Wie viel Schlechtes können wir der Seele zumuten?

Schlechte Nachrichten lauern überall – wir brauchen nur den Fernseher oder das Radio einzuschalten oder auch Nachrichtenseiten im Internet zu besuchen. Unsere Fähigkeit zur moralischen Beunruhigung oder gar Empörung ist etwas Edles, das uns als Menschen auszeichnet. Gleichzeitig kann sie uns aber erschöpfen, kann uns ein erschöpftes Selbst am Denken und Handeln hindern. Wie viel Schlechtes können wir uns zumuten und welche Rolle spielen Institutionen dabei, mit unserer moralischen Unruhe umzugehen?

Kürzlich hatte ich einen anregenden Gedankenaustausch mit einer jungen Psychoanalytikerin aus der belgischen Stadt Gent. (Nebenbei: In den Niederlanden ist mir noch nie bewusst eine Psychoanalytikerin über den Weg gelaufen; vielleicht liegt das daran, dass man in der primären psychischen Gesundheitssorge gemäß dem Basistarif der Krankenversicherung einen Vergütungsanspruch für gerade einmal fünf Stunden pro Jahr hat – wie soll man in der Zeit schon in die Tiefe gehen?) Nach einer unruhigen, schlaflosen Nacht, in der ihr viele Dinge durch den Kopf gegangen waren, stellte sie die Frage: Hat man denn kein Recht auf Nichtwissen?

Vielleicht war es der Newsletter der Krankenversicherung, Berichte über politische Entwicklungen oder ein Aufruf, eine Petition zu zeichnen, der bei ihr das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht hatte: Ist es denn eine moralische Pflicht, sich über alle Katastrophen auf der Welt, alles, was schief geht, die Skandale in Politik oder in der Forschung, die vielen Orte, an denen Menschen leiden, und Vieles mehr auf dem Laufenden zu halten? Kann man eine gesunde Grenze ziehen zwischen sich selbst, seinem eigenen Leben und dem, was einen nichts angeht?

Berufen, um zu helfen

Natürlich hat diese Bekannte schon einen Hauptberuf, der darin besteht, sich das Leid, die Sorgen, die erfahrenen Demütigungen und Misshandlungen anderer Menschen anzuhören; dabei muss sie einerseits einfühlsam sein, um mit ihren Patienten eine Vertrauensbeziehung aufzubauen, andererseits aber auch einen kühlen Kopf bewahren, um die richtigen therapeutischen Entscheidungen zu treffen, an denen im Zweifelsfall sogar ein Leben hängen kann. Die Frage beziehungsweise Klage der Bekannten, die für sich das edle Ziel gewählt hat, anderen zu helfen, konnte ich gut verstehen.

Ich musste an ein Gespräch mit einer jungen französischen Philosophin denken, das ich vor einigen Jahren einmal bei einem Spaziergang durch den Frankfurter Palmengarten hatte; einer Philosophin, die ihr Leben gerne mit dem Auf und Ab einer Achterbahnfahrt verglich. (Wenn ich mir heute ihre Internetseite ansehe, dann gewinne ich den Eindruck, dass es in den letzten Jahren bei ihr oft bergauf ging.) Wir unterhielten uns dabei über all die schlimmen Dinge, die in der Welt passieren, und wie diese schlechten Nachrichten auf uns wirken. Sie erzählte mir, dass sie sich jeden Morgen um 7 Uhr von ihrem Radiowecker wecken ließ und dementsprechend die 7-Uhr-Nachrichten hörte – jeden Morgen, noch vor dem Aufstehen, so viele schlechte Nachrichten!

Wenn der Tag schon mit schlechten Nachrichten beginnt…

Ich konnte mir gut vorstellen, dass einem dabei die Lust am Tag vergeht. Wir kamen dann auch zu dem Schluss, dass es für das Aufwecken bessere Möglichkeiten gibt, und sie nahm sich vor, sich stattdessen von ihrer Lieblingsmusik wecken zu lassen. Dass diese Wahl nicht ganz unüberlegt getroffen werden sollte, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Zwar kann es einem vielleicht einen wunderbar-intensiven melancholischen Morgen besorgen, wenn man sich etwa vom Musical Les Misérables aufwecken lässt – pünktlicher im Büro dürfte man angesichts des ungerechten Leids, das den unverschuldet Armen, Schwachen und Ausgegrenzten angetan wird, aber wohl eher nicht landen.

