Seegurken sind kein Gemüse
Seegurken sind kein Gemüse und leider viel mehr wert als dieses. Sie landen auf Tellern und in Tiegeln weltweit. Aber wollen wir wirklich Tiere essen, die über Analzähne verfügen, durch den Anus atmen und Feinden ihren Darm entgegenschleudern?
Vor ein paar Wochen erregte mal wieder der Fund einer großen Menge Schmugglerguts international Aufsehen – zumindest bei Meeresfreunden. Auch der Guardian berichtete darüber. Nicht Drogen oder Diamanten sollten da die nicht ganz rechtmäßigen Besitzer reich machen, sondern getrocknete Seegurken! Dieser Fund war Schätzungen zufolge „nur“ gute 22.000 Euro wert, also eine Bagatelle im Gegensatz zu einem im letzten August. Die damals gefundenen rund 1.000 kg Seegurken war Schätzungen der indischen Küstenwache zufolge über eine halbe Millionen Euro wert. Was ist es, das da so teuer bezahlt wird?
Warzige Walzen am Meeresgrund
Seegurken sind, anders als ihr Name andeutet, kein Gemüse, sondern walzenförmige, warzige Tiere, die am Meeresboden herumliegen. Auf den ersten Blick eher abstoßend und uninteressant. Aber auf den zweiten Blick entdeckt man erstaunliche Fähigkeiten und Eigenschaften. Wenn auch nicht die, die ihnen in einigen Regionen der Welt – wohl in erster Linie aufgrund ihrer Form und Festigkeit – nachgesagt werden: nämlich die Potenz männlicher Homo sapiens zu steigern.
Ihre Fähigkeiten sind subtiler und sie spielen eine enorm wichtige Rolle im Ökosystem der Meere. Einige Arten wühlen sich wie Regenwürmer durch den Meeresboden. Nicht, um ihn für die Wurzeln von Seegras und Mangroven aufzulockern oder Futter für Fische, Krebse und Würmer aufzuwirbeln (was sie alles nebenher machen), sondern um zu fressen. Denn sie ernähren sich von organischen Resten, letztendlich von Fäkalien und totem Gewebe, das auf den Boden sinkt. Der Kot, den sie von sich geben, ist basischer als die Nahrung, die sie aufnehmen. Damit wirkt er lokal der Ozeanversauerung entgegen. Sie sind die klimawandelfolgenmindernde Müllabfuhr der Meere.
Auf Tellern und in Tiegeln
Weltweit werden über 70 der etwa 1.200 Seegurkenarten befischt, was die Bestände dramatisch reduziert hat. Bis hin zur regionalen Ausrottung. Davon können die Seegurkenfischer von Sri Lanka ebenso ein Lied singen wie die in Südindien oder Galapagos. Denn nur der kleinere Teil der Seegurken wird legal gefischt – das Hauptproblem ist die illegale Fischerei, teils durch die eigenen Nachbarn, teils durch ausländische Fangflotten.
Aber was machen die Käufer mit den Seegurken, die sie gekocht und getrocknet oder nur getrocknet erhalten? Die meisten landen im Kochtopf verschiedenster Länder: in Portugal und einigen seiner ehemaligen Kolonien gibt es Bicho de Mar, auf den Philippinen Balatan, in Indonesien Trepang, in Japan Namako oder in französischsprachigen Regionen Bêche-de-Mer. Um nur einige der Seegurkenspeisen zu nennen.
Ausrottung rund um den Globus
In vielen armen Küstenregionen, vor allem auf südpazifischen Atollen, sind Seegurken eine wichtige Proteinquelle und nicht eine teure Delikatessen. Denn sie können auch dann vom Riffdach gesammelt werden, wenn starker Wind das Fischen auf dem offenen Meer und vielleicht sogar in der Lagune verhindert. In diesen Nationen sammeln die Menschen Seegurken nur lokal und reduzieren damit die lokalen Bestände teils beträchtlich, aber sie bleiben in ihren eigenen Gewässern. Im Gegensatz dazu importieren Ländern wie China und Japan die Seegurken im großen Stil aus der ganzen Welt.
Im zu Ecuador gehörenden Galapagos-Archipel war die Seegurken-Fischerei bis vor einigen Jahren für drei Monate im Jahr erlaubt. Durch die illegale Fischerei in den restlichen Monaten sind die Bestände jedoch dramatisch zurückgegangen. Wo ich 2003 beim Tauchen noch Seegurken hinter jedem Stein und auf jeder Sandfläche gesehen hatte, herrschte 2016 Leere. Was Preise von 15-30 € pro Kilogramm für gewöhnliche und über 300 € pro Kilogramm für seltene Seegurken doch alles bewirken können! Heute ist die Seegurkenfischerei in Galapagos verboten. Mal davon abgesehen, dass es kaum mehr was zu Sammeln gibt.
