3. Preis verliehen

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
MENSCHEN-BILDER

Gefährliche MischungDie Sieger des „Gedankenlesen“-Wettbewerbs stehen fest. Der dritte Preis, ein Exemplar von „Gedankenlesen sowie die aktuelle Gehirn&Geist, gehen an die Psychologiestudentin Judith Wagner. Lesen Sie in ihrer Kurzgeschichte mit dem Titel „Willst du mit mir gehen? O Ja, O Nein, O Nochmal scannen“ über ihre Idee, wie die Technologie des Gedankenlesens die Welt verändern könnte:

Willst du mit mir gehen? O Ja, O Nein, O Nochmal scannen

Der erste Schultag stand vor der Tür. Robert konnte es kaum erwarten. Er würde diesen Sommer 2173 von der Basisschule in die Schule für potenzielle Intelligenz (SPI) überwechseln. Er war so erleichtert, dass das aufwändige Testen und die vielen vorgeschriebenen Gehirnscans, denen er sich unterziehen musste, nun endlich, endlich vorbei waren. Man hatte seinen Eltern schließlich mitgeteilt, dass seine Gehirnaktivität völlig im Einklang mit seinen guten schulischen Leistungen stünde, er über einen leistungsstarken Hippocampus verfüge, der seine außerordentliche Lernfähigkeit zeige, und die Analyse seines präfrontalen Cortex darauf schließen lassen würde, dass Robert in der Lage wäre sozial und logisch zu schlussfolgern. Beunruhigende Auffälligkeiten gäbe es keine. „Kurzum“, sagte der zuständige Analyst, „deinem Übergang zur SPI steht nichts im Wege. Aber das hatten wir ja schon nach deiner DNA-Analyse erwartet. Ausgezeichnete Bedingungen, wirklich! Mit dem richtigen Umfeld, und das wäre in dem Fall die SPI für dich, kannst du noch viel erreichen. Anhand deines Profils eignest du dich zum Beispiel als Pilot. Denk mal darüber nach.“. Als Robert das hörte, musste er fast lachen. Bis vor ein paar Stunden wusste er ja noch nicht mal, welche weiterführende Schule er besuchen dürfte, und jetzt sprach der Mann im weißen Kittel schon von seinem Berufsleben.

Ja, natürlich wusste er, dass seine Noten ausgezeichnet waren, aber das war eben nicht mehr alles heutzutage. Nina, eine Schulkameradin, war schließlich auch fast immer Einserkandidatin gewesen und was hatte man ihr gesagt?! Es ging das Gerücht um, dass Nina seit ihrer Analyse (und die war schon über eine Woche her) das Haus nicht mehr verlassen hatte. Es wurde gemunkelt, man hätte bei einem ihrer Gehirnscans beim Lösen von sozialen Aufgabenstellungen eine Auffälligkeit in ihrem orbitofrontalen Cortex gefunden. Robert hatte keine Ahnung, was dieses Fachgesimpel bedeutete. Allerdings klärte der Analyst die Familie von Nina auf, dass sie zu Aggressionen und ungepasstem sozialen Verhalten neigen würde. Robert mochte Nina. Sie war zwar manchmal überdeutlich und platzte mit ihrer Meinung nur so heraus, aber sie war doch nicht aggressiv! Er konnte sich das Ergebnis ihrer Analyse nicht erklären. Er wusste auch, dass sie jetzt nicht ohne weiteres in die SPI ihrer Wahl aufgenommen werden konnte. Der Analyst wollte Nina in das Beobachtungscenter schicken für die nächsten zwei Monate, um zahlreiche Tests und Scans durchzuführen. Robert hatte aber von seinen Eltern gehört, dass Ninas Eltern klagen wollten. Gleichzeitig hatte sein Vater mit den Achseln gezuckt und gesagt „Wollen die denn freiwillig ihr Geld loswerden? Gegen die Gutachten ist doch noch keiner angekommen! Also Robert, streng dich bloß an. Wir wissen ja, was du drauf hast.“. Robert war damals stocksteif vor Angst geworden und am Tag der Analyse war ihm noch schlechter zumute. Aber jetzt lag alles hinter ihm und heute war es soweit. Sein erster Schultag in der fünften Klasse.