Das sind alles Evidenzen dafür, dass wir der Seele nicht beliebig viel Schlechtes zumuten können. Sollte man daraus etwa den Schluss ziehen, die Augen davor gänzlich zu verschließen? Oder sind wir nicht, in den Worten der Bekannten aus Gent, als verantwortliche Bürger (und gute Christen) vielmehr dazu verpflichtet, so viel wie möglich zu wissen, um eine informierte und richtige Entscheidung treffen zu können? Christ hin oder her, in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat nicht ohne Grund die Menschenwürde eine große Rolle gespielt – und wie manche zu vergessen scheinen, ist damit nicht nur die Menschenwürde der Deutschen gemeint, sondern die aller Menschen.

Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. (Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland)

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (Art. 1, Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland)

Wo aber die Grenze ziehen?

Wo aber die Grenze ziehen zwischen bequemer Ignoranz und erdrückender Betroffenheit? Die Antwort hierauf wird keine Allgemeine sein: Verschiedene Menschen werden zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Maßen dazu in der Lage sein, sich für ein höheres Ziel wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt einsetzen zu können – oder eben auch nicht.

Der Rat, den ich der Bekannten gab, war folgender: Wenn sie sich so sehr über die großen Probleme in der Welt den Kopf zerbricht, dass sie schon keine Energie mehr für die kleineren Aufgaben in ihrem Umfeld hat (man denke an ihre Patienten), dann ist damit am Ende niemandem geholfen. Es mag wohl eine edle Herausforderung sein, sich den großen Problemen zu stellen, wohl aber auch eine Herausforderung, die die meisten von uns früher oder später in die Psychotherapiepraxis führen wird; und an Patienten mangelt es denen so schon nicht.

Moral ist nicht willkommen

Das Absurdeste ist aber meiner Erfahrung nach, dass diejenigen, die über eine gewisse moralische Sensibilität verfügen und sich dann anschicken, ein moralisches Ziel zu verfolgen, von ihrem Umfeld belächelt, wenn nicht gar ausgegrenzt werden. So gab es beispielsweise am Philosophischen Seminar der Universität Mainz in den Jahren 2000 bis 2005 einen kleinen aber aktiven Kreis, der sich mit der Tierrechtsproblematik auseinandergesetzt hat und deshalb nicht nur häufig eine vegetarische, sondern in manchen Fällen sogar eine vegane Ernährung und Lebensweise praktizieren wollte – dass es gerade in der ZEIT eine Serie über das vegane Leben gab, zeigt, dass diese Leute ihrer Zeit voraus waren.

Selbst unter Philosophinnen und Philosophen stieß man damit aber eher auf Unverständnis und fühlten sich viele genervt, wenn man ihrer Meinung nach immer auf einer Extrawurst bestand (nämlich einer tierfreien Ernährung), während man in Wirklichkeit ja gerade keine Extrawurst wollte. Sogar dann, wenn man den Fleischfressern um einen herum die Extrawurst gar nicht strittig machen wollte, führte allein schon die Anwesenheit von Menschen mit grundlegend anderen Vorstellungen über Ernährung und Lebenswandel zu so frustrierenden wie unnützen Diskussionen (Darf man seinen Hund essen?).

Niemand muss perfekt sein

Beispielsweise enthielt sich die Kommilitonin, während sie ihre Currywurst verschlang, nicht der Bemerkung zu ihrem veganen Kommilitonen, der wenigstens irgendwie am sozialen Ritual des miteinander Essens teilhaben wollte und daher eine Portion Pommes mit Tomatenketchup bestellt hatte, ob diese Fritten nicht in tierischem Fett gemacht worden seien. Es sei an Bertolt Brechts weise Worte erinnert: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Vielleicht nicht perfekt – aber ein Versuch. In Reaktion auf die unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den Fabriken der Zulieferer des Marktführers Apple kann man etwa seinen Apfel zukleben. Überraschend, wie viele Leute einen beim halten von Vorträgen, beim Arbeiten im Zug oder auch bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen darauf ansprechen.
Vielleicht nicht perfekt – aber ein Versuch: In Reaktion auf die unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den Zuliefererfabriken des Marktführers Apple kann man etwa seinen Apfel zukleben. Überraschend, wie viele Leute einen beim halten von Vorträgen, beim Arbeiten im Zug oder auch bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen darauf ansprechen.

