Walrosse sind King Size – von Kopf bis Baculum
BLOG: Meertext
Nach viel zu langer Zeit werde ich endlich mal wieder mit den Seehunden und Kegelrobben der Seehundsstation Friedrichskoog Geburtstag feiern!
Am 05.08.2024, eine Woche nach Wacken, ist der Stationsgeburtstag mit einem tollen Programm von Robbenfütterung über Infostände bis Puppentheater, Kuchen und Fischbrötchen sowie Tombola.
Seit meinem letzten Besuch ist dort viel passiert, die Station soll jetzt viel größer und mit viel tolleren Ausstellungen sein.
Neben den knuffigen Heulern, die aufgepäppelt udn dann wieder in die Nordsee entlassen werden, wohnen dort auch einige erwachsene Seehunde und Kegelrobben, die aufgrund ihrer Vorgeschichten nicht freigelassen werden können. Kegelrobben sind die größten Raubtiere Deutschlands, Bullen werden bis zu 2,50 m groß und 300 kg schwer. Sie reißen auch Seehunde und Schweinswale.
Das Seehund Sommerfest wird also eine richtig große Sache!
Besonders freue ich mich, dass ich aktiv mitmachen darf: Ich stelle die “Zollkiste” vor. Darin sind vom Zoll beschlagnahmte Tiere (und vielleicht auch Pflanzen), die unter den Artenschutz fallen und darum in Deutschland nicht eingeführt und gehandelt werden dürfen. Welche Arten das sind, regelt das Washingtoner Artenschutzübereinkommen oder CITES (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora), dessen Listen regelmäßig aktualisiert werden. Der Zoll beschlagnahmt regelmäßig solche verbotenen Arten, die nach Deutschland eingeführt werden sollen. Dies können lebende oder Teile von toten Tiere und Pflanzen sein. Tote und Teile von Tieren und Pflanzen geben die Zollbehörden an Museen und Infostationen ab. Und so hat auch die Seehundstation ihre “Zollkiste”. Ich weiß noch gar nicht, was darin ist, sicherlich Robbenfelle, vielleicht auch Schädel.
Nur zwei Exponate kenne ich schon: Teile von Walrossen – ein Schädel und ein Baculum (Penisknochen).
Beide Knochen bekomme ich nicht oft in die Hand, selbst als Zoologin und Museumsfrau. Leider gibt es für beide keinen Hinweis auf die Herkunft und keine weiteren Informationen.
Sicherlich stammen sie nicht von demselben Tier.
(Dieser Beitrag ist ein Update eines älteren Beitrags vom alten Blog – für mich ist er gerade wieder aktuell geworden!)
Walrossschädel in Friedrichskoog
Das Walross (Odobenus rosmarus) ist eine der gewaltigste Robben.
Männchen werden bis zu 3,6 m lang und bis zu 880-1,557 kg schwer, Weibchen bleiben etwas kleiner.
Dementsprechend King Size sind auch die einzelnen Körperteile.
Mit den zwei gewaltigen Hauern im Oberkiefer kratzen Männchen und Weibchen Muscheln vom Boden ab, jagen andere Robben oder verteidigen sich gegen Eisbären und Orcas. Außerdem setzen sie die Zähne auch ein, um sich auf Eisschollen zu hieven.
Der ganze Schädel ist 36,5 cm lang, an der breitesten Stelle der Schnauze 17,5 cm breit und extrem schwer – 4,5 kg. Der hintere (=caudale) Teil des Hirnschädels und die Jochbeine (Jugalia) fehlen, aber nach und nach kann ich einen Teil seiner Geschichte rekonstruieren.
Odobenus-Schädel Seitenansicht rechts ( (C) Seehundsstation Friedrichskoog)
Außerdem hat er eine ungleichmäßig gelbliche, glänzende Oberfläche – er ist irgendwie lackiert worden.
Stammt er überhaupt von einem heute lebenden Tier? Könnte es ein Fossil sein – auf dem beiliegenden Zettel steht „versteinert?“?
Oder ein Abguss?
Nach und nach kann ich einen Teil seiner Geschichte nach dem Tod des Tieres rekonstruieren.
Beim Umdrehen sehe ich in den Oberkiefer hinein: Stark abgekaute Zahnstumpen zeigen, dass es ein älteres Tier war, eher in der 2. Lebenshälfte. Von den gewaltigen Hauern sind etwa zentimeterlange Stümpfe zu sehen, die Kanten sind nicht gesplittert, sondern relativ eben.
Der Lack ist sehr ungleichmäßig aufgetragen, an einigen flächigen Stellen fehlt auch die oberste glatte Knochenschicht, die sogenannte Compacta. Darunter schimmert die Spongiosa – die innere Knochensubstanz mit ihrer schwammartigen Struktur. Einige Risse zeichnen sich unter der Lackierung ab.
