Wie Narwale ihren Zahn als Multifunktionstool nutzen

BLOG: Meertext

Navigation im Meer der Worte
Meertext

Narwale sind scheue Bewohner der hocharktischen Meere. Als einzige heute lebende Wale tragen die Männchen einen extrem verlängerten Zahn im linken Oberkiefer. Damit sind sie eine ikonische Nordpolar-Art und leben meist am Rande des Eises. Ihr spiralig gedrehter bis zu 2,70 m langer Zahn ist der Ursprung vieler Mythen und gibt WissenschaftlerInnen immer wieder neuen Diskussionsstoff.
Männchen nutzen ihn während der Paarung für Kommentkämpfe, außerdem gibt es Hinweise auf weitere Einsatzmöglichkeiten.

Beobachtungen von Drohnen haben jetzt eine Reihe weiterer Funktionen unter anderem bei der Jagd gezeigt, wie ein Forschungsteam um G. O’Corry-Crowe gerade in Frontiers in Marine Science publizierte: „Use of tusks by narwhals, Monodon monoceros, in foraging, exploratory, and play behavior“.

Narwale  (Monodon monoceros) sind mit 4 bis 5,30 Metern mittelgroße und 1000 bis 1600 Kilogramm schwere Zahnwale, die in Gruppen im arktischen Ozean leben. Er gehört, wie auch der Weißwal (Beluga, Delphinapterus leucas), zu den Gründelwalen. Der Körper ist gedrungen, der rundliche Kopf bildet keinen Schnabel. Eine Rückenflosse fehlt und die Schwanzflosse ist ungewöhnlich geformt: Der hintere Rand beider Flukenhälften ist stark konvex gebogen. Ihr hervorstechendes Merkmal ist der bis zu 10 Fuß lange verlängerte spiralig gedrehte Zahn der Männchen, selten auch bei Weibchen.
Wegen seiner scheuen Lebensweise an der Eiskante, wird er eher selten von Forschenden beobachtet, so ist der Wissenschaft und Öffentlichkeit immer noch nur wenig über das Sozialverhalten bekannt. Da die Zahnwale mit dem dunkelgrauen Fleckenmuster von Ureinwohnern entsprechend dem Aboriginal whaling als Nahrungsgrundlage für den eigenen Verbrauch immer noch bejagt werden dürfen, kennen diese Jäger der Arktis sich mit den Tieren gut aus. Ihre Expertise hat nun zu den spannenden Forschungsergebnissen geführt.
Die Drohnen-Technologie ermöglicht seit einigen Jahren die häufigere Sichtung und Beobachtung solcher scheuen Meeresbewohner gerade in entlegenen Regionen – so auch hier.
Bisher war von Narwalen bereits bekannt, dass zwei oder mehr Männchen die Stoßzähne fast senkrecht aus dem Wasser heben und sie, wie Fechter ihre Klingen, kreuzen. Dabei handelt es sich vermutlich um ein Verhalten zum Abschätzen anderer männlicher Konkurrenten um die Gunst der Weibchen.

Ein Wissenschaftler-Team der Florida Atlantic University’s Harbor Branch Oceanographic Institute und Canada’s Department of Fisheries and Oceans hat in Kooperation mit Inuit Communities in Nunavut in der kanadischen Hocharktis jetzt erstmals dokumentiert, wie Narwale in der freien Natur ihren überlangen Zahn einsetzen, um das Verhalten des arktischen Saiblings (Salvelinus alpinus) zu erkunden und zu manipulieren – u. a. zum Betäuben und sogar Töten der Saiblinge. Die Forschenden fanden mehrere bisher vollkommen unbekannte unterschiedliche Verhaltensweisen, die neues Licht auf die die Dynamik zwischen dem Narwal, seiner Beute und seinen gefiederten Konkurrenten, den Seevögeln, geben. Dabei geht es vor allem um Eismöwen (Larus hyperboreus), die als fliegende Kleptoparasiten versuchen, den Walen ihre erlegte Beute abzuluchsen (Typisch für Möwen – ich habe kürzlich von der Golden Gate-Brücke aus genau gesehen, wie ein Schwarm Möwen einem Seehund seinen erlegten Fisch abzunehmen versuchte.)