Kurzum, moralisches Engagement scheint nicht wirklich „in“ zu sein, wenn man nicht gerade einen Bestseller übers Tiereessen gelandet hat, und es scheint auch nicht besonders „sexy“ zu sein, wenn man nicht gerade Pamela Anderson heißt und sich für Babyrobben einsetzt. Hat man erst einmal den inneren moralischen Schweinehund überwunden, dann werden es einem die moralischen Schweinehunde der anderen auch nicht einfacher machen. Im Gegenteil werden sie es auskosten, einem die kleinste Inkonsequenz seines Wertesystems vor Augen zu führen, anstatt die große Doppelmoral ihres eigenen auf den Prüfstand zu stellen. Spätestens dann, wenn der eigene Speiseplan, das eigene Auto, das eigene Urlaubsziel, der eigene Kleiderschrank betroffen ist, dann hört der Spaß auf – und im Zweifelsfall auch die Freundschaft.

Unmoralische Institutionen

Diese moralische Taubheit und Betäubung begegnet uns aber nicht nur auf der individuellen Ebene. Viel seltener reflektieren wir wohl darüber, wie die Institutionen mit uns umgehen; vielleicht sind es sogar gerade diese Institutionen, die uns eigentlich helfen sollen, die im Gegenteil unser moralisches Gefühl abstumpfen oder umdeuten. Dabei denke ich auch an die Psychotherapie, mit der dieser Beitrag anfing.

Als Karl Marx Religion als das Opium des Volkes bezeichnete, hatte er vielleicht genau dies im Sinn: dass die Religion durch ihr Versprechen eines Paradieses im Jenseits womöglich die moralische Empörung im Diesseits betäubte, so wie Opium den Geist sediert. Damit sei nicht in Abrede gestellt, dass die Eschatologie, die religiöse Lehre vom Endschicksal der Menschen und der Welt, Menschen beruhigen kann und ihnen in diesem Sinne hilft – zu politischer Freiheit, Autonomie und Handeln wird das einen aber wohl nicht motivieren.

Psychotherapie kann helfen – vielleicht stabilisiert sie aber manchmal auf gesamtgesellschaftlicher Ebene problematische Zustände, indem sie das moralische Unbehagen betäubt.
Psychotherapie kann helfen – vielleicht stabilisiert sie aber manchmal auf gesamtgesellschaftlicher Ebene problematische Zustände, indem sie das moralische Unbehagen betäubt. Credit: Rainer Sturm / pixelio.de

Ebenso wenig will ich in Abrede stellen, dass eine Psychoanalyse Menschen bei der Deutung erlebter Traumata helfen kann oder man durch eine Verhaltenstherapie funktionierende Psychotechniken lernt, die einem im Alltag helfen. Klar, wer sofort explodiert, weil er im Supermarkt in der Schlage stehen muss, oder wer fast einen Herzinfarkt erlebt, nur weil der Zug der Deutschen Bahn wieder einmal neunzig Minuten Verspätung hat, für den sind Entspannungstechniken eine gute Sache.

Wenn es diesen Erfahrungen im Alltag aber beispielsweise zugrunde liegt, dass personelle Kürzungen zur Unterbesetzung von Kassen oder zum Ausfall von Zügen führen, dann scheint mir Psychotherapie nicht nur ein ungeeignetes, sondern sogar ein gesellschaftlich gefährliches Mittel zu sein. Wir sollten nicht alles nur mit Gelassenheit hinnehmen, wenn es um einen sozialen Missstand geht.

Moralische Beunruhigung hat einen Sinn!