Aufzuchtstation für Seegurken
Vor 20 Jahren war auf der Galapagos-Insel Isabela die Seegurkenfischerei noch ein wichtiger Wirtschaftszweig. Dort, wo bis zur Covid-Pandemie Touristenläden und Futterbuden standen, brodelten damals Seegurken in großen Kochtöpfen. Oder sie trockneten auf Gestellen oder Planen am Boden, bevor sie nach Asien verkauft wurden.
Da es quasi keine Seegurken mehr im Archipel gibt, hat die Leitung des Nationalparks Galapagos sogar schon über Aufzuchtprogramme für Seegurken nachgedacht. So erzählte mir der damalige Direktor der Ökosysteme des Nationalparks und heutige Leiter der Nationalparksverwaltung, Danny Rueda, bei einem Gespräch 2016. Bisher ist allerdings nichts daraus geworden.
Aber warum wird überhaupt an so ein Programm gedacht? Warum Geld, Zeit und viel Hirschmalz (bisher hat man keine Ahnung, wie man Seegurken am besten vermehren und aussetzen kann) in die Aufzucht von Seegurken stecken?
Jede Seegurke ein Ökosystem
Die Antwort ist vielschichtig: Die Bestände sind vielerorts so weit zurück gegangen, dass sie sich alleine nicht mehr erholen können. Denn Seegurken entlassen ihre Eier und Spermien ins Wasser, und vertrauen darauf, dass die Keimzellen sich schon finden werden. Wenn aber nur alle paar Hundert Meter oder noch weiter eine andere Seegurke der gleichen Art liegt, spricht quasi alles gegen eine solche Zufallsbegegnung von zwei Keimzellen.
Die Tiere sind aber so wichtig für funktionierende Ökosysteme, dass man nicht auf sie verzichten kann. Dabei geht es nicht nur um die Funktion der Seegurken selbst als Bodenwühler und Müllschlucker. Es geht auch um die über 200 Parasiten- und Symbiontenarten, denen eine einzige Seegurke Lebensraum oder Nahrung bietet. Jede Seegurke für sich ist ein artenreiches Ökosystem!
Fische im Darm
Zu den Parasiten gehören unter anderem Eingeweidefische, für die der Seegurkendarm ein so romantischer Ort ist, dass sie sich in ihm paaren. Na gut, es geht wohl weniger um Romantik als vielmehr um den Schutz, den der Darm gewährt. Oder auch das Gewebe, denn einige Eingeweidefischarten fressen sich aus dem Darm einen Weg ins Gewebe ihres Wirttiers. Die Eingeweidefischlarven werden mit dem Atemwasser der Seegurke durch deren Kloake ausgespritzt und ins Meer entlassen – denn Seegurken atmen durch ihren Anus.
Das Körperinnere einer Seegurke besteht überwiegend aus Darm und Atemorgan. Über die mit Tentakeln besetzte Mundöffnung nimmt der Darm Nahrung auf, die – so wie bei uns allen – verdaut als Kot durch den Anus wieder ausgeschieden wird. Soweit ganz normal. Im hinteren Bereich des Darms geht eine stark verzweigte Aussacken ab: die Wasserlunge. Sie füllt sich rhythmisch durch den Anus mit Atemwasser. Über die Membran der Wasserlunge nehmen die Tiere Sauerstoff aus dem Wasser auf, der über Blutgefäße im ganzen Körper verteilt wird.
Anale Ernährung nicht nur bei Seegurken
Das Atemwasser unterscheidet sich natürlich nicht vom restlichen Meerwasser und enthält Partikel und Plankton – die von der Membran der Wasserlunge aufgenommen werden, so wie vom Darm. Denn warum sollte man gute Nahrung verschwenden? Damit wird der Anus zum zweiten Mund der Seegurken!
Wem das absurd vorkommt, der sollte sich einmal unsere eigene Medizingeschichte anschauen: Bevor wir kranke Menschen, die unfähig zur Nahrungsaufnahme waren, intravenöse ernähren konnten, wurden diese in manchen Gegenden mit einem Einlauf aus Zuckerlösung in den Darm ernährt. Der einzige Unterschied zu den Seegurken ist, dass wir die Hilfe eines Klistiers für diese Art der Ernährung brauchen.