Es sind weder Zeichen eines Einschussloches noch Spuren von scharfen Klingen oder anderen Werkzeugen zu sehen.
Der Schädel hat keinen Eigengeruch mehr.
Es ist auf jeden Fall ein echter Schädel. Nicht fossil, sondern rezent (heute lebend).
Walross-Schädel sind irrsinnig schwer, vor allem der Schnauzenbereich, in dem die massiven Hauer stecken.
Wie ist das Tier gestorben und was ist nach seinem Tod passiert?
Der Schädel erzählt seine Geschichte selbst: Ein ausgewachsenes Walross unbekannten Geschlechts ist verstorben. Todesursache unbekannt.
Das tote Tier lag am Strand, die Hauer wurden abgesägt oder geschnitten.
Danach ist der Körper verwest und allmählich skelettiert, der Knochen wurde durch die Einwirkung von Wasser und Sonne gesäubert.
Der schwere Teil der Schnauze fiel vielleicht nach unten in den Sand oder ins Sediment und lag dort geschützt gegen äußere Einflüsse. Der hintere Teil des Kopfes mit dem Hirnschädel ragte nach oben und wurde im Laufe der Zeit beschädigt. Großflächige oberflächliche Beschädigungen im seitlichen Bereich sind wahrscheinlich durch das Abrollen am Strand geschehen: Vom Wasser bewegte runde Steine erzeugen solche Abriebspuren auf Knochen.
Der saubere, beschädigte Schädel ist schließlich aufgesammelt worden. Der Sammler hat den beschädigten und etwas unansehnlichen Schädel durch großzügig und dilettantisch aufgetragenen Lack stabilisiert (bzw. verschandelt. Mehrere dünne Lagen eines besser geeigneten Lackiermittels wären hier wünschenswert gewesen.)
Trotzdem fand der Walross-Kopf einen Abnehmer und wurde mit nach Deutschland genommen.
Dort endete seine Reise zunächst am Zoll.
Walrosse sind Meeressäuger und dürfen, wie alle Teile von Robben und Walen, von Privatleuten nicht in die EU eingeführt oder dort gehandelt werden. Auch wenn sie in Grönland, Alaska, Norwegen, Russland oder einem anderen Land legal erworben worden sind. Dieses Verbot gilt übrigens auch für viele andere Länder, etwa Kanada.
Schließlich landete der Schädel als Anschauungsmaterial auf der Seehundsstation Friedrichskoog.
Ein würdiger Platz mit einer wichtigen Botschaft und begeistertem Publikum.
Ein ganz herzliches Dankeschön für das Team der Seehundsstation (Extra-Danke an Steffi) für Ausmessen und Photographieren der Knochen!
Das Baculum des Walrosses
Der Penisknochen (Os penis, Os priapi oder Baculum) ist eine Verknöcherung des Penisschwellkörpers (Corpus cavernosum penis). Die meisten Raubtiere (Hunde, Bären, Katzen Marder, Robben, …), die meisten Primaten und einige andere Säuger-Gruppen haben ein Baculum. Bei den meisten Katzenarten ist diese Struktur zurückgebildet, bei Menschen und Walen wird sie gar nicht ausgebildet.
Oberflächlich betrachtet erinnert dieser elegant geschwungene Walrossknochen an einen langen Extremitätenknochen. Beim genauen Hinschauen bemerkt man aber schnell die Unterschiede: Es gibt natürlich keine Gelenkstücke, die an Knie oder Hüftgelenk passen. Die Krümmung verläuft nicht seitlich, sondern in der Richtung der Bauch-Rücken-Achse (=dorso-ventral). Und er ist absolut symmetrisch, im Gegensatz zu Extremitätenknochen.
Dieses Walroß-Baculum ist 59,5 cm lang, zwischen 16,5 und 9,0 cm breit und perfekt erhalten. Keine Beschädigungen sind sichtbar.
Odobenus-Baculum Seitenansicht ( (C) Seehundsstation Friedrichskoog)
In Alaska und Grönland heißt das Walross-Baculum „Oosik“, das Wort stammt aus einer Inuit-Sprache.
Alaskanische und grönländische Ureinwohnern haben für den Oosik verschiedene Verwendungen, heute verkaufen sie solch ein Stück gern als Souvenir an Touristen. Oft sind die Knochen dann noch poliert und kunstvoll geschnitzt.
Um den Walross-Penisknochen ranken sich viele Legenden und Anekdoten, es gibt sogar eine Ode dazu „Ode to an Oosik“ (s. u.)
Ein Baculum dieser Größe hat natürlich bei den erwachsenen Besuchern der Seehundsstation für ein breites Grinsen gesorgt. Etwas schwieriger war es, diese faszinierende Struktur Fünfjährigen zu erklären. Ich habe dann die Eltern weiterverwiesen : ).
Penisknochen gibt es in einer überraschenden Formenvielfalt, meistens sind sie leicht gekrümmt. Manche sind wie Baseballschläger geformt, andere erinnern eher an exotische Blüten.