Moralische Beunruhigung und, wenn sie stärker wird, Empörung ist keine psychische Störung; sie ist im Gegenteil eine echte Chance für Engagement und allgemeine Verbesserung: Soziotherapie statt Psychotherapie, Gerechtigkeit statt Opium des Volkes. Das Gebiet der Medizin wird von der Weltgesundheitsorganisation so breit definiert, dass es nicht nur den Einzelnen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern sogar die gesellschaftlichen Zustände miteinbezieht.

Dennoch wird das Problem in der medizinischen Praxis in der Regel im Einzelnen lokalisiert und dann auch dort behandelt, nicht im Zwischenmenschlichen oder Gesellschaftlichen. Das ist inkonsequent. Wo die Umwelt Menschen krankmacht, dort ist es auch die ureigenste medizinethische Aufgabe, die Umwelt zu behandeln und nicht den Menschen.

Entscheidend aber wird sein, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht von diesen Missständen angewidert abwenden, in private Nischen, in scheinbar unpolitisches Amüsement und in Konsum „flüchten“. Rechtstaat und Demokratie müssen ständig neu errungen und verteidigt werden. Das geht uns alle an. (Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht in Telepolis-Interview am 4.11.2013)

Was der Bundesverwaltungsrichter Deiseroth mit dieser Aussage im Sinn hat, sind freilich nicht bloß die Wartezeiten im Supermarkt oder am Bahnsteig; ihm geht es um verfassungswidrige Überwachung, um völkerrechtswidrige Kriege, um das Brechen von Menschenrechten – leider oft genug durch unsere sogenannten Freunde. Es geht also um die Art von Problemen, die man als Einzelner kaum wird lösen können, sei es durch Beschwerden, Widersprüche oder gar Klagen.

Wer sagt denn aber, dass Institutionen uns nur moralisch betäuben können und dass wir sie nicht auch für moralische Ziele arbeiten lassen können? Nicht für nichts können wir uns organisieren, zu Interessenvertretungen, Vereinen, Nichtsregierungsorganisationen und so weiter zusammenschließen, um dann gemeinsam stärker zu sein. Vielleicht gelingt es uns dann auch, dieses von fantasielosen Bürokraten entwickelte und uns an den Hochschulen aufgezwungene, die Studierenden zu geistlosen Zombis korrumpierende Kreditpunktesystem wieder abzuschaffen.

Auf der Suche nach der perfekten Welle

Das moralische Engagement darf nicht zur Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse führen – einschließlich der Bedürfnisse nach Erholung und sozialer Akzeptanz. Insofern sollte sich niemand dazu verpflichtet fühlen, das Leben eines heiligen Samariters zu führen; umgekehrt macht man es sicher aber zu leicht, wenn man sich seines moralischen Empfindens mit dem Verweis auf die Mängel der anderen entledigt. Gerade junge Menschen sollten sich trauen, ihre eigenen Wege zu suchen; schließlich sind sie diejenigen, die noch am längsten in dieser Welt bleiben werden – und beispielsweise die Zeche an Umweltzerstörung und öffentlicher Verschuldung anderer bezahlen müssen (Sparmaßnahmen, Gemeinschaft und Frieden).

Was einem auf dieser Reise passieren kann, das hat der Autor und Poet Sergio Bambaren in seiner Geschichte vom Träumenden Delphin geschildert: dass andere einem weismachen wollen, es gehe nicht, seine Pläne seien zum Scheitern verurteilt, sie verstießen gegen Recht und Ordnung; und wenn einen das nicht abbringt, dass sie einem dann Angst machen, dass sie die Zweifel an sich und den eigenen Kräften nähren. Wenn man dann aber einmal die perfekte Welle erlebt hat, so Bambaren, dann weiß man, dass der Versuch, dass die Reise es unbedingt wert war.

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23 Kommentare

  1. Nach einer unruhigen, schlaflosen Nacht, in der ihr viele Dinge durch den Kopf gegangen waren, stellte sie die Frage: Hat man denn kein Recht auf Nichtwissen?

    Was, wie man feststellen muss, keine psychologische oder neuropsychologische Frage mehr ist, sondern eine (moral-)philosophische.

    Im Gegenteil werden sie es auskosten, einem die kleinste Inkonsequenz seines Wertesystems vor Augen zu führen, anstatt die große Doppelmoral ihres eigenen auf den Prüfstand zu stellen.