Darmschutz durch Analzähne
Im Gegensatz zu uns ist es für Seegurken also normal, dass sie etwas durch ihren Anus aufnehmen. Daher können sich Eingeweidefische und andere Parasiten auch leicht den Weg zu ihrem speziellen Lebensraum bahnen. Einige Seegurkenarten verteidigen sich gegen diese Eindringlinge mit kleinen, harten, zahnartigen Vorsprüngen rund um den Anus herum. Sie fressen und atmen also nicht nur durch den Anus, sondern haben sogar „Analzähne“!
Diese Analzähne sind ein passiver Schutz – aber haben die Tiere auch eine Möglichkeit sich aktiv gegen Angreifer zu schützen? Tatsächlich haben einige Arten aktive Abwehrmechanismen: sie schleudern einem Angreifer klebrige Fäden entgegen – und durch welche Öffnung wohl? Ja, genau, durch den Anus! Das sind die sogenannte Cuvierschen Schläuche, die sich an der Basis der Wasserlunge befinden.
Klebrige Schläuche zur Verteidigung
Wenn die Seegurke gestresst ist, beispielsweise durch einen aufdringlichen Krebs oder einen hungrigen Fisch, strecken sie demjenigen ihren Anus entgegen und ziehen die Muskeln der Körperwand schnell zusammen. Dadurch werden einige der vielen hundert Schläuche durch den offenen Anus ausgeschleudert und mit Atemwasser gefüllt. Dieses dehnt das elastische Material so stark, dass die Schläuche bis zu 20 mal so lang werden wie vorher. Außerdem werden diese Schläuche klebrig, sobald sie mit etwas anderem als Wasser in Kontakt kommen. Die Masse aus klebrigen Schläuchen, die in weniger als zehn Sekunden entsteht, immobilisiert kleinere Angreifer und schreckt größere ab. Die Cuvierschen Schläuche reißen bei der Aktion von der Seegurke ab, die in Ruhe wegkriechen kann.
Bei einigen Arten enthalten die Schläuche ebenso wie die Haut zusätzlich noch ein Gift, das Holothurin, das unter anderem rote Blutkörperchen zum Platzen bringt und somit zumindest gegen rotblütige Angreifer schützt. Die „verbrauchten“ Cuvierschen Schläuche werden nach einer solchen Verteidigung durch neue ersetzt – das Neuwachstum dauert einige Wochen. Zum Glück werden immer nur einige der Schläuche eingesetzt, so dass die Tiere nicht ohne Verteidigung bleiben.
Der Darm tuts auch
Aber bei weitem nicht alle Seegurkenarten haben diese Geheimwaffe, trotzdem sind sie nicht wehrlos. Statt dem Angreifer ein spezielles Organ entgegenzuschleudern, schleudern sie einfach einen Teil ihres Darms dem Räuber ins Gesicht! Damit können sie zumindest erschrecken, wenn auch nicht immobilisieren.
Wahrscheinlich ist hier auch eine gewissen Mimikri im Spiel: ist ein Angreifer einmal mit Cuvierschen Schläuchen in Berührung gekommen, ergreift er wahrscheinlich sehr schnell die Flucht, wenn ihm wieder eine Seegurke etwas entgegenschleudert. Selbst, wenn es nur ihr harmloser Darm ist.
Mal weich, mal steif
Aber nicht nur die Innereien der Seegurken sind spannend und ungewöhnlich. Auch ihre äußere Hülle erregt Aufmerksamkeit, vor allem die von Bio-Ingenieur*innen. Denn die skelettlosen Tiere können mal weiche und mal feste Walzen sein: Je nach Zusammensetzung der Proteinmischung im Zellzwischenraum sind die Kollagenfasern im Mantel flexibel und weich oder steif und hart.
Über diese Proteinmischung können Seegurken innerhalb von Minuten die Festigkeit ihres Körpers regulieren. Wie sie es genau machen, was die Auslöser und Mechanismen dieses Wechsels sind, ist immer noch nicht ganz klar. Es wird derzeit aber intensiv studiert. Denn die Einsatzmöglichkeiten solcher mal flexiblen und mal weichen Kollagenfasern ist allein im biomedizinischen Kontext enorm vielfältig. (Vielleicht bewahrheitet sich dank dieser Fasern sogar die oben erwähnte Potenzsteigerung?).
Rettung für Seegurken?
Für Meeresbiolog*innen ebenso wie für Bio-Ingenieur*innen sind die physiologischen und anatomischen Besonderheiten der Seegurken schon Grund genug, sie zu schützen und ihre weitere Existenz zu sichern. Für den Nationalpark Galapagos und viele andere Küstenregionen der Welt reichen diese Gründe aber wohl eher nicht, um sich über die Rettung der Seegurken Gedanken zu machen.
