Bei dem isländischen Projekt wirkte sich die Teilnahme an Sport, Kunst und kulturellen Aktivitäten positiv aus. In anderen Ländern geht Sport mitunter aber gerade mit einem höheren Alkoholkonsum einher.

Hierzu wird angemerkt, dass in den isländischen Sportclubs kein Alkohol angeboten wird und die Projekte von speziell hierfür ausgebildeten Fachleuten angeboten werden, die als Vorbilder auftreten. In anderen Ländern würden demgegenüber oft ehrenamtliche Helfer die Aufgaben übernehmen und würde man gemeinsam Alkohol trinken.

An diesen Beispielen sehen wir auch den von mir im ersten Teil gemachten Hinweis auf die Nichtlinearität: Man kann eben nicht nur Alkohol einschränken oder gar verbieten. Gleichzeitig muss man dann auch Alternativen anbieten. Der Mensch ist eben ein komplexes psychosoziales Wesen und kein einfacher Automat, an dem man hier und da ein einzelnes Rädchen anpassen kann, ohne die Gesamtheit zu beeinflussen.

Dass etwas hier als positiver oder negativer Faktor bezeichnet wurde, muss nicht automatisch bedeuten, dass er ausnahmslos durchgesetzt oder vermieden werden soll. Vielmehr geht es um Wahrscheinlichkeiten dafür, wie Alkohol- und anderer Substanzkonsum beeinflusst wird. Das sind wissenschaftlich fundierte Aussagen, die über präventive Maßnahmen getroffen werden.

Fazit

Ich sehe beim Thema Alkohol keinen Grund für Alarmismus. Natürlich machen sich übertriebene Aussagen über Risiken und Schäden in den Medien gut. Schließlich ziehen sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich.

Insbesondere ist überhaupt nicht klar, ob eine weitere Einschränkung des Pro-Kopf-Konsums in der Gesellschaft die wirklich problematischen Fälle reduziert. Wahrscheinlich wäre diesen auch mit einem Werbeverbot oder höheren Kosten nicht geholfen.

Aufklärung darüber, was die Risiken des Substanzkonsums sind und wie eine Abhängigkeit entstehen kann, halte ich demgegenüber für vielversprechender. Menschen, die problematische Mengen Alkohols – oder anderer Genussmittel und Drogen – verwenden, sollten die Möglichkeiten der Suchtmedizin offenstehen. Die immer noch bestehende Stigmatisierung ist hierfür kontraproduktiv.

Zudem stehen vielversprechende Präventionsmaßnahmen zur Verfügung, die sogar mit positiven familiären und sozialen Aspekten einhergehen. Am wichtigsten ist mir aber: Jeder sollte für sich die richtige Balance von Genuss und Produktivität, Zügellosigkeit und Maßhalten finden. Das gehört auch zu einem guten und vollständigen Menschenleben.

Quelle: Spode, H. (2010). Trinkkulturen in Europa. Strukturen, Transfers, Verflechtungen. In: J. Wienand & C. Wienand (Hrsgg.), Die kulturelle Integration Europas, S. 361-191. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Zum Weiterlesen:

Titelgrafik: wal_172619 auf Pixabay.

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31 Kommentare

  1. Wenn man von Gesundheitswahn spricht, dann vergisst man, dass dieser Wahn vernünftig ist. Und , er kann obendrein eine Befriedigung hervorrufen .
    Einer unserer Verwandten hat nie geraucht und nie Alkohol getrunken, er war klar bis zu seinem 97. Lebensjahr.
    Dabei war sein Motiv nicht ein hohes Alter zu erreichen. Er hat sehr lange gearbeitet, mit 70 hat er noch einen neue Aufgabe übernommen, er hat guten Kaffee getrunken, immer mit einer Sahnetorte kombiniert.

    Fazit: von Gesundheitswahn kann man nur sprechen , wenn alle Entscheidungen der “Gesundheit” dienen . Wer arbeit und dabei gesund lebt, kein Alkohol und keine Zigaretten, der macht es richtig.

  2. @fauv: Wie alt wurde der Kettenraucher Helmut Schmidt nochmal? Am Ende hatte er keine Lust mehr.*

    Die Diskussionen hier waren auch schon ‘mal besser.

    * Interessant wäre zu wissen, wie seine Gesundheit ohne das Rauchen gewesen wäre. Leider haben wir keine Kontrollperson. Man wird aber wohl annehmen dürfen, dass es seine wohlüberlegte, bewusste Entscheidung war.

  3. Alkohol gehört zur europäischen Kultur genauso wie etwa Tanzen und Feiern.
    Das war schon bei den alten Griechen so. Aber auch schon die alten Griechen kannten das Problem des übermässigen Alkoholkonsums. Trunkenheit im Alltag war damals verpönt, nicht aber Trunkenheit bei sogenannten Symposien, ein Wort das heute für (wissenschaftliche) Tagungen verwendet wird, im antiken Griechenland aber nichts anderes als ein Trinkgelage war.

