Riemenfisch: Seeschlange oder Erdbebenbote?
BLOG: Meertext

Ein schlangenartiger, weiß-silbrig glänzender Körper, der im Spiel der Wellen schlängelnd an der Meeresoberfläche schwappt. Auf dem Kopf eine filigrane Krone aus langen knallroten Flossenstrahlen.
Das Maul mit dem hochgezogen-eingeklappten Unterkiefer wirkt ein wenig arrogant oder eingeschnappt – als ob der Fisch über den Rest der Welt die Nase rümpft. Der Riemenfisch (Regalecus glesne) ist eine außergewöhnliche Erscheinung!
Dieser Fisch vor der südkalifornischen Küste rümpfte allerdings über nichts und niemanden sein Geruchsorgan – er war tot. Im Meeresschutzgebiet vor La Jolla, ausgerechnet vor der berühmten Touristen-Attraktion La Jolla Caves, entdeckten Kajakfahrer und Schnorchler den seltenen 12 Fuß langen Fisch. Unter ihnen die Meeresbiologin Jasmine Santana, die diese Rarität mit Flossen sofort erkannte und den Kadaver sicherte. So groß und schwer war der verstorbene Meeresbewohner, dass dafür 15 Menschen anpacken mussten.
Sein wissenschaftlicher Wert ist immens, schließlich wurden seit 1901 an der sehr langen kalifornischen Kalifornien nur 20 Exemplare angespült. Darum ist der Fisch auch sofort ins Scripps Institut gebracht worden, wo Tiefkühl-Kapazitäten und alles für seine wissenschaftliche Untersuchung bereit stehen. Inklusiver neugieriger Fisch-Experten, die aus dem toten Fisch nun jede Menge Daten gewinnen werden.
Riemenfische leben meist in den Tiefen der Ozeane, nur selten kommen sie an die Oberfläche oder in Strandnähe. Kein Wunder, dass die bis zu 8 Meter langen Knochenfische die Quelle manch historischen Seeschlangenberichts sind.
Der rot-gekrönte König der Tiefsee
Nur wenige Menschen haben einen lebenden Riemenfisch (Regalecus glesne) gesehen, er ist ein scheuer Bewohner der Hochsee und taucht gern in die Tiefen ab. Fast alle Berichte über Riemenfische stammen von gestrandeten oder gefischten Exemplaren.
Die zahnlosen und rotäugigen langen Fische leben meist in 200 bis 1000 Metern Tiefe, der Twilight-Zone (Mesopelagial), dort filtrieren sie mit ihren Kiemenreusen kleine Garnelen und andere Krebse sowie kleine Fische, Quallen und Kalmare aus dem Ozean – der größte Knochenfisch der Welt ernährt sich von Plankton. Ohne Schwimmblase bewegen sie sich mit undulierenden Bewegungen des Rückenflossensaums durch die Tiefen, dabei stehen sie – so haben Filmaufnahmen gezeigt – oft aufrecht in der Wassersäule. Diese Aufahmen aus seinem natürlichen Lebensraum sind noch recht neu und eine Sensation.
2013 war erstmals das Video eines lebenden Riemenfisches veröffentlicht worden: Im endlosen blauen Ozean erscheint zunächst ein diffuses weissliches Flimmern – der Riemenfisch in der Frontalaufnahme. Die tentakelähnlichen Bewegungen über dem Kopf sind die Flossenstrahlen der „Krone“, unter dem Kopf wird der undulierende Flossensaum der Bauchflosse sichtbar.
Durch die ausgedehnten Videoüberwachungen der Gas- und Ölindustrie (z. B. auf ROVs) werden immer mehr geheimnisvolle Tiere der Meerestiefen erfasst. Wissenschaftliche Projekte hätten dafür niemals ausreichende finanzielle Ressourcen, darum gibt es Kooperationen mit Wissenschaftlern, um das wertvolle Filmmaterial wissenschaftlich ausgewertet werden. Das SERPENT-Projekt (Scientific and Environmental ROV Partnership using Existing Industrial Technology) ist eine solche Kooperation und hat jetzt die Veröffentlichung der spektakulären Aufnahmen ermöglicht.
Dass ausgerechnet ein Projekt namens „SERPENT“ diese Aufnahmen der „Seeschlange“ ermöglicht hat, ist eine amüsante Fußnote der Meeresbiologie.