    Die Mehrheit tut eben das, “was man so tut” und folgt dabei der Vorgehensweise der Masse von anderen Leuten. Das ist vielleicht nicht dumm, denn was in Massen gut funktioniert, wird einem selbst zumindest nicht schaden.
    Wer dagegen einen neuen Weg einschlägt, kann dabei den wenig beneidenswerten Ruhm erwerben, ganz neue Fallstricke und Risiken zu entdecken. Dieses Risiko wäre, permanent, unüberschaubar.

    Hinzu kommt, dass der, der einfach der Masse und Erziehung folgt, möglicherweise vergisst, dass er damit ursprünglich auch nur eine Entscheidung getroffen hat. So sieht es so aus, dass der “Neuerer” eine Entscheidung getroffen hat und die bitteschön begründen soll.

    Abschließend wäre noch zu fragen, welche Rolle hier die Psychologie spielt. Nahrungsaufnahme ist ja etwas sehr elementares, aber erlerntes…

  2. Die Mehrheit tut eben das, “was man so tut” und folgt dabei der Vorgehensweise der Masse von anderen Leuten. Das ist vielleicht nicht dumm, denn was in Massen gut funktioniert, wird einem selbst zumindest nicht schaden.

    Das ist aber ein Irrtum! Wenn sich die Mehrheit der Lemminge auf den Abgrund zubewegt, dann wird eben auch die Mehrheit der Lemminge in den Abgrund stürzen. Ebenso werden alle darunter leiden, wenn es zur Klimakatastrophe kommt oder zur nächsten Krise an den Finanzmärkten. Dass in beiden Fällen die Gewinne der Wenigen privatisiert, die Verluste aber den Vielen aufgebürdet werden, ist doch kein Geheimnis mehr; aus dem egoistischen Standpunkt der Gewinner ist das logisch, ist das eine Externalisierung von Kosten: Warum sollte ich meine Rechnung auch selbst bezahlen, wenn sie doch andere für mich begleichen? Die “Masse” lässt es mit sich machen, in der Hoffnung, dass es schon irgendwie gutgehen wird; das ist aber eben sehr kurzsichtig.

    Es sei hier noch einmal (Occupy SciLogs: Wir Menschen, so klein) an ein schönes Zitat Hubert Selbys erinnert:

    …ich glaube, dass es nicht nur aussichtslos ist, den American Dream zu verfolgen, sondern selbstzerstörerisch, denn schließlich zerstört es alles und alle, die darin involviert sind. Dies muss es per Definition, denn es nährt alles außer jenen Dingen, die wichtig sind: Integrität, Ethik, Wahrheit, unser wahres Herz und Seele. Warum? Der Grund dafür ist simpel: Leben heißt geben und nicht kriegen. (Hubert Selby, Jr., 1999, im Vorwort zu seinem Buch “Requiem for a Dream”, meine Übersetzung)

  3. Wenn ich selbst glücklich bin, dann sind andere darüber glücklich, dass ich glücklich bin. Indem man sich selbst hilft, hilft man damit auch vielen anderen. Somit sollte sich ein Mensch immer erst um sich selbst kümmern.
    Von religiöser Seite hat Gott uns selbst als Mitschöpfer erschaffen, damit steht es dann jedem frei, ob er positives oder negatives erleben möchte.
    Wichtig ist auch, dass man alle Nachrichten aus Medien neutral sehen kann, man muss nicht alles zwangsweise negativ sehen sondern kann sich auch in die Beobachterposition stellen und sich die Neuigkeiten erstmal ohne zu bewerten betrachten. Eventuell findet man dann nach einigen Augenblicken etwas positives, wenn nicht hat man immernoch die Möglichkeit es neutral zu bewerten wenn man möchte.

  4. Neulich kommentierte ich einen Beitrag im Freitag.de, bei dem die Frage gestellt wurde, ob pol. Kabarett eigentlich den politischen Alltag verändere. Ich und andere meinten adhock nein. Sie haben oben aber in etwa beschrieben, das und wie es dann doch noch Wirkung zeigen könnte.