    Im islamischen Kulturkreis ist Alkohol verboten und vielleicht nicht zufällig ist auch Tanzen im Wahabismus verboten (ausser Schwerttänze) und in der Sunna nur knapp geduldet, oft aber auch verboten.

    Das aus sich herausgehen oft in Begleitung des Alkoholkonsums gehört wohl zur europäischen Kultur.

    Für mich wird es problematisch, wenn Alkoholkonsum zum Alltag gehört so wie lange Zeit in Spanien, Italien, Griechenland und Frankreich oder wenn es exzessiv am Wochenende getrunken wird wie früher in Skandinavien.

  4. Stephan Schleim,
    Helmut Schmitt als Beweis zu präsentieren, wie relativ doch die Gefahren des Rauchens zu bewerten sind, das ist nicht gut.
    Wie vielen Rauchern müssen die Beine amputiert werden, das reicht doch für eine klare Entscheidung gegen das Rauchen.

    Beim Alkoholgnuss wird es schon komplexer, weil man die poitiven Wirkungen der alkoholischen Getränke auch nicht zu übersehen sind. Wer abends schlecht einschläft, der merkt schnell, dass ein Gläschen Rotwein Wunder bewirkt.

    Also, Alkoholische Getränke gehören zu den Genußmitteln und in Maßen genossen durchaus politiv zu bewerten. In Maßen !

  5. @Holzherr: Alkohol & Geschichte

    …im antiken Griechenland aber nichts anderes als ein Trinkgelage war.

    Da irren Sie sich. Lesen Sie zum Beispiel einmal Platons Symposium.

    Im islamischen Kulturkreis ist Alkohol verboten…

    Auch das ist verkürzt. Korrekt ist wohl, dass das Alkoholverbot im Islam erst im Laufe der Zeit verschärft wurde. Ursprünglich ging es darum, nicht betrunken in die Moschee zu kommen bzw. zu beten (Koranvers 4:43).

    Zudem wissen wir, dass sich Menschen nicht immer an die Regeln halten; und Regelverstöße, je nach Zeit und Ort, unterschiedlich hart geahndet werden. Beschäftigen Sie sich mal mit der mystischen Strömung des Sufismus: Deren Anhänger haben sich Verhaltensweisen erlaubt, die sich andere nicht trauten. Nicht immer wurden sie deswegen verfolgt.

  6. @fauv: Einzelfälle & Abhängigkeit

    Mit Einzelfällen kann man es sich so zurechtlegen, wie es einem passt. Ich habe selbst fünf Jahre lang viel geraucht, ca. von 14 bis 19, sicher ein Päckchen am Tag. Ich hatte mehrere Versuche nötigt, um aufzuhören. Dass es damals noch an jeder Ecke einen Zigarettenautomat gab und die Freunde in der Kneipe beim Biertrinken eine nach der anderen “Kippe” anzündeten, machten es nicht leicht. Seit dem Sommer 1999 habe ich keine einzige mehr geraucht. Das Verlangen bleibt. Und auch in meinem Umfeld starben Menschen nach langjährigem Konsum an Lungenkrebs.

    Es geht hier im Blog um wissenschaftliche Fakten und eine abgewogene gesellschaftliche Perspektive. Es wäre schön, wenn Sie sich daran orientieren.

  7. Stephan Schleim
    gesellschaftliche Perspektiven. Die Werbung für das Rauchen hat man in der EU erfolgreich eingeschränkt, für den Alkoholgenuss in Deutschland noch nicht, das ist noch eine offene Baustelle.
    Als Antwort auf ihre Überschrift antworte ich : Gesundheitswahn und Prävention.
    Multikulti auch beim Trinken !

  8. @Schleim : “Das Verlangen bleibt”

    ich hänge ja eher der These an, dass das Verlangen schon vor dem ersten Konsum von “Drogen” da ist. Hat man das auch mal untersucht?

    @fauv

    Was halten Sie eigentlich von dem Mündigen Bürger innerhalb von Sozialem Einfluss und Sozialer Kontrolle? Nehmen wir die von Ihnen immer wieder hergenommen Extereme, dann scheint es doch eher Stephan Schleim`s hier dargelegten Fakten und Tendenzen zu laufen.

  9. @Stephan Schleim (Zitat): „im antiken Griechenland aber nichts anderes als ein Trinkgelage war.“
    Da irren Sie sich. Lesen Sie zum Beispiel einmal Platons Symposium.