Seine Mutter fuhr ihn zur Schule und versprach ihm abends sein Lieblingsessen zu kochen. „Wenn es nicht zu stressig wird nachher.“, fügte sie hinzu. Roberts Mutter arbeitete bei der Sparkasse als technische Abteilungsleiterin und heute sollte die neue NeuroBanking Software und Hardware geliefert werden. „Anstatt wertvolle Minuten beim Abheben von Geld zu verschwenden, wird einem nun ermöglicht, mittels Gedankenlesen durch den Hirnscan in wenigen Sekunden den gewünschten Betrag in der Hand zu halten. Kein lästiges und oft verkehrtes Einführen der Karte mehr, keine PIN-Abfolge vergessen und kein dämlicher Touchscreen, der nicht die gewünschten Geldbeträge drücken lässt. In vier Wochen stellt man sich nur noch vor dem Automaten, der in Sekundenschnelle dein typisches und einzigartiges Hirnprofil erfasst und erkennt, wie viel Geld du abheben möchtest. Ist doch klasse, oder?“, hatte Roberts Mutter an einem Tag euphorisch mitgeteilt. „Wenn ich dabei war, hat Geld abheben aber nie so lang gedauert. Und falsch hast du die Karte doch auch nie reingetan, oder?“, entgegnete Robert. „Das verstehst du nicht. Heutzutage zählt jede Sekunde, die wir sparen können. Außerdem ist diese neue Technik viel sicherer als die alte.“, antwortete seine Mutter genervt. Robert sagte damals nichts mehr.

