Vom Verlust der Komplexität – El Niño läßt Korallenriffe verarmen

Im März 2016 bin ich nach Kiritimati (Kiribati) gereist, auf das größte Atoll der Erde. Rund 2000 km südlich von Hawaii liegt es fast auf dem Äquator, so weit von jedem Kontinent entfernt, wie es nur geht. Trotzdem ging es im Frühjahr 2016 auf der Insel zu wie auf einem Wissenschaftskongress: Biologen, Klimatologen und Meteorologen gaben sich ein Stelldichein. Denn Kiritimati lag mitten in der schlimmsten Warmwasserzone des 2015/16 El Niño Ereignisses, das sie alle studierten.

Die 33 Inseln der Inselgruppen Gilbert-, Phoenix- und Linieninseln bilden Kiribati. Kiritimati liegt im Nord-Osten (aus Klimawandel hautnah, Springer Heidelberg 2018)

Einige studierten den Regen und Wind. Und sie hatten da einiges zu studieren, denn es regnete, regnete und regnete. In normalen Jahren regnet es im April am meisten, davor und danach nur wenig, von August bis November quasi gar nicht. Aber während des 2015/16 El Niños regnete es auf Kiritimati ein Jahr lang, ab April 2015. Ein leichtes Abflauen im August und September des Jahres wurde von massiven Regenfälle zwischen Oktober 2015 bis April 2016 abgelöst. Im März 2015, regnete es jeden Tag, oft stundenlang.

Dauerregen beeinflusst alle Bereiche des Lebens

Die Linie zeigt den durchschnittlichen monatlichen Niederschlag, die Balken die Niederschläge von Januar 2015 bis Mai 2016 (aus Klimawandel hautnah, Springer Heidelberg 2018)

Die Straßen waren häufiger überschwemmt als nicht, teils so hoch, dass sich mit meinem Fahrrad nicht mehr durchkam und knietief durch die Dreckbrühe gehen musste. Dank der Schweinfäkalien und anderer Dinge, über die ich nicht nachdenken möchte, entzündete sich jede kleine Wunde. Betten, Kleider und gelagerte Nahrung schimmelten, das Wasser zerstörte die einzige asphaltierte Straße der Inseln noch mehr und Kinder gingen nur noch sporadisch zur Schule, weil sie die kilometerlangen Fußwege durch das Wasser nicht mehr schafften. Die Lehrer übrigens auch nicht.

Monatelange Überschwemmungen beinflussen alle Bereiche des Lebens, nicht nur die Kinder auf der Straße

Das Wasser stand natürlich nicht nur auf der Straße, sondern bildete auch im Busch regelrechte Seen. Die Lagunenstraße war monatelang nicht passierbar. Am Ostersonntag konnte ich es nicht vermeiden auf ihr mit dem Fahrrad kleine Fische zu überfahren. Milchfisch als Roadkill.

Zum Glück kam es trotz der vielen Süßwassertümpel und der damit verbundenen Stechmücken weder zu einem Zika- noch einem Chikungunya-Ausbruch. Aber viele Nahrung und Baumaterial spendenden Kokospalmen starben ab, da sie zu lange mit ihren Wurzeln im Wasser standen. Diese Langzeitfolge des El Niño s kann allerdings relativ schnell behoben werden, denn das Pflanzen neuer Kokospalmen ist recht einfach und die Pflanzen wachsen schnell.

Korallen wachsen langsamer als Kokospalmen

Eine andere Langzeitfolge wird dagegen noch Jahrzehnte nachwirken. Denn das Meer rund um die Insel war monatelang wärmer als normal. Unter anderem darüber unterhielt ich mich mit der Paläoklimatologin Kim Cobb von der Georgia Tech Uni in Atlanta (USA). Auf dem Gelände einer alten Tauchbasis auf alten Campingstühlen sitzend, umgeben von fossilen Korallenköpfen, erzählte sie mir von ihrem Erleben des 2015/16 El Niños.

Kim kommt seit 1997 jedes Jahr, manchmal mehrmals, nach Kiritimati, um lebende Korallen zu untersuchen und tote zu sammeln. Schon bei ihrem vorherigen Besuch im November 2015 sei sie schockiert gewesen. Weit über die Hälfte der Korallen war zu dem Zeitpunkt bereits gebleicht. Das heißt, sie waren durch das warme Wasser so gestresst, dass sie ihre symbiotischen Algen (Symbiodinium spp.) abgestoßen hatten. Diese sogenannten Zooxanthellen sind nicht nur die Kraftwerke der Korallen, die ihnen Nahrung liefern, sondern auch ihre Farbgeber. Ohne Zooxanthellen erscheinen Korallen knochenweiß. Hält dieser gebleichte, symbiontenlose Zustand über längere Zeit an, verhungern die Korallen und sterben.

