Riesenpuzzle statt Bildfragmente – koordiniert im Jahrzehnt der Meeresforschung

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Von Korallenriffen bis zum Zirkumpolarstrom
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Dass wir die Weltmeere zerstören, ist keine Neuigkeit mehr. Dass das dem Ziel 14 der Agenda 2030 widerspricht, die Ozeane nachhaltig zu entwickeln und zu nutzen, ist auch ein alter Hut. Mit der gerade angebrochene „Dekade der Meereswissenschaften zur nachhaltigen Entwicklung“ möchten die Vereinten Nationen die Erforschung der Meere fördern. Das soll Entscheidungsträger weltweit befähigen, bessere Entscheidungen bezüglich der Meere zu treffen. Hierbei sollte ein besonderer Fokus auf der bisher sehr wenig erforschten und noch viel weniger verstandenen Tiefsee liegen.

Mit Verstehen gegen Zerstörung

Als ich ein Kind in Ostfriesland war, hieß es: „Warum viel Geld fürs Entwickeln von Filmen ausgeben? Tauch sie doch einfach in die Nordsee ein!“. Dünnsäureverklappung und andere Verpestung der Meere war damals ein großes Thema. Heute ist es noch immer ein Thema – vielleicht nicht die Dünnsäure, aber die Zerstörung auf anderen Wegen. Wir Menschen sind unglaublich erfindungsreich, wenn es ums Zerstören geht.

Wie viel Druck wir auf die Meere ausüben und wieviel Zerstörung wir damit anrichten, zeigte auch der erste Zustandsbericht der Meere der Vereinten Nationen (First World Ocean Assessment) von 2017. Hierin ging es um die immer schneller werdenden und weiter ausgreifenden Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Weltmeere. Als Antwort auf die Notlage der Meere und um die internationale Gemeinschaft zu einem gemeinschaftlichen Handeln zu bewegen, erklärte die UN-Hauptversammlung das gerade angefangenen Jahrzehnt zur Dekade der Ozeanwissenschaften für eine nachhaltige Entwicklung. Denn schließlich haben wir nur noch zehn Jahre Zeit, um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) zu erfüllen. Darunter ist auch das Ziel 14: Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu erhalten und nachhaltig zu nutzen.

Nachhaltige Entwicklung und Nutzung brauchen aber belastbare Daten und ein grundlegendes Verstehen der Meere in all ihren Tiefen und Zusammenhängen. Den Aufbau dieser Datenbasis und die Entwicklung dieses Verstehens soll Meeresforschungsdekade fördern.

Vier Hauptziele sollen dabei erfüllt werden:

  • die Fähigkeit zu verstärken, Wissen über Meere aufzubauen, zu verstehen und anzuwenden;
  • die hierzu notwendigen Daten, Information und Erkenntnisse zu identifizieren und zu erzeugen;
  • ein umfassendes Verständnis für die Meere und die Meeresverwaltung, bzw. den Umgang mit den Meeren aufzubauen;
  • die Nutzung des Wissens und der Erkenntnisse über Meere zu verstärken.

Aus Sicht etlicher Wissenschaftler*innen sollte dabei der Erforschung der Tiefsee eine besondere Rolle zukommen. Denn die Ökologie, die Verwundbarkeit der Ökosysteme und die Leistungen, die die Tiefsee für die menschliche Gesellschaft erbringt, sind noch größtenteils unbekannt. Ziel der gesammelten Forschungsprogramme unter dem Dach des Meeresforschungsjahrzehnts ist es, von „den Meeren, die wir haben“ zu „den Meeren, die wir wollen“ zu kommen. Nämlich zu gesunden, artenreichen Meeren, die Nahrung liefern, ohne dass wir sie ausbeuten oder vergiften. Die wir als Orte der Entspannung nutzen, ohne dass wir sie erdrücken. Die als Kohlenstoff- und Wärmespeicher funktionieren, ohne dass wir sie überlasten und ihre Kreisläufe unterbrechen.

Diverser für mehr Wissen

Da es sich um ein Programm der Vereinten Nationen handelt, sollte es natürlich nicht nur unser Wissen über die Meere vergrößern. Es sollte auch eine Diversifizierung der durchführenden Wissenschaftler*innen bewirken. Ebenso sollte es den Aufbau von Möglichkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten in Ländern fördern, die von sich aus nicht die finanziellen Mittel dafür haben. Gerade, wenn es um Tiefseeforschung geht, sind es viele Länder, die sich bisher nicht beteiligen können. Obwohl sie diejenigen sind, zu deren ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) Tiefseeregionen gehören.