Der Grund für diese für einen Fisch ungewöhliche Körperhaltung könnte eine optische Tarnung sein, denn Regalecus ist wehrlos und nicht schnell. Damit wäre der silbrig-schlängelnde Koloß eine leichte Beute für alle größeren Jäger des Meeres.
Seine Größe, die silbrig-rote Pracht, das Krönchen und der scheinbar adlige Gesichtsausdruck haben ihm den Beinamen Heringskönig eingebracht (den er im Deutschen allerdings mit dem Petersfisch Zeus faber teilt). Im Englischen heisst er Oarfisch und wird manchmal auch Fish of Doom tituliert – Fisch des Untergangs tituliert. Daran ist die Legende von Namazu schuld.
Quellen:
https://deepseanews.com/2013/06/first-video-of-an-oarfish-in-the-wild/
M. C. Benfield, S. Cook, S. Sharuga and M. M. Valentine Five in situ observations of live oarfish Regalecus glesne (Regalecidae) by remotely operated vehicles in the oceanic waters of the northern Gulf of Mexico Journal of Fish Biology. Article first published online: 5 JUN 2013 | DOI: 10.1111/jfb.12144
Die Legende von Namazu
Die auffallenden Fische stranden selten, aber regelmäßig an den Küsten und sind dann meist ein Medienspektakel. Gerade Riemenfisch-Strandungen vor den Küsten erdbebengeplagter Regionen wie Japan und Kalifornien führen natürlich zu besonders lautem Nachdenken, ob der Meeresbewohner vielleicht doch eine Naturkatastrophe ankündigen könnte. Mittlerweile ist fast jede dieser Strandungen verknüpft mit der Geschichte von Namazu, einem großen Fisch der japanischen Mythologie, der die Menschen vor Erdbeben warnen soll.
Da das Inselreich Japan durch seine geographische Lage auf dem pazifischen Feuerring oft von Erdbeben geplagt war und ist, spielen Tiere als Verursacher und Propheten für Erdbeben eine große Rolle in der japanischen Folklore.
Japanische Holzschnitt-Künstler haben Namazu seit dem 18. Jahrhundert als übergroßen Wels (Ōnamazu: japanisch 大鯰 ‚Riesenwels‘; engl. Catfish) abgebildet.

Namazu ist eines der mythologischen Yo-kai, Wesen, die für Unglück und Katastrophen stehen. Der Legende nach kann nur Kashima, der Gott des Donners und des Schwertes, den bösartigen Riesenfisch bändigen. Sein Hauptschrein ist der Kashima-jingū in der Stadt Kashima, wo er den bösen Namazu eingeschlossen haben soll. Allerdings könnte es sich laut Wikipedia bei dem am Schrein verehrten Kashima no ōkami auch ursprünglich um eine separate Lokalgottheit handeln.
Wenn der Gott unachtsam oder müde ist, nutzt der fiese Riesenfisch den Moment zum Schwanzwackeln und lässt damit in der Menschenwelt die Erde beben.
Kündigen Riemenfische Erdbeben an?
2011 waren gleich ein Dutzend Riemenfische an Japans Küsten aufgetaucht (LiveScience schreibt sogar von 20), direkt vor dem großen Seebeben, das zu dem verheerenden Tsunami und letztendlich auch zur Fukushima-Katastrophe führte. So kam es schnell zu medialen Gerüchten über einen möglichen Zusammenhang.
Als 2013, 2014 und 2015 die seltenen Riemenfische auch an der kalifornischen Küste strandeten, gruben einige US-amerikanische Medien die japanische Riemenfisch-Erdbeben-Story aus – schließlich ist Kalifornien mit seinem tektonisch aktiven St. Andreas-Graben auch stets erdbebengefährdet.
Findige Zeitgenossen suchten wie bei jedem großen Ereignis nach Zusammenhängen, seitdem ist es um die Reputation des königlichen Fisches geschehen. Vom Fischkönig ist er nun zum Überbringer schlechter Nachrichten aus dem Reich des japanischen Meeresgottes degradiert worden.
An dieser Stelle merkt Craig McClain vom DeepSeaNews-Blog an, dass nicht alle für 2010 aufgeführten Regalecus-Exemplare gestrandet seien, sondern ein Teil davon Beifang in Fischerei-Netzen war. Solche Details und Fakten sind für Gerüchtebastler aber normalerweise irrelevant.
Gibt es einen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und Erdbeben?