Kim Cobb (rechts) und Postdoc Alyssa Atwood wählen fossile Korallen für das weitere Untersuchungen aus

Kim beschreibt, dass das Riff in weiten Teilen schon im November 2015 knochenweiß war. „Ich wusste da, dass viele Korallen sterben würden. Vielleicht die Hälfte“. Diese Bleich beschränkte sich nicht auf die vorgeschädigten Riffe im Bereich der Dörfer, sondern auch im unbewohnten Süden des Atolls. Der war, nach Aussage der Korallenforscherin Julia Baum von der Universität von Victoria (Kanada), bis Mitte 2015 eines der gesündesten und reichsten Riffe der Welt. Aber im November 2015 war er zur Hälfte knochenbleich.

Korallenbleiche und Korallensterbe hängen nicht nur von der absoluten Erwärmung des Wassers ab, sondern auch davon, wie lange sie dauert. Wissenschaftlich benennen wir den Stress in °C-Wochen. Die Temperaturdifferenz zwischen der in normalen Jahren höchsten Wassertemperatur und der gemessenen Temperatur wird mit der Anzahl der Wochen, die sie anhält, multipliziert. Zwei Wochen mit Wassertemperaturen 3°C über dem normalen Höchstwert sind also gleich schlimm wie sechs Wochen mit einer 1°C Erwärmung. Beides resultiert in 6 °C-Wochen.

Eine der wenigen noch lebenden Korallen (Porites spec.) mit Markierung zur Wiedererkennung

Der 2015/16 El Niño breitete sich im Zentral- und Westpazifik aus

Eine Abteilung der US-amerikanischen Nationalen Ozean- und Atmosphärebehörde (National Oceanic and Atmospheric Administration – NOAA) überwacht die weltweiten oberflächennahen Korallenriffe per Satellit und sagt Korallenbleichen und -sterben voraus. Sie sahen bisher 4°C-Wochen für Korallenbleiche und 8°C-Wochen für Korallensterben als kritische Werte an. Eine neue Studie am Great Barrier Reef (GBR) in Australien kam jetzt allerdings leider auf andere Ergebnisse.

Normalerweise können die Korallen des GBR aufatmen, wenn ein El Niño herrscht. Denn während das Wasser in dieser Zeit im zentralen und/oder östlichen Pazifik abnormal warm ist, ist es im Westen ungewöhnlich kalt. Aber der 2015/16er El Niño hat den Osten größtenteils verschont, dafür aber Warmwasserzungen bis nach Australien gestreckt, wie das NOAA-Video zur Wärmeanomalie von Juli bis September 2015 veranschaulicht. Die Korallenriffe Fidschis haben dank Zyklon Winston recht unbeschadet überlebt, aber große Teile des größten Barriereriffs der Welt haben massiv Schaden genommen.

Mit steigenden Temperaturen sinkt die Komplexität

Die am 26. April im Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie von Terry P. Hughes zeigt, dass 2016 im GBR bereits Korallenbleiche und -sterben bei 3-4°C-Wochen anfingen. Nach acht Monaten mit zu warmem Oberflächenwasser zeigten die Regionen, die mindestens 6°C-Wochen erlebt hatten, massive Veränderungen. In 29 % der 3863 Einzelriffe des GBR starben die meisten der schnell wachsenden Hirschgeweih- und Tischkorallen (Acropora cervicornis, Seriatopora hystrix und Stylophora pistillata). Diese Korallen sind stark verzweigt und bieten mit ihren dreidimensionalen Strukturen beispielsweise Verstecke und Schutzräume für viele Rifffische und Krebstiere. Sie  beeinflussen aber auch Strömungen und damit die Wellenintensität an benachbarten Küsten. Die dreidimensionale Sturktur vieler tropischer Riffe ist maßgeblich für die Funktionalität des Ökosystems, also dafür, was das Ökosystem dem Gesamtsystem bietet.

Mit dem Sterben dieser Korallen verändert sich also die Funktionalität des Ökosystems. Die stärksten Veränderungen beobachten Terry Hughes und sein Team im nördlichen Drittel des GBR. Auch im zentralen Drittel waren die Veränderungen deutlich, während nur das südliche Drittel den El Niño weitestgehend unbeschadet überstanden hat. Die Hälfe des Korallenbewuchses auf den Riffkämmen der nördlichen 700 km des GBR sind zwischen März und November 2016 gestorben, im gesamten GBR knapp ein Drittel. Insgesamt betrachtet sind etwa 75 % der Tisch- und Hirschgeweihkorallen des gesamten GBR gestorben. Übrig geblieben sind verarmte Riffe aus überwiegend langsam wachsenden Arten mit geringer räumlicher Komplexität. Damit hat sich die Funktionalität des Riffs verändert, nicht zum Besseren.