    Gut, ein Symposium war nicht nur ein Trinkgelage, sondern alles was zum Trinken dazugehört. In der Wikipedia liest man dazu:

    Das Symposion (altgriechisch Συμπόσιον Sympósion „Gastmahl“ oder „Trinkgelage“, latinisiert Symposium) ist ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon. Darin berichtet ein Erzähler vom Verlauf eines Gastmahls, das schon mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt. An jenem denkwürdigen Tag hielten die Teilnehmer der Reihe nach Reden über die Erotik. Sie hatten sich die Aufgabe gestellt, das Wirken des Gottes Eros zu würdigen. Dabei trugen sie von unterschiedlichen Ansätzen aus teils gegensätzliche Theorien vor. Jeder beleuchtete das Thema unter einem besonderen Aspekt. Es handelt sich nicht um einen Bericht über ein historisches Ereignis, sondern um einen fiktionalen, literarisch gestalteten Text.

    Alkohol öffnet eben auch die Tür zur Erotik. Wohl deshalb ist Im sunnitischen Islam sowohl Alkohol als auch Tanzen verpönt.

  10. Mussi,
    Herrn Schleims Argumente sind richtig und einleuchtend. Betrachte meine Extreme als das Salz in der Suppe.

    Was nie richtig ausgesprochen wurde, ich versuche es einmal, Alkohol hat eine gemeinschaftsfördernde Funktion mit einer Kehrseite, unter der hauptsächlich die Frauen zu leiden haben. Die Befürworterin des Antialkoholismus ist ja eine Frau, wie das doch zusammenpasst.

  11. @fauv

    Wenn wir wenigstens mal festellen, dass der selbe Stoffe, die selbe Substanz, sowohl positive als auch negative Eigenschaften gleichzeitig haben kann, dann ist man schon ein gutes Stück vorwärts gekommen!

    Frauen: meine Beobachtungen/Emperien sagen, dass Frauen sich häugiger vor Kontrollverlusten hüten bzw. es beherrschbar mögen bzw. für Ausgelassenheit Sicherheit bevorzugen. Fr. Stüben interpretiere ich mit ihrer Sucht eher unter diesem Aspekt. Möglich, dass sie sich als Opfer fühlt und glaubt, externe Kontrolle -staatliche- hätte sie davor geschützt. Abstrakt sehe ich da eher eine Klage an die Gesellschaft und da wären wir wieder bei Sozialem Einfluss und Sozialer Kontrolle.

  12. @Hauptartikel

    “Die genannte Zahl setzt sich aus direkten (vor allem Krankheitsbehandlung) und indirekten (vor allem Verdienstausfälle) Kosten zusammen. Erstere sollen 16,6 Milliarden, letztere 40,4 Milliarden betragen.”

    Was wohl nicht einfach zu bewerten ist. Wer wegen alkoholbedigten Krankheiten behandelt wird, der hätte ansonsten ein paar Jahre später eine andere Krankheit, die nicht unbedingt billiger wäre. Überhaupt geben die Krankenkassen einen großen Teil ihrer Mittel zum Lebensende hin aus. Von daher ist es wohl eher kostenentscheidend, ob man eine schnellen Abgang oder ein langsames Siechtum hinlegt.

    Was den Verdienstsausfall angeht, so müssen wir uns ja nicht der Arbeitgeberposition anschließen. Die mögen natürlich viele leistungsfähige potentiellen Mitarbeiter, die sie sich am liebsten aus einem reichhaltigen
    Angebot aussuchen. Insgesamt wird aber eher reichlich verschwendet, und in der Folge auch zu viel gearbeitet, dass dieses sogar als eines der Hauptprobleme unserer aktuellen Kultur betrachtet werden kann. Neben ökologischen Nebenwirkungen kann hier auch der seit Jahrzehnten grassierende Kindermangel einer übermäßigen Orientierung auf Erwerbsarbeit zugeordnet werden.

    Nebenbei sind es wohl eher die wirklich Alkoholsüchtigen, die den Großteil der angesprochenen Schäden abgekommen. Und wenn die früher versterben, dann sparen auch die Rentenkassen Einiges ein.

    Insgesamt scheint mir, haben wir kein wirkliches Finanzproblem mit unserem Alkoholkonsum.

  13. @Mussi: Verlangen

    Es gibt keine endgültige Erklärung dafür, wie Verlangen entsteht – und wie am Ende eine Abhängigkeit/Sucht.

    Ein Faktor, mit dem man einen Teil erklären kann, ist die Offenheit für neue Erfahrungen (engl. sensation seeking). Manche Menschen brauchen eben mehr Abwechslung, langweilen sich schneller, suchen eher extreme Zustände… Das ist, wohlgemerkt, aber nur eine Teilerklärung. Ein Großteil hat mit der psychosozialen Umwelt zu tun, in der man aufwächst und lebt, was sich ja auch aus den Absätzen über Prävention rückübersetzen lässt. Dazu dann noch ein kleiner Teil Genetik.