„Nun geh schon!“, ermutigte ihn seine Mutter. „Worauf wartest du denn noch? Geh’ einfach den anderen Kids nach. Die wissen schon, wohin sie müssen. Viel Spaß!“. Robert sah ihrem Auto nach, bis er nur noch einen kleinen roten Punkt sehen konnte. Dann mal los, dachte er und folgte einem Jungen mit einem auffallenden roten Pullover. Vor dem Schuleingang war ein riesiger Scanner angebracht. Robert war so verblüfft, dass er den Jungen mit dem roten Pullover fragte „Wollen die sicher sein, dass wir keine Taschenmesser bei uns haben?“ Der Junge lachte und antwortete, „Dein erster Tag hier? Das ist kein Metalldetector. Das ist so ein Gedankenleser. Ist aber uralt. Ich glaube, der soll eigentlich auf Nummer sicher gehen, dass hier keiner mit feindlichen Gedanken reinkommt oder so. Ist aber Schwachsinn, wenn du mich fragst. Da haben die Geräte bei den Klassenarbeiten viel mehr Effekt. Wir bekommen Elektroden an den Kopf und am Computer kann der Lehrer dann verfolgen, ob wir gerade schummeln. Ich wünschte, die wären veraltet!“. Mit diesen Worten verschwand er im Gebäude und Robert folgte zögernd. Nichts passierte als er unter dem Scanner durchging. Robert seufzte erleichtert auf und fand sein Klassenzimmer nach einigem Herumirren. Ein Mädchen mit Zöpfen wollte gleichzeitig mit ihm durch den Türrahmen und beide blieben stecken. Sie kicherte „’Tschuldige. Ich war mal wieder viel zu schnell. Ich bin Karen und wie heißt du?“. Robert wurde rot und murmelte seinen Namen. „Karen! Hier! Ich habe dir einen Platz freigehalten“, rief ein Junge aus der Stuhlreihe ganz hinten und schickte böse Blicke zu Robert. Karen lief zu ihm und setzte sich. Robert entschied sich, eine Reihe vor den beiden einen Platz zu suchen. Der Lehrer hatte sich anscheinend verspätet und schon bald wurde es unruhig in den Reihen. Es wurde rumgealbert und mit den Handys gespielt. Felix, der Junge neben Karen fing an mit seinem „ultraneuen Handy“ anzugeben und die ganzen Funktionen aufzuzählen. Irgendwann wurde es Robert zu viel und er verdrehte die Augen zu seinem Sitznachbar. Felix war das allerdings nicht entgangen. „Hast du ein Problem mit meinem Handy? Oder mit mir?“, fauchte er. „Oder bist du etwa neidisch, dass ich neben Karen sitze? Du hast sie ja total angeschmachtet an der Tür. Knallrot bist du geworden.“ „Das stimmt doch gar nicht! Das ist totaler Quatsch. Ich finde nur, die ganzen Funktionen sind total überflüssig.“, gab Robert gereizt zurück, aber nicht ohne einen Seitenblick auf Karen zu werfen und wieder rot anzulaufen. Felix lachte gehässig. „Ach ja? Na dann, pass mal auf!“ Er drückte ein paar Knöpfe auf seinem Handy und hielt es auf der Höhe von Roberts Kopf. „Würdest du mit Karen gehen?“ fragte er. „Was? Was ist das denn für ’ne Frage! Warum hältst du das Ding an meinem Kopf?! Lass das!“ rief Robert, aber er wurde unterbrochen durch ein nervtötendes Dudeln des Handys und ein darauf folgendes deutlich vernehmbares „JA“. „Dieses Handy kann auch Gehirnscanprogramme ausführen. Dieses Programm heißt “Willst du mit mir gehen?“ Nicht ganz so überflüssig, oder?“ Felix hielt das Handy nun an Karens Kopf. „Willst du mit dem da gehen?“, fragte er sie. „Lass den Scheiß, Felix!“, entgegnete Karen und zog ihrem Kopf außer Reichweite. Wieder ertönte das Klingeln des Handys und dann ein „Bitte noch mal scannen“. Felix zuckte mit den Achseln, „Dann halt nicht. Ich kenn die Antwort eh. Nie würde sie dich mögen! Aber dass du total in sie verschossen bist ist ja klar… Robert liebt Karen. Robert liebt Karen!“. Robert war außer sich und wusste nicht, wohin er gucken sollte. Karen sagte gar nichts. Die ganze Klasse lachte. Irgendwann, es schien wie eine Ewigkeit, kam der Lehrer und der Unterricht begann. Der ganze Tag wollte nicht vorübergehen und endlich, endlich war Schulschluss. Robert hatte sich so auf den ersten Tag gefreut und jetzt sehnte er sich danach, den Blicken der anderen Schüler zu entgehen.

Zu Hause gab es sein Lieblingsessen: Spaghetti Carbonara. Seine Mutter und sein Vater schauten feierlich drein, als sie ihm ein in Geschenkpapier gewickeltes Paket überreichten. „Mach es schon auf!“, drängte seine Mutter. „Wir sind so stolz auf dich.“ Robert öffnete es, warf einen Blick darauf, warf das Geschenk gegen die Wand und lief aus dem Zimmer. Nach ein paar Minuten konnte er seine Eltern flüstern hören „Aber es ist wirklich das neueste auf dem Markt! Mit allen Funktionen. Ich versteh das nicht. Es war auch wirklich nicht billig. Warum reagiert er denn so? Ich dachte, dass sie keine aggressiven Auffälligkeiten festgestellt haben bei dem Gehirnscan.“

Auf dem Boden neben der Wand lag zerschmettert das gleiche Handy, mit dem Felix so angegeben hatte.


Judith WagnerJudith Wagner studiert biologische Psychologie an der Vrije Universiteit in Amsterdam und beginnt im September den Masterstudiengang Neuroscience. Sie ist 22 Jahre alt und interessiert sich vor allem für die Zwillingsforschung und damit die genetischen Aspekte der Neurowissenschaften.

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1 Kommentar

  1. Prima

    Die Geschichte war ja richtig gut. Das Handy gab eine überraschende Wendung. Ist aber auch realistisch, so menschlich, weil wir oft damit beschäftigt sind andere zu ärgern und das fängt schon früh an.

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