Ein paar wenige Stürme werden hier in Kiritimati wie im GBR ausreichen, die noch vorhandenen komplexen Struktur der toten Korallen in Geröll zu verwandeln

Es ist leider auch unwahrscheinlich, dass die Riffe innerhalb der nächsten Jahrzehnte – oder Jahrhunderte – ihre Komplexität wiedererlangen. Denn durch die extreme räumliche Ausdehnung des 2015/15 El Niños haben fast alle Riffe im zentralen und westlichen tropischen Pazifik starke Schäden erlitten. Es gibt kaum noch gesunde, fruchtbare Riffe, die genügend Larven liefern können, um die zerstörten oder geschädigten Riffe neu zu besiedeln. Und selbst wenn sich neue Korallen ansiedeln ist es unwahrscheinlich, dass sie genügend Zeit haben werden um gesunde, fest verankerte Korallen zu bilden. Denn der nächste massive El Niño kommt bestimmt und mit ziemlicher Sicherheit zu früh für die Babykorallen. Übrig bleiben also auf absehbare Zeit Riffe aus langsam wachsenden knollen- und kopfförmigen Korallen, mit wenig Verstecken, geringerem Strömungswiderstand – ein verarmtes Ökosystem mit geringerer Funktionalität als bisher.

Ein Friedhof für Korallenmarker

Die gleiche Verarmung ist in Kiritimati zu beobachten und droht eventuell anzuhalten. Hier lagen die Temperaturen nicht nur über Wochen, sondern über ca. fünf Monate 1,0-2,5 °C über den normalen Höchstwerten. Wir reden hier also von 25 und mehr °C-Wochen. Denn Kiritimati lag bei diesem El Niño Ereignis im Zentrum, quasi im Auge des Sturms. Oder eben im Auge des El Niños. Nach etlichen Tauchgängen im März/April 2016 schätzten Julia Baum und Kim Cobb mit ihren Teams, dass rund 70 % der Korallen bereits tot seien und mindestens weitere 15 % gebleicht. Nur etwa 5 % sahen normal aus, wobei auch diese Anzeichen des Stresses zeigten.

Ein Haufen alter Korallenmarker steht für Hunderte toter Korallen

Diese wurden immer dann deutlich, wenn die Teams Gewebeproben der wenigen noch lebenden Korallen nahmen. Ich selbst habe beobachtet, wie Kim größte Probleme bei der Probenentnahme unter Wasser hatte: die Proben zerfaserten und fielen auseinander. Gesunde Korallenproben dagegen, erklärte sie mir später, halten fest zusammen und können leicht als ein Stück transportiert werden. Dass die Gewebeproben auseinanderfallen zeigt deutlich, dass auch die noch lebenden Korallen nicht gesund waren. Wie lange das Riff von Kiritimati brauchen wird um sich zu erholen, ist unklar. Vor allem, da niemand weiß, wann das nächste Massensterben einsetzen wird, ausgelöst durch den nächsten El Niño.

Kim Cobb nimmt Korallenproben von einer der wenigen überlebenden Korallen

Fast alle im Frühjahr 2016 in Kiritimati noch lebenden Korallen gehörten zur Gattung Porites, einer kopfförmig oder klumpig wachsenden Steinkoralle mit geringer räumlicher Komplexität. Wobei die Chancen auf eine Erholung in Kiritimati vielleicht etwas besser stehen als im GBR. Denn der östliche Pazifik wurde von dem 2015/16 El Niño größtenteils verschont, weshalb Korallenlarven aus den ostpazifischen Riffen Kiritimati neu besiedeln könnten. Oder auch von den anderen Inseln der gleichen Gruppe, die teils nicht im Zentrum des El Niños lagen, sondern etwas zu weit nördlich oder südlich. Ein Bekannter von mir, der im Herbst 2017 auf Kiritimati schnorcheln ging, berichtete mir von vielen Baby-Korallen. Vielleicht gibt es ja doch ein bisschen Hoffnung für das größte Atoll der Welt? Zumindest noch für ein paar Jahrzehnte.

 

Quellen:

https://www.nature.com/articles/s41586-018-0041-2

persönliche Gespräche mit Julia Baum (https://baumlab.weebly.com/) und Kim Cobb (http://shadow.eas.gatech.edu/~kcobb/)

 

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Ich bin promovierte Biologin, Taucherin und generelle Meeresenthusiastin. Geboren an der Nordsee studierte ich Biologie im Binnenland, ursprünglich um Wissenschaftsjournalistin zu werden. Nach einem über 20jährigen Umweg - der unter anderem eine Promotion in Neurobiologie, einen Postdoc im Bereich Krebsforschung zwischen Mittel-, Rotem und Totem Meer, ein Jahr als wissenschaftliche Reiseleiterin auf den Galapagos-Inseln, 15 Jahren als Trainerin und Consultant in der Telekommunikationstechnik, Reisen nach Kiribati, Fidschi und in über 40 andere Ländern enthielt - schließt sich der Kreis: Artikel in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen sowie ein erstes Buch (Klimawandel hautnah, Springer 2018) bringen mich langsam zurück zu den Wurzeln, zum Wissenschaftsjournalismus.

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