    Aber es ist doch auch so, dass viele Genussmittel/Substanzen am Anfang gar nicht schmecken und man den Konsum erst erlernen muss.

  14. @Tobias: Kostenrechnung

    Solche Kostenrechnungen sind voll im Trend – aber aus menschlicher Sicht nicht ohne, wie ich hier anzudeuten versuchte.

    Den Punkt mit der “Entlastung” der Rente habe ich mir verkniffen; das fand ich zu makaber. Aber wenn man das ökonomische Modell anwendet, dann müsste man das frühere Ableben konsequenterweise mit den Krankheitskosten verrechnen, ja, zum Beispiel von der durchschnittlichen Lebenserwartung ausgehend (die für die meisten Männer ohnehin um Jahre niedriger liegt, so wie Männer auch ca. drei Viertel der schweren Problemfälle der Alkoholkranken ausmachen).

    Wie dem auch sei: Am liebsten wäre es mir, man würde diese einseitigen und voreingenommenen Rechnungen ganz sein lassen.

  15. @Stephan schleim (Zitat): „ Beschäftigen Sie sich mal mit der mystischen Strömung des Sufismus: Deren Anhänger haben sich Verhaltensweisen erlaubt, die sich andere nicht trauten. Nicht immer wurden sie deswegen verfolgt.„

    Ja, wobei es auch im Islam etwas wie Häresie und als häretisch betrachtete Strömungen gibt. Sunna und Shia entsprechen quasi Protestantismus und Katholizismus, sind also „offiziell“ und alles andere wurde immer wieder – auch in der Moderne – als Häresie betrachtet. Konkret hatte der Sufismus in Pakistan lange Zeit viele Anhänger bis in Pakistan der Fundamentalismus immer mehr an Boden gewann. Dazu liest man in der Wikipedia (Verfolgung in Iran, Pakistan und Saudi-Arabien) folgendes:

    In Pakistan sind die Mystiker zunehmend ins Visier von Fundamentalisten geraten, die den Taliban oder der Al-Qaida nahestehen. In den Jahren 2005 bis 2009 gab es neun Anschläge auf Sufischreine mit insgesamt 81 Toten.[30] Im Jahre 2010 gab es fünf Anschläge auf Schreine der Sufis, darunter einen Selbstmordanschlag auf das größte Heiligtum Pakistans, den Schrein des Data Gandsch Bakhsch im Zentrum Lahores, bei dem 45 Menschen starben, sowie zwei weitere Selbstmordanschläge auf den Schrein des Abdullah Shah Ghazis in Karachi, bei denen neun Personen getötet und 75 verletzt wurden.[30] Die ablehnende Haltung gegenüber dem Sufismus in Pakistan geht vor allem von den Deobandi [islamische Hochschule in der Kleinstadt Deoband] und den Ahl-i Hadīth [islamische Reformbewegung] aus.[31]

    Am 16. Februar 2017 starben bei einem Anschlag auf den Lal-Shahbaz-Qalandar-Schrein in Sehwan Sharif mindestens 88 Besucher, darunter mindestens 20 Kinder und neun Frauen. Über 340 wurden zum Teil schwer verletzt. Zu dem Anschlag bekannte sich der Islamische Staat.

    Fazit: Shia und Sunna sind die Hauptrichtungen im Islam und in beiden sind Alkohol und Tanz haram (Sünde?: jedenfalls verboten). Wichtig ist das vor allem seit beide – Sunna und Shia – tendenziell fundamentalistischer wurden, was bedeutet, dass Abweichungen von der Orthodoxie weniger toleriert werden.

  16. @Holzherr: islamische Länder

    Es gibt verschiedene Auslegungen der Schriften – und dann noch einmal Unterschiede darin, je nach Staatsform, wie streng man sich an die religiösen Vorgaben hält.

    Mystiker sind i.d.R. Individualisten, die ihre eigenen Antworten suchen. Darum sind sie Autoritäten ein Dorn im Auge. So wurden “Einsiedler” beispielsweise auch im Christentum vom römischen Kaiser Justitian mit der neuen Klostergesetzgebung ab dem Jahr 535 dazu gezwungen, in Gemeinschaften zu leben. Dort gab es dann soziale Kontrolle.

    Wie dem auch sei: Was diskutieren wir hier? Gut, in islamischen Ländern ist der Alkoholkonsum allgemein niedriger. Trotzdem haben sie i.d.R. keinen höheren Lebensstandard und auch keine höhere Lebenserwartung. Eher im Gegenteil. Ist das nicht komisch, für die Prohibitionisten hier in der Diskussion?