Entsprechend liegen die am wenigsten erforschten Tiefseeregionen in den AWZ ökonomisch geringer entwickelter Länder und großer Inselstaaten wie Kiribati.  Kiribati ist zwar gemessen an seiner Landfläche, die der Hamburgs entspricht, einer der kleinesten Staaten der Welt. Aber gemessen an der Meeresfläche, über die sich die Inseln verteilen, ist der Staat größer als Indien. Länder wie Kiribati können sich Forschungsschiffe oder Universitäten mit so speziellen Fachgebieten wie Meeresbiologie oder Ozeanographie nicht leisten. Denn seien wir einmal ehrlich: so richtig viel tragen diese Fächer zur Bewältigung des täglichen Lebens nicht bei. Da sind Wirtschaft, Sprachen, Lehrerausbildung und Medizin schon hilfreicher und daher eher vertreten – im Falle Kiribati teilweise an der Universität des Südpazifiks, die von zwölf Inselstaaten gemeinsam betrieben wird.

Wenn es in diesen wirtschaftlich benachteiligen Staaten doch Wissenschaftler*innen und Institute gibt, die die Tiefseeregionen ihre Meere erforschen, ist für viele die Hürde zu hoch, in einer internationalen Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Daher wird viel lokale Forschung in lokalen oder nationalen Zeitschriften veröffentlicht, die dem Rest der Welt kaum zur Verfügung stehen. Denn Sprachbarrieren gibt es in zwei Richtungen.

Ein verzerrtes Bild der Tiefsee

Diese Verzerrung, dass nur wohlhabende Länder sich Tiefseeforschung leisten können, spiegelt sich wider in der Verfügbarkeit von Proben und Daten. Daher auch im generellen Wissensstand über die Tiefseeökologie der Weltmeere: Die nördliche Halbkugel ist besser erforscht als die südliche, die Tiefseegebiete reicher Länder besser als die armer.

Entsprechend sollten sich Vorhaben im Rahmen der UN-Dekade darum bemühen, Wissenschaftler*innen aus Ländern ohne eigene Tiefseeforschungsinfrastruktur einzubeziehen und ihnen die Möglichkeit einräumen an Expeditionen teilzunehmen. Von Anfang an sollten regionsübergreifende Ansätze verfolgt werden, unter Einsatz lokaler Koordinator*innen in allen Regionen. Lokales und indigenes Wissen sollte einbezogen werden, um die Forschung aus dem üblichen Blickwinkel privilegierter Menschen des globalen Nordens zu durchbrechen und neue Perspektiven zu ermöglichen. Daraus könnte eine ganz neue Generation lokaler Wissensvermittler*innen und Rollenmodelle erwachsen, die bisher keinen Zugang zu dieser Art Forschung und Wissen hatten.

Netzwerke statt Einzelproben

Viele Faktoren spielen in die Planung und Durchführung von Expeditionen zur Erforschung der Tiefsee hinein. Dazu gehört auch die geringe Anzahl an Forschungsschiffen und die Lage ihrer Heimathäfen, überwiegend auf der nördlichen Halbkugel. Daher – aber nicht nur deshalb – ist die Tiefsee der südlichen Halbkugel weniger erforscht als die der nördlichen. Einige Meeresbecken sind besser erforscht als andere, über die äquatorialen und polaren Tiefseeregionen wissen wir weniger als über die der gemäßigten Zonen. Damit gibt es eine räumliche Verzerrung, die es zu beheben gilt.

Das kann aber nur mit einem international koordinierten Ansatz funktionieren. Howell et al. haben im November beispielsweise einen solchen Ansatz veröffentlicht. In ihren eigenen Worten eine Blaupause dafür, wie ein integriertes Programm zur koordinierten Erforschung der Tiefsee aussehen könnte. Ein Feldprogramm globalen Ausmaßes, das mit standardisierten Methoden Daten erfasst. Durch eine Ordnung der Daten nach beispielsweise Längengrad, biogeographischer Region und Tiefe könnten Tiefseeregionen vergleichbar gemacht werden.

Die Vergleichbarkeit der Daten würde es möglich machen, biogeographisch repräsentative Orte zu identifizieren, um ein Netzwerk aus Beobachtungsstationen aufzubauen. Ein solches Netz könnte dauerhaft Daten zur Verfügung stellen, anhand derer die Nachhaltigkeit der Entwicklung mittel- bis langfristig bewertete werden kann. Solche Observatorien können offensichtlich nicht aus Forschungsschiffen bestehen, sondern müssen aus möglichst kleinen und kostengünstigen Messinstrumenten samt Speicher- und Übertragungstechnologie zusammengesetzt werden. Somit ist hier eine wichtige Schnittstelle in die Industrie gegeben. Vielleicht wäre auch eine Kombination mit bereits bestehenden Observatorien möglich, wie z.B. eine Ausweitung des Argo-Netzwerkes in die Tiefe?

