Wale könnten viel älter werden – wenn wir sie ließen

Dass gerade Glattwale extrem langlebig sind, ist seit Jahrzehnten bekannt. Die behäbigen Bartenwale schwimmen wegen ihrer rundlichen Gestalt und der extrem dicken, bis etwa 60 Zentimeter dicken Fettschicht, sehr langsam und waren darum die ersten Arten, die unter dem Walfang litten. Die bis zu 18 Meter großen Grönlandwale (Balaena mysticetus, Bowhead whale) und die mit 16 Metern etwas kleineren Nordkaper (Nördlicher Glattwale, Eubalaena glacialis) der Arktis und Subarktis traf es zuerst: schon im 16. Jahrhundert hatten baskische Walfänger die kleine Population in der Biskaya ausgerottet und machten sich dann in den Nordatlantik auf, um weiter nördlich lebende Bestände auszubeuten. Der Tran der Wale und ihre sehr langen Barten waren Lampenöl, Schmierstoff und elastisches Plastik-Vorläufer-Material für die europäischen Märkte. So erhielten diese Meeressäuger den englischen Namen “Right Whale“ – sie waren die richtigen Wale zum Töten.
Da Körpergröße und Lebenserwartung miteinander korreliert sind, ist das hohe Lebensalter gerade größerer Wale wenig überraschend.
Wie alt gerade Glattwale werden können, war dann aber doch eine Überraschung: Vor 25 Jahren zeigten Wissenschaftler, die mit indigenen Walfängern in der Arktis zusammenarbeiteten, dass Grönlandwale bis 200 Jahre alt werden können, wenn nicht sogar älter. Indigene Waljäger fanden im Walspeck alte Harpunenspitzen: Darunter mehrere Harpunenspitzen aus Stein oder Metall und Elfenbein, die zuletzt in den 1880er Jahren verwendet wurden. Eine Analyse von Proteinen aus der Augenlinse der erlegten Tiere lieferte weitere Beweise für ihre lange Lebensdauer: In einem Fall stimmte das per chemischer Analyse geschätzte Alter eines Individuums von 133 Jahren eng mit dem 120 Jahre alten Walfangartefakt aus dem Speck überein. Andere Wal-Exemplare wurden auf über 150 Jahre und ein Wal sogar auf 211 Jahre geschätzt. Dies war ein Jahrhundert älter als die dokumentierten Alter von Finn- und Blauwalen und wäre ohne die bestätigenden archäologischen Beweise wahrscheinlich als Laborfehler angesehen worden.
Auch die nahen Verwandten der arktischen Glattwale, die im Südatlantik und Südpazifik lebenden Südkaper (Südlicher Glattwal, Eubalaena australis) erreichen Altersspannen von 130 oder sogar bis zu 150 Jahren.
Altersbestimmung bei Walen – Zähne, Ohrschmalz und Beobachtungen
Solche Wal-Methusalems sind allerdings selten: Schließlich müssen100 oder 150 Jahre alte Exemplare Jahrzehnte des intensiven industriellen Walfangs überlebt haben. Glattwale sind seit 1949 streng geschützt, einige Bestände sind seitdem wieder sichtbar angewachsen. Durch die moderne Walforschung an lebenden Walen wurden einige Tiere seit über etwa 40 Jahren immer wieder gesichtet – Glattwale lassen sich an ihren Hornschwielen-Kappen (Caps, Callosities) individuell identifizieren.