    Mein Zweifel an der Show, die zum Aufmerken inspirieren soll, aber landläufig nur zum Lachen anregt, liegt darin, dass das Lachen darüber (den geäußerten Problemfall in seiner Absurdität) zuweilen oder mehrheitlich eher eine sublimierende Funktion erfüllt und somit vergeudetes Empörungspotential darstellt. Es wird gelacht, weil der Problemfall im Bewusstsein zu Dissonanzen führt, die für das Subjekt unauflösbar sind – die dabei auftretende Spannung sich konform mit der Veranstaltung durch Lachen entlädt und somit die Spannung und dadurch angestaute Energie weniger nützlich und wirkungsvoll entlädt, als es anders der Fall sein könnte.
    Das Lachen sei also ein Zeichen der persönlichen Schwäche beim Thema. Und steht damit auf gleicher Ebene mit der allseits befürchteten Begebenheit, dass einer allein eh nichts bewirken kann – was oft, aber nicht immer zutrifft.

    Letztlich aber ist das darüber lachen eben eine wichtige Abhilfe dieser inneren Spannung. Positiv für das Subjekt und im mindesten positiv zur Aufrechterhaltung des Themas in der Masse (bezüglich Kabarett). Es ist also legitim schwach zu sein. Stärke zeigen ist keine Bürgerpflicht.

  5. Nach einer unruhigen, schlaflosen Nacht, in der ihr viele Dinge durch den Kopf gegangen waren, stellte sie die Frage: Hat man denn kein Recht auf Nichtwissen?

    Dieses “Recht” musste leider im Rahmen der Aufklärung aufgegeben werden.

    Ansonsten: Es gibt ja, gerade in D, auch heute noch viele Filter, die bspw. Journalisten nahelegen bestimmte Sachverhalte nicht zu berichten. Oder: Jeder (erfolgreiche) Politiker ist ein Nachrichtenfilter.

    Zu Zeiten des Internets sei geraten selektiv zu konsumieren, die Nachrichtenlage betreffend, das geht; das Internet lädt auch dazu ein.
    Entscheiden soll aber der Einzelne.

    BTW, Marx hatte natürlich mit seiner bekannten Einschätzung implizit seine Ideenlehre als “Opium” unter’s Volk bringen wollen – und da störte denn das andere.

    MFG
    Dr. W

  6. Christ hin oder her, in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat nicht ohne Grund die Menschenwürde eine große Rolle gespielt – und wie manche zu vergessen scheinen, ist damit nicht nur die Menschenwürde der Deutschen gemeint, sondern die aller Menschen.

    Hier ist vielleicht noch ein kleiner Mops.

    Die Menschenwürde gibt es nicht, ist den Bundesdeutschen (und nur ihnen) anzunehmenderweise auferlegt worden, um nicht wieder in das Abschlachten anderer zu verfallen.
    International ist das kein Begriff, er kann auch d-sprachig kaum erklärt werden, außer eben die NS-Vergangenheit zitierend.

    Rein praktisch wird er denn auch schnell zu Täterschutz, der Schreiber dieser Zeilen hat die “menschenunwürdige” Behandlung sogenannter Strafgefangener aus dem Umfeld der RAF noch gut in Erinnerung aus seinem ersten Besuch.

    HTH
    Dr. W

  7. Der Samariter ist m.W. nicht “heilig” und auch kein Weltverbesserer, sondern geht seinen Weg, und hilft da, wo er direkt mit der Not des “Nächsten” konfrontiert wird. Nun ist im Medienzeitalter die “Nähe” sicher nicht (mehr) mit räumlicher Nähe gleichzusetzen. Wenn wir die Geschichte zur Richtschnur nehmen wollen, dann würde sie aber doch besagen, daß uns nicht alles Schlechte in der Welt “nahegehen” muß, daß wir es auch nicht aufsuchen müssen, sondern es auf uns zukommen lassen dürfen, was uns “nahegeht” (aber auch nicht “vordefinieren”).