Hilfe für die Entscheider dieser Welt

Die im Rahmen der Ozean-Dekaden-Forschungsvorhaben gesammelten Daten – sowohl einmalige als auch langfristige von Beobachtungsstationen – sollten dazu führen, mehr Wissen über die grundlegende Biologie und Ökologie der Tiefsee aufzubauen. Denn dieses Mehr an Wissen ist notwendig, um Vorhersagemodelle und Simulatoren zu füttern. Korrekte Vorhersagen darüber, wie die Vielfalt der Arten auf menschgemachte Stressoren reagiert, benötigen eine Vielzahl an Eingangsdaten. Dazu gehören Wissen über die heute vorhandenen Arten, ihre biotischen und abiotischen Toleranzen und Interaktionen genauso wie eine bessere Charakterisierung der Klimastressoren in einem für Tiefseehabitate repräsentativen räumlichen und zeitlichen Maßstab.

Denn effizientes, nachhaltiges Management der Meere beruht nicht nur auf dem Verständnis der oberen Wasserschichten und ihrer Bewohner. Besonders Zusammenhänge zwischen verschiedenen Tiefseeregionen und Ökosystemen sind hier wichtig, als auch ihre Interaktionen mit umgebenden Biosphären. SElbst der Austausch der Tiefseeökosystem mit der tiefen Biosphäre, über die ich in meinem Artikel Dornröschen und Methusalem geschrieben habe, könnte aufgrund der Stoff- und Energiekreisläufe interessant sein. Nur wenn wir die Funktionen und Interaktionen der Tiefsee verstehen, werden wir auch verstehen können, wie die Tiefsee zu den Ökosystemdienstleistungen beiträgt, von denen wir profitieren.

Der nächste Schritt ist dann zu klären, wie wir diese Funktionen erhalten können. Denn das ist ja unser Ziel: die Meere in einem Zustand zu erhalten, in dem sie uns, den Menschen, möglichst gut dienen können. Denn Meere sind Nahrungslieferanten, Erholungsgebiete, Transportwege, Wärmespeicher, Energielieferanten und vieles mehr.

Riesenpuzzle statt Bildfragmente

Damit all das passieren kann – von der Einbindung und Befähigung wirtschaftlich benachteiligter Länder, über das Erfassen ganz neuer Daten über die Tiefsee, die helfen Verständnis für die Vorgänge und Zusammenhänge in der Tiefsee zu entwickeln, um bessere Entscheidungen über ein nachhaltiges Management der Meere zu treffen – sind aber nicht mehr die Vereinten Nationen gefragt, sondern Meereswissenschaftler*innen aus aller Welt. Die UN hat ihren Teil getan, indem sie das Rahmenwerk für die „Dekade der Meereswissenschaften für eine nachhaltige Entwicklung“ entworfen haben. Jetzt ist es an den Forscher*innen und den weltumspannenden wissenschaftlichen Netzwerken, die Dekade mit vielen koordinierten Aktionen und Forschungsvorhaben zu füllen, die uns helfen, die UN-Ziele zu erreichen. Hierbei könnte ein von vielen Instituten zusammen erstelltes 10-Jahres-Forschungsprogramm helfen. Denn dann würden die Puzzleteile aus Ergebnissen einzelner Forschungsprojekte zusammenpassen und ein umfassendes Bild liefern, statt dass einzelne, unzusammenhängende Bildfragmente entstehen. Dass viele dieser Puzzleteilchen ein Bild der Tiefsee zeichnen sollten, ist hoffentlich deutlich geworden.

 

Hauptquellen:

Website der UN Ocean Decade

Howell, K.L. et al. A decade to study deep-sea life. Nat Ecol Evol (2020). https://doi.org/10.1038/s41559-020-01352-5

Howell, K.L. et al. A Blueprint for an Inclusive, Global Deep-Sea Ocean Decade Field Program. Front. Mar. Sci. (2020)  https://doi.org/10.3389/fmars.2020.584861

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Ich bin promovierte Biologin, Taucherin und generelle Meeresenthusiastin. Geboren an der Nordsee studierte ich Biologie im Binnenland, ursprünglich um Wissenschaftsjournalistin zu werden. Nach einem über 20jährigen Umweg - der unter anderem eine Promotion in Neurobiologie, einen Postdoc im Bereich Krebsforschung zwischen Mittel-, Rotem und Totem Meer, ein Jahr als wissenschaftliche Reiseleiterin auf den Galapagos-Inseln, 15 Jahren als Trainerin und Consultant in der Telekommunikationstechnik, Reisen nach Kiribati, Fidschi und in über 40 andere Ländern enthielt - schließt sich der Kreis: Artikel in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen sowie ein erstes Buch (Klimawandel hautnah, Springer 2018) bringen mich langsam zurück zu den Wurzeln, zum Wissenschaftsjournalismus.

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