  17. Was Gesundheit bedeutet, scheint streitbar. Besonders, wenn man die rein medizinische Fragestellung mit politischen Freiheitsbegriffen koppelt und das unzweifelhafte Recht einer hedonistischen Lebensweise der Menschen in diesem Land in die Fragestellung mit einmischt.
    Vielfach mit Suchtprävention befasst kenne ich nur wenige Akteure, die ein Abstinenzparadigma verfolgen. Genauso wenig ist es das Selbstverständnis der Suchtprävention, staatlich verordnete Gesundheitsmodelle für eine (spaßfreie) effiziente Lebensführung zu vermitteln. Der Umgang mit Suchtmitteln ist gesellschaftliche Praxis und lässt sich ohnehin nicht durch Verordnungen steuern.
    Wer allerdings mit Menschen gearbeitet haben, deren Umgang mit Suchtmitteln nichts mehr mit Lebensqualität zu tun hat, die davon krank geworden sind, relativiert das Bild von der Freiheit des Genusses. Denn Freiheit ist ein selbstbestimmter Wert der Menschen. Ein Versprechen, das alle Rauschmittel nur eingeschränkt einhalten. Die Entwicklung von Abhängigkeiten verläuft schleichend und hoch schädigend, eine Entwöhnung von den Suchtstoffen ist oftmals ein lebenslanger Disziplinierungsprozess.
    Für die Suchtprävention ist richtig, dass das Denken über die Entwicklung von Suchterkrankung nicht für alle gleich gilt. Wie man auch immer die hohen Alkoholkonsumraten in Deutschland bewertet, es werden nicht alle abhängig. Gleichwohl ist es eine neuere Erkenntnis, dass man von Alkohol gar nicht abhängig werden muss, damit er schädlich wirkt. Ich will hier die Details nicht ausführen, aber selbst wenn nicht 200 Krankheiten die Folge wären, sondern nur 60, so wäre es aus verschiedenen Gründen ratsam, der leichten Verfügbarkeit von Alkohol und die damit verbundene Möglichkeit einer Toleranzentwicklung gute Beratung entgegenzustellen. Das trifft auf alle Suchtstoffe (und auch Glücksspiel) zu, deren Kulturen Mythen der Konsumunbedenklichkeit entwickelt. Man könnte umgekehrt auch sagen: Es weckt Misstrauen, wenn man dieser Mythenbildung nicht anderslautende Erkenntnisse entgegensetzen kann, ohne in den Ruf zu kommen, ein Spielverderber zu sein. Das hat mich schon immer gestört, wenn man Menschen oder Institutionen berät. Und auch im Artikel von Herrn Schleim scheinen alte Mythen zur Suchtprävention bedient zu werden.
    Mich stört der Verweis auf die kulturelle Verankerung von Alkohol als Argument für seine nahezu anthropologische Grundvoraussetzung für eine Gesellschaft. Historisch gab es auch Kriege als Durchsetzung politischer Ziele, ist der Frau eine spezifische Rolle zugewiesen, war der Bauer entrechtet, wurde die Notdurft auf die Straße gekippt. Eine Gesellschaft entwickelt sich und löst sich von historischen Bezügen. Auch Suchtmittel haben die Chance, in ihrer Bedeutung zumindest abgeschwächt zu werden.
    Mich stört der Hinweis, dass Warnungen vor den überzogenen Gebrauch von Alkohol als lustfeindlich eingestuft werden. Was wäre das für ein Menschenbild, das Freude nicht mehr ohne Katalysator empfinden vermag. Die Rückmeldung der von Alkoholkrankheit betroffener Menschen ist meines Wissens, dass man lernen muss, wie man Spaß ohne Alkohol haben kann. Was schwer ist, da man es nie anders lernte. Es soll wohl aber funktionieren.
    Mich stört, dass zum Beispiel Alkohol aus Ausdruck einer hedonistischen Lebensweise verstanden wird, wenngleich es viele gibt, die es zur Selbstmedikation einsetzen bei Angst, Sozialphobie oder Depression. Man würde sich wünschen, diesen Menschen würde ein besseres Unterstützungsangebot als ein Nervengift gereicht werden. Würde man Tabus aufbrechen und ins Gespräch über die genannten Gefühle oder Erkrankungen kommen, würde Freiheit wirklich darin bestehen, zwischen Angeboten zur Kompensierung von Einschränkungen wählen zu dürfen.
    Und nein, Suchtprävention mit Zielen im Nationalsozialismus gleichzusetzen ist wirklich misslungen. Mag sein, dass die Erfahrungen des Einzelnen die sind, dass drastisch vor Drogen gewarnt wird und man einen unglaubwürdigen Vertreter der suchtpräventiven Zunft getroffen hat. Moderne Suchtprävention überlässt den Bürgern die Wahl ihrer Lebensführung, überlässt aber nicht den Gruppen, die Profiteure des Verkaufs von Rauschmitteln sind, die Definitionshoheit über die Substanzen.