  8. Wer sich von negativen Nachrichten deprimieren lässt, sollte solche Nachrichten meiden. Für unseren Alltag und unsere Zukunft ist es wahrscheinlich wichtiger, dass man erkennt wo man etwas ändern sollte. Man kann sich nämlich an alles gewöhnen, auch an eigentlich unhaltbare Zustände.
    Es gibt sogar nationale Gewohnheiten und Üblichkeiten mit denen die Bürger einfach leben nur weil es schon immer so war. Sicher sogar in Deutschland oder den Niederlanden. Also nicht nur in Griechenland, wo fast jeder bei vielen Gelegenheiten sein Fakelaki entrichtet. Oder in Italien, wo viele Bürger seit vielen Jahren über die Bürokratie und die ungenügenden Leistungen des Staates klagen aber andererseits niemand erwartet, dass sich je etwas daran ändert.
    Sich mit einem schlechten Zustand abfinden, das ist wirklich schlecht. Nicht nur für einen selbst, sondern auch für die andern und die nachfolgenden.

  9. Wer sich von negativen Nachrichten deprimieren lässt, sollte solche Nachrichten meiden.

    Oder sich historisch einordnen und auf einer größeren Zeitskala zu erkennen suchen.

    Die Ahistorisierung ist eine häufig vorkommende Merkmalsausprägung des “modernen Menschen”, die Unvollkommenheit und das Jetzt suchend oder die Vollkommenheit im Jetzt suchend.

    Herauskommen dann Mickey-Mouse-artige Statements zur moralischen Verfassung, bevorzugt sogenannter westlicher Staaten.
    Kurzum: Nur Murks.

    MFG
    Dr. W (der jetzt auch nicht erkennen konnte, dass sich der werte hiesige Inhaltegeber erheben konnte aus der Wurstigkeit oder der vermuteten Wurstigkeit seines Seins)

  10. @Tom, da ist schon etwas dran und deshalb meinte ich ja auch zu der Psychoanalytikerin, dass sie dann, wenn sie sich schon so sehr von den Weltproblemen vereinnahmen lässt, nicht einmal mehr um die konkreten Probleme ihrer Patienten kümmern kann.

    Man kann es sich mit dem Um-sich-selbst-Kümmern aber manchmal auch zu bequem machen. Mir geht es eben darum, eine sowohl gesunde als auch gerechtfertigte Balance zwischen der Sorge um sich selbst und die anderen zu finden.

  11. @chris, ein Beispiel könnte Cindy aus Mahrzahn sein, über die die Bürgerlichen gerne lachen, weil sie ihre Vorurteile über die armen Assis bestätigen – so lange lachen, bis ihnen plötzlich die traurige Lebenswirklichkeit hinter den Witzen bewusst wird.

  12. @Webbär, Menschenwürde ist Opfer- und Täterschutz, weil eben Menschenschutz; und wer sagt denn, dass wir Menschenwürde nicht mit Inhalt füllen können? Verfassungs- und Bundesrichter tun es regelmäßig; ebenso wie Moralphilosophen, man denke nur an das Instrumentalisierungsverbot.

    Wenn Sie ferner von meiner Wurstigkeit überzeugt sind, nach allem, was sie schon von mir gelesen haben, dann kann ich ihnen auch nicht helfen; es gibt noch ein paar Verfahren, über die ich zurzeit aber nicht schreiben kann, weil sie noch laufen. Seien Sie nicht so ungeduldig.

  13. Mir geht es eben darum, eine sowohl gesunde als auch gerechtfertigte Balance zwischen der Sorge um sich selbst und die anderen zu finden.

    Hier stehen liberale und kollektivistische Sichten bereit.

    MFG
    Dr. W

  14. Zufällig heute gefunden:

    Es wird Männer und Frauen mit reinen Herzen geben, die sich bei manchem Kapitel fragen werden, ob sie weiterlesen sollen; viele werden schwer schockiert sein. Ich glaubte, darauf bei der Darstellung der Niedrigkeit, bis zu der Menschen und Deutsche hinabgesunken sind, keine Rücksicht nehmen zu dürfen angesichts der unheimlichen Verstrickung in eine kollektive, weit über Deutschland hinausreichende Schuld, die selbst völlig Unwissende in ihren Bereich reißt. Nichts als die Wahrheit kann uns freimachen (Kogon, E. [1974]. Der SS-Staat: Das System der deutschen Konzentrationslager. Kindler, S. VI; Hervorhebung im Original.)*

    *Jemand, der sechs Jahre KZ Buchenwald überlebt hat.