Die Drohnenkamera nahm nun spektakuläre Bilder auf, wie Narwale mit Geschicklichkeit, Präzision und Bewegungsgeschwindigkeit den Stoßzahn bei der Verfolgung des schnell schwimmenden Fisches zeigten. Dabei setzte der Wal gerade die Spitze des Zahns dazu ein, den Fisch kurz zu berühren, worauf der Fisch reagierte. Der Zahnwal interagierte also direkt mit der Beute und manipulierte sie sogar. In einigen Situationen schien ein Wal einem anderen den Zugang zu demselben Zielfisch versperren zu wollen, allerdings keinesfalls aggressiv.

Florida Atlantic University, 28.02.2025: Using drones, 17 distinct behaviors of narwhals were captured in the wild. Findings reveal complex behaviors of the Arctic’s iconic whale never seen before. This highly gregarious whale uses its tusk to investigate, manipulate and influence the behavior of a fish, the Arctic char. The study also provides the first evidence of play, specifically exploratory-object play, and the first reports of kleptoparasitism, a “food thief” situation, among narwhals and glaucous gulls. (Video credit: O’Corry-Crowe, FAU/Watt, DFO)

Außerdem liefert die Studie erste Hinweise auf wahrscheinliches Spielverhalten, insbesondere auf exploratives Spielen mit Objekten. Einige Szenen zeigten auch, wie ein wohl nicht sehr hungriger Narwal mit den Saiblingen eher spielte, als sie zielgerichtet zu erlegen.

Eine wichtige Frage bleibt offen: Da meist nur Männchen solch einen verlängerten Zahn haben und diesen offenbar erfolgreich bei der Jagd einsetzen, wüßte ich gern, ob sie ihre Beute mit den Weibchen der Gruppe teilen. Im Narwal-Video ist in einer Sequenz am Rande der Männchen-Gruppe ein zahnloses Weibchen zu sehen, sie hält aber Abstand. Meistens sind gemeinsam lebende Zahnwale sehr sozial und jagen oft auch gemeinsam. Von Orcas ist bekannt, dass sie sogar kleine Beute immer teilen. Ich hoffe, dass es bald weitere Narwal-Videos gibt, die uns mehr dazu verraten!

Journal Reference:
O’Corry-Crowe G, Ghazal M, Gillespie M, Galvin P, Harasimo J, Storrie L and Watt CA, ‘Use of tusks by narwhals, Monodon monoceros, in foraging, exploratory, and play behavior’, Frontiers in Marine Science 12: 1518605 (2025). DOI: 10.3389/fmars.2025.1518605

Der Zahn des „Einhorns der Meere“

Der wissenschaftliche Name Monodon monoceros – der einhörnige Einzahn – ist irreführend, genauso wie die weit verbreitete öffentliche Meinung. Die meisten Menschen nehmen automatisch an, dass die bis 2,70 Meter lange linksspiralig gedrehte Struktur am vorderen Ende des Wals ein Horn sein muss. Das “Horn” ist natürlich ein Zahn.
Nur Narwalmännchen tragen einen verlängerten Zahn: Der „Stoßzahn“ ist das wichtigste Erkennungsmerkmal dieser Walart.
Bei Männchen wächst der linke Eckzahn im Oberkiefer zu einer langen, spiralig gedrehten Struktur aus – bis zu 2, 70 Meter lang. Einen solchen Zahn gibt es bei keiner anderen Walart!
Ansonsten besteht die Bezahnung dieser arktischen Zahnwale aus einem weiteren Zahn, der meist im Zahnfleisch verborgen bleibt. Selten wächst er zu einem zweiten „Stoßzahn“. Noch seltener entwickeln auch Weibchen lange Zähne. Weitere Zähne werden nur embryonal angelegt, Narwale kauen nicht. Stattdessen nehmen sie ihre Beute wahrscheinlich saugend auf und schlucken sie als ganzes. Wie fast alle anderen Wale auch (Mehr zu Narwalzähnen gibt es hier).
Selten tragen auch Weibchen einen oder zwei “Stoßzähne”.In der Schausammlung des Zoologischen Museums in Hamburg ist ein Narwalschädel mit zwei Zähnen zu bewundern. Das Tier wurde 1684 von Kapitän und Walfänger Dirk Petersen erlegt und war nachweislich ein Weibchen!