  18. @Peters: Störungen

    Mich stört auch viel im Leben. Daran kann man arbeiten. Seitenlange Leserkommentare nenne ich jetzt nicht als Störfaktor. 😉

    Es ist aber so, dass wir bis auf Weiteres in einem liberalen Rechtsstaat leben. Wenn Sie diese seit Jahrtausenden verankerte Kultur aushebeln wollen, ginge das nur um ein Verbot und schwere Repression. Die gesellschaftlichen Folgen wären dramatisch. Wollen Sie das wirklich?

    Mich stört, dass zum Beispiel Alkohol aus Ausdruck einer hedonistischen Lebensweise verstanden wird, wenngleich es viele gibt, die es zur Selbstmedikation einsetzen bei Angst, Sozialphobie oder Depression.

    Die Aspekte des instrumentellen Konsums wurden doch gerade in meinem Blog immer wieder angesprochen. Außerdem will nicht jeder zum Psychiater rennen, zum Teil aus gutem Grund.

    Würde man Tabus aufbrechen und ins Gespräch über die genannten Gefühle oder Erkrankungen kommen, würde Freiheit wirklich darin bestehen, zwischen Angeboten zur Kompensierung von Einschränkungen wählen zu dürfen.

    Die Stigmatisierung (verbunden mit Tabuisierung) habe ich hier gerade problematisiert. Ich verstehe nicht, inwiefern mich diese Kritik treffen soll. Zudem ist MENSCHEN-BILDER seit 15 Jahren ein Ort für freien Austausch. Ihre Haltung wirkt auf mich demgegenüber viel zu verurteilend.

    P.S. Nur fürs Protokoll: Ich habe Suchtprävention und Nationalsozialismus sicher nicht gleichgestellt, auch nicht in ihren Zielen. Vielleicht mögen Sie die Texte noch einmal lesen, wenn Sie in einem anderen mood sind?

  19. Als Wissenschaftler sollten Sie doch eigentlich davon befreit sein, die Vertreter:innen von Gegenmeinungen zu diffamieren. Nathalie Stüben ist als Alkoholikerin mit Sicherheit keine »Antialkoholikerin« und als alarmistisch und aktivistisch ist sie in der Sendung auch nicht aufgetreten.

    Dass Regierungen verpflichtet sind, ihren Bürger:innen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten, kommt in Ihren Betrachtungen insgesamt gar nicht vor. Einen Markt, der gesundheitsschädliche Produkte vertreibt, strenger zu regulieren, als das in Deutschland bisher geschieht, hat nichts mit Religion zu tun, dafür mehr mit der UN-Kinderrechtscharta.

  20. Oliver Peters,
    Sie sprechen einen wichtigen Teil des Menschseins an, die Freiheit. „Denn Freiheit ist ein selbstbestimmter Wert der Menschen. „
    Dabei wird es schon kritisch, denn diese Behauptung stimmt nicht. Keine Frau mit Kindern kann tun was sie will, sie muss das tun, was die Familie von ihr fordert.
    Auch der Ehemann kann nicht tun was er will, er muss arbeiten und seine Familie ernähren.

    Und sie können auch nicht tun was sie wollen, z. B. an die nächste Hauswand pieseln, weil gerade die Blase drückt.

    Unser Leben ist eingepasst in die sozialen Normen, von der Kleidung, über das Essen, auch die Getränke über den Tagesablaufes bis hin zur Beerdigung der nächsten Angehörigen.

    Kurz, das mit die Freiheit bezieht sich auf die Zielsetzungen und die bleiben meist auch nur Wünsche.
    Und jetzt soll der Alkohol dieses Missverhältnis von Zwang und Freiheit glattbügeln ?
    Das kann der Alkohol nicht. Er gibt uns nur kurzzeitig ein Gefühl von Freiheit .
    Das mal so spontan herausgedacht.

  21. @Kleinschmidt: Fakten & Sprache

    Wenn Sie mal einen Blick in ein Wörterbuch werfen und die Kirche im Dorf lassen würden, dann kämen wir vielleicht ins Gespräch. So z.B. der Duden:

    Antialkoholiker = jemand, der grundsätzlich keinen Alkohol trinkt

    Vielleicht fällt Ihnen Ihr Irrtum jetzt selbst auf. Wenn nicht, dann kann ich das nicht ändern.

    Wenn Ihnen übrigens nichts an der korrekten Darstellung wissenschaftlicher Sachverhalte liegt – das ist das Thema dieser beiden Beiträge –, dann sind Sie hier am falschen Ort. Im Übrigen ist die Bundesrepublik Deutschland ein liberaler Rechtsstaat und eben keine Gesundheitsdiktatur; darum gibt es auch kein Supergrundrecht Sicherheit/Gesundheit.