Übrigens: Das weibliche Äquivalent zum Os penis der Säugetier-Männchen ist der Os clitoridis oder das Baubellum.
Beide Knochen sind artspezifisch.
Warum, zu welchem Zweck und in welcher Form und Größe sich diese genitalen Knochenstrukturen in den verschiedenen Säugetiergruppen entwickelt bzw. in einigen nicht entwickelt oder zurückgebildet haben, ist immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Spekulation. Die Formenvielfalt hat sicherlich etwas damit zu tun, dass er keine so elementare Funktion wie etwa ein Oberschenkelknochen erfüllen muss.
Warum aber nun gerade Hyänenweibchen und Erdhörnchen mit so gewaltigen genitalen Errungenschaften protzen, kann bis heute niemand befriedigend erklären. Und das Fehlen bei Menschen liegt wahrscheinlich daran, dass Homo sapiens das Baculum im Laufe der Primaten-Evolution verloren hat, da er bei fast allen anderen Primaten-Vertretern vorhanden ist.
Gilberts und Zevitts Hypothese, Eva sei nicht aus Adams Rippe sondern aus seinem Baculum entstanden, war hoffentlich nur ironisch gemeint (Gilbert and Zevit. 2001. Congenital human baculum deficiency: The generative bone of Genesis 2:21-23. American Journal of Medical Genetics, 101(3):284-285.).
“Ode to an Oosik”
Als Studentin arbeitete ich in einer Plankton-Arbeitsgruppe der Biologischen Anstalt Helgoland in Hamburg. Meine direkte Chefin, die Doktorandin Nicola hatte in Alaska Fischereiwissenschaft studiert und erzählte herrliche Geschichten aus dieser Zeit. Sie hatte auch ein Gedicht über den Oosik mitgebracht, das hier keinesfalls fehlen darf.
“Strange things have been done in the Midnight Sun
and the story books are full,
But the strangest tale concerns the male
magnificent walrus bull!
I know it’s rude, quite common and crude,
perhaps it is grossly unkind;
But with first glance at least, this bewhiskered beast,
is as ugly in front as behind.
Look once again, take a second look – then
you’ll see he’s not ugly or vile –
There’s a hint of a grin, in that blubbery chin –
and the eyes have a sly secret smile.
How can this be, this clandestine glee
that exudes from the walrus like music?
He knows, there inside, beneath blubber and hide
lies a splendid contrivance – the Oosik!
“Oosik” you say – and quite well you may,
I’ll explain if you keep it between us,
in the simplest truth, though rather uncouth,
Oosik is, in fact, his penis!
Now the size alone of this walrus bone,
would indeed arouse envious thinking –
it is also a fact, documented and backed,
There is never a softening or shrinking!
This, then, is why the smile is so sly,
the walrus is rightfully proud.
Though the climate is frigid, the walrus is rigid,
Pray, why, is not man so endowed?
Added to this, is a smile you might miss –
Though the bull is entitled to bow –
The one to out-smile our bull by a mile
is the satisfied walrus cow!”
(Der Verfasser ist leider unbekannt)
Zum Weiterlesen:
Brian Switek (National Geographic Science-Blog “Laelaps”) : A Long-Lost Bone
“Laelaps” berichtet über verschiedene Studien zu den genitalen Strukturen von Mäusen, Ratten, Schleichkatzen und Hyänen.
Ein herzliches Dankeschön für das Team der Seehundsstation (Extra-Danke an Steffi) fürs Ausmessen der Knochen und die Photos!
Das Copyright der Bilder liegt bei der Seehundsstation Freidrichskoog
(Diesen Artikel hatte ich 2014 erstellt und erstmal publiziert).
Die Größe mancher Tiere ist schon beeindruckend. Und viel Spaß beim “Robbenstreicheln”.
PS: Der Link zu den Hyänen geht nicht, da kommt man auf irgendeiner polnischen Seite raus.
@Sascha: Danke für den Hinweis – ich habe einen anderen Link gesetzt. Robbenstreicheln? Vielleicht schnappe ich ihnen lieber einen fetten Hering vor der Nase weg und lege ihn mit Zwisbeln und saurer Gurke zwischen zwei Brötchenhälften : )
Das Gedicht ist wirklich beeindruckend (sage ich als Anglistin). Es hat einen beeindruckenden Wortschatz und glatte Metrik (d. h. es “stolpert” nicht), ist harmonisch aufgebaut, die dritte Zeile jeder Strophe enthält nochmal einen Extra-Reim. Und natürlich ist auch der Inhalt bedeutend. 😉
Schade, dass der Dichter unbekannt ist.
@Ruth Eisenblätter: danke für die sachkundige Analyse. Ja, ich finde es auch sehr gut geschrieben und wunderbak rhythmisch , das ist keinesfalls ein hingeschmierter Knüttelvers.