Rice-Bryde-Wale – 2021 im Golf von Mexiko entdeckt und bedroht

New Species of Baleen Whale in the Gulf of Mexico (NOAA Fisheries)
Im Golf von Mexiko leben eine ganze Reihe von Walen, darunter auch große Arten wie Bartenwale oder Pottwale. Regelmäßig führen Teams von National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und verschiedener Universitäten Surveys und Monitorings durch, um zu überprüfen, welche Wale wo sind und wie es den Beständen geht. Seit den 1990-er Jahren sind einige WissenschaftlerInnen im nord-östlichen Golf auf der Spur einer kleinen Gruppe von Walen, die sie für eine eigenständige Population hielten. Die Tiere schienen eine Sub-Population der Bryde-Wale zu sein und lebten das gesamte Jahr über im Golf. Die bis zu 15,5 Meter langen Bryde-Wale (Balaenoptera edeni) kommen vor allem in tropischen bis gemäßigten Gewässern vor, haben den typischen schlanken Körper aller Furchenwale und die kleinen parallelen wulstartigen Leisten („ridges“) auf dem Kopf. Die Anzahl und Form dieser Kämme ist eines ihrer wichtigsten Identifikationsmerkmale – wenn sie zum Atmen an die Oberfläche kommen es gut erkennbar. Ausgesprochen wird dieser Name „Brüde“ – der Name geht auf den norwegischen Walfänger und Schiffseigner Johan Bryde (1858–1925).
2008 konnten die Biologin Patricia Rosel und ihre KollegInnen zum ersten Mal eine genetische Probe eines dieser Tiere sammeln. Das Genom unterschied sich markant von denen anderer Bartenwale! Ein erster Hinweis, dass diese kleine Gruppe eine neue Art sein könnte. Für die wissenschaftliche Beschreibung einer neuen Art braucht es aber unbedingt die morphologischen Daten, also die Beschreibung der Körpermerkmale, sowohl des unversehrten Körpers als auch des Skeletts. Gerade am Schädel sind meist die wichtigsten art- und gattungsspezifischen Merkmale zu finden. Da heute keine Wale mehr durch Töten „gesammelt“ werden, mussten sie auf eine passende Strandung warten.
Gestrandeter Wal ermöglicht Artbeschreibung
Im Januar 2019 strandete einer dieser ungewöhnlichen Meeressäuger an der Küste vor dem Everglades National Park an der Südspitze Floridas. Die Bedeutung dieser Totstrandung war bekannt, schließlich hatte man danach schon Ausschau gehalten – darum wurde der tote Wal sehr sorgfältig vermessen. Die Position der Rückenflosse (Finne) und die Kopfform sowie die Kämme auf der Kopfoberseite und die Färbung sind artspezifisch und mussten daher gut dokumentiert werden.
Nach der Nekropsie durch ein NOAA-Team wurde das Walskelett eingegraben. Einige Monate später grub ein Team des Smithsonian National Museum of Natural History wieder aus und reinigte es, das saubere Skelett wurde dann in die Sammlung des Museums in Washington D. C. transportiert (um Mißverständnisse zu vermeiden – auch ein „sauberes“ Walskelett ist nur bedingt „sauber“. Den Geruch werden die Knochen nie los, das Fett dringt zu tief ein.) Dort hatten Patricia Rosel und ihre KollegInnen die Möglichkeit, noch einmal einen genaueren Blick auf den Wal zu werfen und ganz detailliert die anatomischen Unterschiede von diesem Tier zu anderen Spezies von Bartenwalen zu analysieren. Ihr Ergebnis: Es IST eine neue Art, allerdings aus dem Bryde-Wal-Komplex: er heißt darum heute Rice-Bryde-Wal. Patricia Rosel und ein Forschungsteam hatten 2021 in Marine Mammal Science die Ergebnisse der vollständigen morphologischen Erfassung des Skeletts und vor allem des Schädels publiziert. Dieser Schädel hatte einige artspezifische Merkmale, die ihn klar von Bryde-Walen, aber auch von allen anderen bekannten Furchenwalen unterscheidet.
Dieses Kladogramm (“Stammbaum”) zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse:

Dieser neue Wal ist nach dem Wal-Experten Dale Rice benannt worden, dem als erstem in den 1960-er Jahren diese besondere Gruppe von Walen im Golf von Mexiko aufgefallen war. Zunächst wurde diese Gruppe als Sub-Population der Bryde-Wale betrachtet, denen sie am meisten ähneln. Seit den 1990-er Jahren haben andere Meeresbiologen und Wal-Experten dann nach und nach immer mehr Daten zusammengetragen, inklusive erster Biopsie-Proben. Aber erst der Totfund ermöglichte die vollständige Beschreibung und konnte die Vermutung einer neuen Art auch bestätigen: „A new species of baleen whale (Balaenoptera) from the Gulf of Mexico, with a review of its geographic distribution“ – Patricia E. Rosel, Lynsey A. Wilcox, Tadasu K. Yamada, Keith D. Mullin.