Für sie stehen die ökologischen, ernährungssichernden und ökonomischen Bedeutungen der Stachelhäuter im Vordergrund. Denn in vielen armen Regionen wird die Proteinquelle fehlen und gleichzeitig ein wichtiges Handelsgut wegfallen. Die ökologischen Folgen sind im Vergleich dazu eher mittel- bis langfristig und noch nicht wirklich klar. Aber schön werden sie nicht sein. Denn auf alle Fälle werden sie ein verstärktes Wachstum von Algen und Mikroorganismen umfassen, die den Meeresboden überziehen und vielen Tier- und Pflanzenarten schaden.
Ausgewählte Quellen:
Diverse Einträge von Dr. Christopher Mah auf dem leider nicht länger fortgeführten Echinoblog , u.a. Sea Cucumber Defense part 2 und The Anus as a second Mouth!
William. B. Jaeckle1 and Richard. R. Strathmann 2012, The anus as a second mouth: anal suspension feeding by an oral deposit-feeding sea cucumber; Invertebrate Biology 132(1), DOI: 10.1111/ivb.12009
Jean‐François Hamel, Annie Mercier 2000, Cuvierian tubules in tropical holothurians: Usefulness and efficiency as a defence mechanism; Marine and Freshwater Behaviour and Physiology 33(2), DOI: https://doi.org/10.1080/10236240009387085
Patrick Flammang et al. 2002, Biomechanics of Adhesion in Sea Cucumber Cuvierian Tubules (Echinodermata, Holothuroidea); Integrative and Comparative Biology 42(6), DOI: https://doi.org/10.1093/icb/42.6.1107
Seegurken sind sympatische Tiere. Sie fühlen sich warm an, ihre Haut ist rauh, sie rutschen nicht aus der Hand und sehen aus wie eine dicke Zucchini nur schwarz.
Kleinkinder können mit ihnen in einem Wasserbecken mit Meerwasser spielen. Dann sollte man sie wieder ins Meer entlassen. Gelegentlich färben sie das Wasser auch schwarz, dann haben sie wahrscheinlich Angst gehabt.
Wie schön noch andere Seegurkenfans zu finden!
Ich wäre bzw. bin allerdings vorsichtig mit dem Anfassen der Seegurken. Denn einige Arten habe eine giftige Haut, die auch für Menschen sehr unangenehm sein kann. Ganz davon abgesehen kann es die Tiere stressen. Ich habe es zwar selbst noch nicht erlebt, dass sich das Wasser dunkel färbt, aber ich vermute, dass die Seegurke dann einen Teil ihres Darms samt Inhalt dem Angreifer entegegen geschleudert hat. Das ist ein klares Zeichen von Abwehr und die Aktion lässt die Seegurke für eine ganze Weile verteidigungslos zurück. Daher Kindern im Meer lieber eine Quieschente zum Spielen geben und sie gleich lehren, dass man im Wasser keine Tiere anfasst. 🙂
I love holothuroidians, too. They are fascinating animals, as all echinoderms are.
In Herfordshire/U.K. recently a 430 million year old new echinoderm was found that strongly resembles ‘modern’ holothuroideans. It was named ‘Heropyrgus disterminus’. Like most ‘modern’ echinoderms, H. disterminus had a cone-shaped body and was approximately 3 cm in length. It also had five plates covering its body.
Incidently, holothuroideans are not only black, there is aplethora of species with different sizes, body surfaces and colors. Some have got very vivid colors, and some (especially the tropical ones) are gargantuan as the ‘gentle giant. Synapta maculata.that can have a body length of 2.5 metres.
I didn’T know about H. disterminus – but I will check up on it! Thanks!
And watching Synapta maculata ist impressive – its like a snake or eel winding through the sea gras meadow. I had the pleasure while snorkling in Fiji (at a miserable day, cold and rainy. The sea was warmer than the air, so I spent as much time in the water as possible! ….being lucky enough to see a S. maculata and a feeding Kauri. It was beautiful…)
Yeah :-), must have been an awesome impression. I kinda envy you. I only saw a huge specien on documentary channel/Canadian TV. Even on the TV screen it was awesome. It’s hard to imagine how overwhelmingly beautiful it must be to see something like this with your own eyes. Greetings & all the best for your future dives
“Aber wollen wir wirklich Tiere essen, die über Analzähne verfügen, durch den Anus atmen..”
Sind wir nicht selbst alle Neumünder, die durch den ursprünglichen Mund schei…?
Stimmt! Ist aber schon ein paar Tage her bei uns….