    Aber auch hier irren Sie sich ebenfalls auf der Faktenebene, da die allermeisten Konsumentinnen und Konsumenten alkoholischer Produkte deswegen keine Gesundheitsprobleme erfahren.

  22. Ui ui ui, da habe ich ja aber einen Nerv getroffen. Ich schenke Ihnen drei Rechthaberpunkte – denn eigentlich suchen Sie ja gar nicht das Gespräch, sondern nur die Zustimmung zu Ihrer Meinung. Gegensätzliche Meinungen werden von Ihnen pathologisiert (Stichwort »Gesundheitswahn«) oder übertrieben (Stichwort »Gesundheitsdiktatur«). Eine sachliche Diskussion über Alkoholpolitik wollen/können Sie ja offenbar gar nicht führen.

    Was mich wundert: Wieso streiten Sie so leidenschaftlich für die Profitinteressen der Alkoholindustrie? Haben Sie dort Aktien am Laufen?

    Und was lässt Sie glauben, dass Sie als Philosoph und Kognitionswissenschaftler gesundheitsökonomische Forschung kompetent kommentieren können?

    Bevor Sie mich wieder zu belehren versuchen: ich frag’ ja nur ‘mal.

    [Wenn Sie sich endlich benehmen und mit den inhaltlichen Fragen auseinandersetzen, anstatt hier vorwiegend emotional aufzutreten, bekommen Sie von mir auch eine inhaltliche Antwort, okay? Ansonsten gelten auch für Sie hier die Diskussionsregeln. S. Schleim]

  23. @fauv – ‘Unfreiheiten”

    Sie beschreiben die Motive für Alltagsflucht durch Drogen-Alkohol als Bewältingungsstrategie.

    Was ich bis heute nicht begreife: Jedes Individuum und Gruppe versucht diesen Alltag zu bewältigen. Es ist mir ein Rätsel warum man sich nicht zusammen tut,um diesen gleichen Alltag zu bewältigen,anstatt es als Konkurrenz-/Wettbewerbssituation anzusehen.
    Jeder weiss darum,aber irgendwie scheint man es als Geheimnis vor dem anderen zu verbergen. Schizophren

  24. @fauv

    Arbeitsteilung ist die Lösung.
    Aber ich habe den Eindruck,der Blick wird zu sehr auf die Suggestion der ,Teilung’ gelegt,anstatt auf ‘Kooperation’.

  25. @fauv

    Im Grunde wird diese intrinsische Motivation des Überlebens- und Lebenswillen,den jeden mehr oder weniger betrifft, in die Kommunikation der Konkurrenz gepackt,obwohl es real bereits eigentlich Kooperationsverhalten ist.Sonst hätten wir nicht diesen Wohlstand. Das ist das Dilemma und die Tragik der Ökonomie,die Verhaltensbiologie immer noch nicht verstehen will. Ich halte die deshalb die Ökonomen für Totalversager.
    Völlig schräg. In der Psychatrie würde man sagen,die Ökonomen sind dysfunktional.

  26. @Oliver Peters

    Vor Jahren war ich mal in der Situation,das Verhältnis zwischen Dysfunktion und Funktion zu analysieren.
    Das hat die Psychatrie bis heute nicht.
    Was ist die Lebensfunktion?

  27. Mussi Teil- OT

    jetzt wird’s religiös

    Das Zusammenleben der Menschen wie es sein sollte und wie es sich tatsächlich zeigt, das wird schon im Alten Testament beschrieben. „Kain, wo ist dein Bruder Abel“ fragt Gott den Kain, nachdem der seinen Bruder erschlagen hatte. .
    Heute wird als Motiv Eifersucht genannt, Kain fühlte sich zurückgesetzt.

    Kommt eine Frau dazu, und der eine Mann tötet den Nebenbuhler, dann ist Eifersucht im Spiel.
    Ich denke, das ist unser tierisches Erbe, wo die Triebe über den Verstand triumphieren.

    Auf höherer sozialer Ebene finden wir die Zusammenarbeit in höherem Ausmaß als die Rivalität.
    Sonst gäbe es keine Gemeinschaften, keine Staaten.

    In der Wirtschaft finden wir auch Zusammenarbeit und Rivalität gleichzeitig.
    Die Zusammenarbeit in der Produktion kennen wir unter dem Begriff Arbeitsteilung.
    Die Rivalität kennen wir unter dem Begriff Konkurrenz.

    Beides gibt es und beide sind in Maßen sinnvoll. Marx hat genau vorausgesehen was geschieht, wenn die Konkurrenz nicht mehr funktioniert. Der alleinige Anbieter kontrolliert den Markt und die Preise. Das Nachsehen hat der Verbraucher.
    Dass der „ Himmel der Zusammenarbeit“ nicht so himmlisch ist, das hat uns der Sozialismus gelehrt, wo einige gleicher sind als Andere.
    Jetzt , was hat das mit Alkohol zu tun ?