Zuletzt haben gestrandete Riemenfische im Januar 2019 in Japan (angeblich) für Tsunami-Panik gesorgt – jedenfalls nach Aussage des britischen Skandalblatts The Sun.
Biologen haben sich auf die Suche nach den Ursachen der Strandungen gemacht: Ein denkbarer Zusammenhang zwischen Riemenfischen und Erdbeben wäre, dass sie in der Tiefsee bei tektonischen Aktivitäten sehr frühzeitig aufsteigenden Gase oder Erschütterungen wahrnehmen könnten.
Rachel Grant und P. F. Biagi untersuchten das im Rahmen des Projekts Can frog and bird calls be used to warn of seismic activity? und hatten Hinweise für einen solchen Kontext gefunden: “Oarfish (Regalecus spp); recent sightings and proximity to tectonic plate boundaries” Eine mögliche Erklärung der scheinbaren Korrelation könnte, so Grant, auch ein Artefakt sein: Zeitlich oder geographisc passende Sichtungen und Strandungen könnten bevorzugt dolumentiert werden (March 2018; DOI: 10.13140/RG.2.2.24799.15522).
Dagegen spricht, dass die silbrigen „Seeschlangen“ auch vor tektonisch inaktiven Küsten stranden. Und falls sie für tektonische Anzeichen sensibel wären, müssten eigentlich auch andere Fischarten betroffen sein, die Sensitivität nur einer einzigen Art ist unplausibel.
Dafür scheinen viele Sichtungen und Strandungen in einem Zusammenhang mit anormal hohen Oberflächentemperaturen zu stehen. Richard Feeney und Robert Lea hatten 2018 in “California Records of the Oarfish, Regalecus russelii (Cuvier, 1816) (Actinopterygii: Regalecidae)” einen Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und Jahren mit sehr hohen Temperaturen der Meeresoberfläche – El Nino-Jahren – publiziert. Das ist wenig verwunderlich, denn Riemenfische folgen ihrer Nahrung, dem Plankton. Wenn die kleinen schwebenden Organismen in das besonders warme Oberflächenwasser wandern, folgen die Riemenfische und andere Fische ihrer bevorzugten Beute. Dass ein drei bis acht Meter langer schlangenartiger Fisch mehr Aufmerksamkeit erzeugt und auch bekommt als Hering und Makrele ist nicht weiter verwunderlich.
Anfang 2019 haben japanische Wissenschaftler diesen Volksglauben dann klar widerlegt. Yoshiaki Orihara und sein Team haben 336 Riemenfisch-Sichtungen sowie 221 schwere Erdbeben aus dem Zeitraum von 1928 bis 2011 analysiert und sind zu dem Ergebnis gekommen: Es gibt keinen statistischen Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und See- bzw. Erdbeben (Yoshiaki Orihara; Masashi Kamogawa; Yoichi Noda; Toshiyasu Nagao: „Is Japanese Folklore Concerning Deep‐Sea Fish Appearance a Real Precursor of Earthquakes?“ Bulletin of the Seismological Society of America (2019).
Allerdings werden trotz dieser wissenschaftlichen Publikation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei der nächsten Riemenfisch-Strandung in Japan, Kalifornien und anderswo wieder die folkloristische Story von Namazu, dem, Verkünder gewaltiger tektonischer Katastrophen aus der medialen Mottenkiste hervorgeholt. Ich bin gespannt, wie lange es diesmal dauert.
Quellen:
Richard Feeney und Robert Lea hatten 2018 in “California Records of the Oarfish, Regalecus russelii (Cuvier, 1816) (Actinopterygii: Regalecidae)” einen Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und Jahren mit sehr hohen Temperaturen der Meeresoberfläche – El Nino-Jahre – publiziert. December 2018; Bulletin Southern California Academy of Sciences 117(3):169-179; March 2018; Conference: European Geoscience Union 2018; DOI: 10.3160/3294.1
Yoshiaki Orihara; Masashi Kamogawa; Yoichi Noda; Toshiyasu Nagao: “Is Japanese Folklore Concerning Deep‐Sea Fish Appearance a Real Precursor of Earthquakes?” Bulletin of the Seismological Society of America (2019), https://doi.org/10.1785/0120190014
Der Riemenfisch sieht so seltsam aus, dass er auch gut in einen SciFi- oder Kaijū-Film passen würde.
@RPGN01: Das finde ich auch!