In historischen Zeiten wurden Narwalzähne südlich der Arktis natürlich für Einhorn-Hörner gehalten und zu den entsprechenden exorbitanten Preisen gehandelt. Schließlich wollte jeder Fürst für sein Naturalienkabinett das Horn des mystischen Tieres haben. Und das Pulver vom Horn des Einhorns war eine beliebte Getränkezutat der Mächtigen, denn es sollte vor Gift schützen.Heute erinnern noch die Narwalzähne in den fürstlichen Wunderkammern oder die Namen von Apotheken daran.

Muktuk mit Schwermetallfracht

Inuit dürfen eine kleine Quote Narwale jagen – diese Quote fällt unter das sogenannte Aboriginal Whaling, also für den traditionellen Walfang zur Selbstversorgung der indigenen Völker.
In früheren Zeiten waren Meeressäuger in den arktischen Gebieten eine noch wichtigere  Nahrungsressource. Dabei wurde stets das ganze Tier verwendet. Wirklich alles. Heute ist vor allem der markante Zahn interessant, auch wenn der Rest immer noch oft gegessen wird.

Muktuk ist die Haut mit der darunter liegenden elfenbein- bis rosafarbenen Fettschicht. Diese fette Leckerei wird in Blöcken aus Nar-, Weiß- und Grönlandwalen herausgeschnitten und luftgetrocknet oder gefroren gelagert. Diese begehrte Nahrung heisst Maktaaq, Maktaq oder Mattak bzw. in englisch-phonetischer Schreibweise Muktuk.
Das Wichtigste an Muktuk ist der extrem hohe Vitamin C-Gehalt dieses Gewebes. Ausgerechnet Walhaut hat eine höhere (L-(+)-Ascorbinsäure-Konzentration als Zitrusfrüchte! Damit war und ist sie ein besonders wichtiges Lebensmittel gegen Skorbut und andere Mangelkrankheiten.
Inuit betrachten sie auch heute noch als Leckerbissen, der Geschmack soll an den von Nüssen oder geschälten Mandeln erinnern.

Als langlebige Jäger sind Narwale allerdings sehr hoch mit Schadstoffen belastet.
Toxine wie Quecksilber, Blei, Cadmium, PCBs und andere Schadstoffe reichern sich in der Nahrungskette immer weiter an, die Prädatoren am Ende haben so die höchste toxische Last. Gerade in Fettgewebe lagern sich besonders viele Schadstoffe ab. Da diese Wale bis zu 40 Jahre alt werden, ist ihre Schadstofflast so hoch, dass der Verzehr für Menschen gesundheitsgefährdend ist.

Narwale und Klima

Vor über 3,6 Mio Jahren gab es auch in der Nordsee Narwale. Das zeigen Fossilfunde aus der Gegend um Antwerpen. Was die Paläontologen über den fossilen Gründelwal herausgefunden haben, ist hier zu lesen.

Narwale leiden, wie alle arktischen Meeressäuger, sehr unter der Klimakrise: ihr Lebensraum, das Meereis, verschwindet gerade durch die starke Erwärmung des Nordatlantiks. Damit gerät die ganze Nahrungskette aus dem Gleichgewicht. Noch wichtiger ist die Schutzfunktion des Meereises für Nar- und Weißwale: Ihre größten Feinde sind die Orcas. Die berüchtigten schwarz-weißen Schwertwale haben ihren Namen von ihren hoch aufragenden Rückenflossen bekommen, bei Männchen können sie bis zu 2 Meter hoch werden. Darum trauen sich die Orcas im Nordpolarmeer nicht ins Eis, sie würden dabei schwere Verletzungen riskieren. Mit dem abtauenden Meereis und den immer länger und weiterräumiger eisfreien Flussmündungen und Küstengewässern sind sie aber mittlerweile bei der Jagd auf Nar- und Weißwale so erfolgreich, dass einige Bestände der kleineren Wale in ernste Gefahr geraten.

(Teile dieses Beitrags stammen von einem Meertext-Artikel von 2020 auf dem alten Blog).

Bettina Wurche in Portsmouth

Veröffentlicht von

https://meertext.eu/

Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

Schreibe einen Kommentar


E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.
-- Auch möglich: Abo ohne Kommentar. +