    Ich denke, mit dem Alkohol sollten wir genauso umgehen wie wir mit der Ökonomie umgehen “berechnend “. Einmal ist er unser Freund, und einmal ist er unser Gegner.

  28. @fauv 03.08. 09:56

    „Auf höherer sozialer Ebene finden wir die Zusammenarbeit in höherem Ausmaß als die Rivalität. Sonst gäbe es keine Gemeinschaften, keine Staaten.“

    Naja, die Geschichte des Staatswesens ist nun eher mit ausufernder Ausbeutung durchsetzt. Was sich militärisch durchgesetzt hat, hat sich ausgebreitet. Nicht unbedingt, was für eine gute Gemeinschaft gesorgt hat. Obwohl dies auch miteinander einher gehen kann. Entsprechend macht die Qualität der verschiedenen Staatswesen auf der Welt auch durchaus immer wieder mal Fortschritte.

    „In der Wirtschaft finden wir auch Zusammenarbeit und Rivalität gleichzeitig.“

    Offenbar brauchen wir beides in Maßen. Und auch in einer gewissen Selbstverantwortung. Wenn das aggressivste Schwein den Vorstandsposten bekommt, ist das ungut. Und wenn der größte Idiot an die Macht kommt, weil er so schön auf Parteilinie ist, dann taugt das auch nichts.

    Die Art der Organisation ist auch noch mal relevant. Ehemalige Monopolisten können immer noch gut Kartelle bilden. Viele kleine selbstständige Firmen stehen für eine gute Konkurrenz, die aber auch mal ruinös werden kann. Wohnungsbaugenossenschaften können auch sehr gute Arbeit machen, die Gewinne werden in Neubauten investiert. Krankenhäuser als GmbH können zu unnötigen Operationen neigen. Demokratien können die Regierung auswechseln, ohne dass es zu Schießereien kommt. Gewerkschaften können die Konkurrenz unter den Arbeitnehmern entschärfen, dass hinterher alle weniger arbeiten müssen und trotzdem besser verdienen können.

  29. @all: Stress

    Jede Zeit hat ihre Herausforderungen…

    …doch die Klage über Stress (wie überhaupt das Aufkommen dieses Begriffs und Techniken zur Stresskompensation, wie in jüngerer Zeit beispielsweise Meditation oder Yoga) ist durchaus ein Phänomen, das mit Beschleunigung und dem Wohnen in Ballungsräumen, in jüngerer Zeit der Digitalisierung, permanenten Verfügbarkeit und Selbstoptimierung, darum wahrscheinlich einer allgemeinen Reizüberflutung zusammenhängt.

    Deutsche wollen weniger Stress – doch wie?

  30. @Stress

    Vielleicht wird ja gerade zu wenig geraucht und getrunken?

    Die Verlockungen sind aber auch größer. Man kann mit seinem Geld viel mehr interessante Sachen kaufen, dass motiviert wiederum mehr zu arbeiten. Aber auch kann man sich wesentlich vielfältiger im Internet informieren und auch austauschen, so wie wir das hier gerade machen.

    Mehr Reize, mehr Wissen, mehr eigene Beteiligung treibt an. Diese Entwicklung läuft seit den 60ern des letzten Jahrhunderts, und der Kindermangel, der daraus auch entsteht, der nimmt eher immer noch weiter zu. Nun gut, hat auch sein Gutes, so ist mehr Platz auf der Welt pro Einwohner.

    Weniger kaufen und weniger arbeiten und Geld verdienen steht vielen frei. Dann haben wir auch wieder Luft für Action im Sinne was uns wirklich interessiert, und irgendwann auch wieder Zeit für Kinder. Eine durchgreifende Reduzierung allgemeiner kommerzieller Aktivität löst noch ein paar Probleme mehr. Umwelt, Klima und Ressourcen werden geschont, und Motivationen, Kriege anzuzetteln um eigene Geschäfte zu fördern, die würden noch weiter an Sinn verlieren.

  31. @Tobias: Alkohol & andere Mittel

    Wir trinken zu wenig? Vielleicht hätten Sie dich in die Sendung einladen sollen!

    Aber mal im Ernst: Der Alkoholkonsum geht seit Jahrzehnten zurück – dafür schlucken die Menschen immer mehr Psychopharmaka (wozu ich auch die beliebten Schmerzmittel zähle). Insbesondere die Opioid-Epidemie ist von der Pharmafirma und den Ärzten selbst verursacht.

    Im Vergleich zu diesen Todeszahlen ist Alkohol fast ein Witz. Darüber sollten die Prohibitionisten mal nachdenken.

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