Die direkte Altersbestimmung ist allerdings meist nur an toten Walen möglich:
Bei Zahnwalen wie Orcas oder Pottwalen lassen sich Altersringen an Zähnen ablesen. Dafür muss der Zahn mikroskopisch dünn geschnitten werden, an den dünnen Scheiben lassen sich dann die Ringe zählen wie Jahresringe eines Baums. In höherem Alter wird es allerdings schwieriger erkennbar.
Auch Bartenwale haben Jahresringe: Allerdings als fester Pflock aus im Ohr abgelagerten Ohrschmalzes (Earplug) . Auch da wird es bei älteren Exemplaren schwierig, weil sich die Linien dann nicht mehr regelmäßig jährlich ablagern.
Sowohl die Zahn- als auch die Ohrpflock-Analyse lassen sich nur bei toten Walen durchführen, die Beobachtungen von Individuen hingegen sind nicht-letal.
Eine exakte Altersbestimmung wird nur möglich, wenn ein Kalb seit seiner Geburt bekannt ist – bei gut erforschten Beständen wie Atlantischen Nordkapern und einigen Nordpazifischen Orca-Familien ist das nun häufiger der Fall.
Weitere wichtige Hinweise gibt die geschätzte Rate, mit der markierte Individuen aus einer beobachteten Population verschwinden. Daraus können Walforscher eine sogenannte „Überlebenskurve“ erstellen, die die altersspezifische Wahrscheinlichkeit des Verschwindens beschreibt: „Anhand der angepassten Kurven können wir den Anteil einer Population schätzen, der ein bestimmtes Alter und eine bestimmte potenzielle Lebenserwartung erreicht. NARW [North Atlantic Right Whales] und SRW (Southern Right Whales] sind phylogenetisch sehr eng verwandt und haben im Wesentlichen identische Lebensgeschichten. Ihre derzeit angenommene maximale Lebensspanne liegt bei beiden bei etwa 70 bis 75 Jahren (12). Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die mittlere Lebensspanne von SRW etwa 74 Jahre beträgt und mehr als 10 % älter als 130 Jahre werden, während NARW nur ein kurzes Leben führen, mit einer mittleren Lebensspanne von nur 22 Jahren und nur einem kleinen Anteil, der älter als 45 Jahre wird.“
Nordkaper sterben jung – viel zu jung
Während Südkaper durchschnittlich ein Alter von um 74 Jahren erreichen, und so einige von ihnen 130, kommen die eng verwandten und auch ökologisch sehr ähnlichen Nordkaper hingegen nur auf eine mittlere Lebenserwartung von 22 Jahren, ein kleiner Teil wird zumindest 45. Entsprechend der geringeren Lebenserwartung bringen Nordkaper-Mütter auch wesentlich weniger Kälber zur Welt, als ihre südlichen Verwandten.
Ihre kurze Lebensdauer ist das Ergebnis der längst gut dokumentierten anthropogenen und ökologischen Faktoren, die das Sterberisiko über alle Altersklassen hinweg erhöhen – sie sterben meist durch Kollisionen mit Schiffen (Shipstrike) oder verheddern sich in Fischereileinen (Entanglement). Mit Wal-Management-Programmen konnten diese Gefahren in US-Gewässern für eine Weile verringert werden. Allerdings verschieben sich durch die Klimakrise und Meereserwärmung gerade die Lebensräume der nordatlantischen Glattwale nach Norden, weil ihre Beute nordwärts migriert – dadurch landen die Meeressäuger vermehrt in Fischerei-Geschirren vor allem der Hummerfische vor Maine und in kanadischen Schifffahrtsrouten im St. Lawrence-Strom, wie ich hier im Februar 2023 schon ausführlich beschrieben hatte.
Langlebige Arten werden spät geschlechtsreif und pflanzen sich nur langsam fort.
Normalerweise werden Glattwalweibchen mit etwa 10 Jahren geschlechtsreif, dann können sie etwa alle drei Jahre ein einzelnes Kalb gebären. Seit 2010 scheint die einjährige Tragezeit bei Nordkapern allerdings eher alle 7 bis 10 Jahre vorzukommen. Wissenschaftler nehmen an, dass diese Wale vor der betriebsamen nordamerikanischen Atlantikküste auch durch Meereslärm und Meeresverschmutzung unter Dauerstreß stehen, was unter anderem auch die Fortpflanzung noch weiter verringert. Außerdem ist ihre Jungensterblichkeit hoch, viele erreichen gar nicht das Erwachsenenalter.

So ist wenig verwunderlich, dass die ohnehin sehr kleine Nordkaper-Population weiterhin sinkt: Von einem Höchststand 2010 von 477 Walen waren 2023 noch rund 370 Tiere übrig, darunter etwa 70 Weibchen im fortpflanzungsfähigen Alter.
Seit 2017 stehen die letzten Nordkaper wegen der ungewöhnlichen Häufung von Todesfällen unter besonderer Beobachtung: NOAA Fisheries hat diese Vorkommnisse als Unusual Mortality Event (UME) eingestuft und darum sehr aufwändig analysiert wird, etwa durch mehr Autopsien.

Da die Sterberate die Geburtenrate deutlich übersteigt, ist der Fortbestand der Art akut gefährdet – sie sind vom Aussterben bedroht.
Mich macht es traurig und wütend gleichermaßen, dass die ältesten und schwersten Säugetiere der Erde trotz der Schutzanstrengungen so vieler Menschen in einigen Jahren verschwunden sein könnten. Weil einige Hummerfischer auf ihre Arbeitsplatzsicherheit pochen und Schiffseigner das Drosseln der Geschwindigkeit in einigen Arealen aus Rücksicht auf die Wale empört zurückweisen.
Unter der Trump-Regierung ist außerdem zu erwarten, dass Schutzbestimmungen zurückgefahren werden.
Mit einem Drohnen-Projekt wird jetzt zumindest der Gesundheits- und Ernährungszustand der Nordkaper regelmäßig überwacht: Auf dem Luftbild
Mehr Info über die Biologie der Nordkaper hatte ich hier zusammengetragen, auch die NOAA-Seite ist sehr gut.
Die aktuelle Publikation ist open access:
Greg A. Breed , Els Vermeulen, and Peter Corkeron: “Extreme longevity may be the rule not the exception in Balaenid whales”
Science Advances; Vol. 10; No. 51
DOI: 10.1126/sciadv.adq3086
PS: Nein, Wale sterben NICHT an Windkraftanlagen. Auch wenn dieser Verschwörungsmythos unter Trump als Teil des bizarren Kulturkampfes sicherlich noch weiter aufgebauscht wird.
Danke für den interessanten Beitrag
@RPGNo1: Bitte : ) Bei so uralten Tieren würde ich so gern hören, was die so erlebt haben! Aber eien Kommunikation mit Glattwalen steht wohl in den Sternen
So, so, so traurig.