  15. Wenn Sie ferner von meiner Wurstigkeit überzeugt sind, nach allem, was sie schon von mir gelesen haben, dann kann ich ihnen auch nicht helfen; es gibt noch ein paar Verfahren, über die ich zurzeit aber nicht schreiben kann, weil sie noch laufen. Seien Sie nicht so ungeduldig.

    Schwierig.

    Was natürlich richtig ist und noch einmal erwähnt werden darf, ist dass Sie sozusagen in Ihrer Gesamtheit ausgesprochen solid vortragen.
    Wenn also ‘Wurstigkeit’ festgestellt wird, ist das eher ein Gag, wenn auch mit ernstem Hintergrund.

    Sie sind nicht zufällig Jude, also, den Schreiber dieser Zeilen hat man schon mehrfach dbzgl. angesprochen, aber da war nichts, bei Ihnen auch nicht, gell?
    Das nur vor aktuellem Hintergrund angefragt,
    MFG
    Dr. W (der sich nun auszuklinken hat, “wg. Fressie und Schlafie”)

  16. Danke für den interessanten Artikel, der mir zeigt, dass ich nicht einsam bin im Andersein Anderssehen und im Angefochtenwerden.
    😉
    Wie leicht lässt es sich in Resignation einrichten, wenn man müde geworden ist und immer noch nicht mit den Wölfen heulen möchte.

  17. Sie … Dr. W sind hingegen mal wieder angemessen “aufgeräumt” zugegen – nicht wahr?
    Der der Wurstigkeit bezichtigte hat sie jedenfalls zu diesem “hochkonkreten” Kommentar inspiriert. Das ist doch was – und somit gut.

    Anyway … Murks gibt es natürlich überall. Wenn nicht, dann wechseln sie die Perspektive – wenns zu langweilig wird. Murks ist das Lehrgeld, das gezahlt wird und den Vorteil bietet, wenigstens beschäftigt gewesen zu sein. Und Murks in großem Stil beschäftigt auch viel(e). Arbeit macht nämlich frei (bitte nicht kommentieren – das ist die letzten 70 Jahre genug geschehen – höchstens interpretieren).

  18. Das wäre dann ja gelunge Öffentlichkeitsarbeit. Aber was macht man dann mit der erlangten Erkenntnis? Im Normalfall geht dabei eine Desensibilisierung vor sich und es kommt keine Aufmerksamkeit mehr – sondern nur noch Ignoranz – Unsichtbarkeit. Oder so ähnlich.
    Cindy aus Marzahn ist aber eher ein Spiegel seiner selbst – die sich angesprochen fühlen. Das mag bei politischen Kabarett im einzelnen auch so sein – Ziel dessen aber doch eher die Sache in der Öffentlichkeit sei und alle anginge.
    O.k., … auch Politgrößen dürfen sich im Kabatrettisten-alter Ego spiegeln.

    Ansonsten sind (schlechte) Nachrichten leider süchtigmachend und zuweilen überfordernd – etwa im Sinne der Aussage oben: gibt es kein Recht auf Nichtwissen? Informationsfluten sind nur Phasenweise produktiv.

  19. Die Wahrheit nützt leider wenig. Die wenigsten erkennen sie sicher, wenn sie sich ihm zeigt.

    Wie also sollte sie uns freimachen? Die Wahrheit in dem, was wir meinen bei der Freiheit, ist auch arg zweifelhaft. Sie ist zweifelhafte (Un)Gewissheit.

    Ansonsten hat das Zitat wohl recht.

  20. Und hier noch ein schönes Zitat des Gegenmodells:

    Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie. (Otto von Bismarck, 1815-1898, erster Reichskanzler des Deutschen Reiches)

  21. Der Mensch ist Teil eines komplexen Geflechts, welches sich durch sein Verhalten immer enger zusammenzieht, obwohl es einmal locker gespannt wurde, durch die Evolution – an deren Ende entsteht neues Leben oder der Tod, je nach Dichte des Geflechts. 😉

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