Fakten zum Rice-Wal (Balaenoptera ricei):
- sie können bis zu 30 Tonnen schwer werden und bis zu etwa 12 Meter lang
- auf der Kopfoberseite tragen sie drei parallele Kämme (s. Bild)
- ihre Lebenserwartung dürfte bei ca 60 Jahren liegen
- sie sind bisher nur im Golf von Mexiko im Südosten der Vereinigten Staaten gesichtet worden
- die größten Gefahren sind auch für diese Wale Schiffskollisionen, Unterwasserlärm und das Verheddern in Fischereigeschirr.
Taxonomischer und Schutz-Status
Taxonomische Arbeit ist immer noch langwierig, denn für die wissenschaftliche Beschreibung braucht es ein totes Exemplar, das in einer wissenschaftlichen Sammlung als Holotypus hinterlegt wird – sozusagen ein taxonomischer Urmeter. Von diesen taxonomischen Anforderungen sind bisher nur extrem wenige Ausnahmen gemacht worden – wie kürzlich bei der blobartigen Tiefsee-Rippenqualle. Genau solche Funktionen, nämlich das Aufbewahren von Originalen, ist bis heute eine der wesentlichen Funktionen von Museen – wenn wir Arten kennen und schützen wollen, brauchen wir diese wissenschaftlichen Sammlungen inklusive der Spezialisten unbedingt, sie bewahren unser natürliches und kulturelles Erbe.
Die schlechte Nachricht ist, dass dieser Walart nur im Golf von Mexico vorkommt und es wohl nur diesen extrem kleinen Bestand von nach Schätzungen 51 Tieren gibt. Außerdem leben die Tiere offenbar in einem eng begrenzten Habitat vor der US-Küste, wie der NOAA Fisheries Survey im Mai 2023 ergab. Damit sind diese Meeressäuger bereits jetzt bei ihrer Entdeckung vom Aussterben bedroht.
Bislang wurden diese Tiere als Sub-Spezies des Bryde-Wals geführt und waren unter diesem Namen geschützt unter dem Marine Mammals Protection Act – als endangered species (stark gefährdet).
Zum Schutz der Rice-Bryde-Wale gibt es dort eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Schiffe und einen Mindestabstand von 500 Metern zu dieser Art. Ein Bundesrichter hatte den National Marine Fisheries Service im vergangenen Jahr angewiesen, seine frühere Bewertung zu überarbeiten, da die Risiken für die Bryde-Rice-Wale durch Ölverschmutzungen und Schiffskollisionen noch nicht angemessen berücksichtigt seien. Dabei hat sich die Meeresfauna bis heute noch nicht von dem Oil Spill der explodierten und gesunkenen Deepwater Horizon-Bohrinsel 2010 erholt, damals waren auch vermutlich 17% der Bryde-Rice-Wal-Population verendet (Ich hatte 2010 auf Meertext und 2020 für die Landeszentrale für politische Bildung ein Heft dazu geschrieben).
Wenig überraschend kritisieren Fossil-Lobby-Gruppen wie das American Petroleum Institute (API) und die National Ocean Industries Association (NOIA) die Feststellung, dass Öl- und Gasaktivitäten die Walpopulation bedrohen, während Umwelt-Verbände und meereswissenschaftler sie als bei Weitem nicht ausreichend halten. Unter den derzeitigen Vorgaben hatte NOAA berechnet, dass in den nächsten 45 Jahren wahrscheinlich neun Wale getötet und drei weitere schwer verletzt würden. Da so große Bartenwale sehr alt werden und dementsprechend nur wenig Nachwuchs haben, wäre das Aussterben der erst vor so kurzer Zeit neu entdeckten Art bereits besiegelt.
Der Bundesrichter hatte zu Gunsten der Wale eine Überarbeitung der Vorschriften gefordert. Mit dem reaktionären Backlash in den USA durch die Trump-Junta und deren offene Ablehnung von Wissenschaft, Natur- und Klimaschutz und klare Unterstützung der totalen Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie der fossilen Energieträger, sehe ich für den starken Walschutz der USA unter dem Marine Mammal Protection Act zappenduster. Allein die Massenentlassungen des Regimes bei NOAA und anderen Behörden für Natur-, Meeres- und Klimaschutz haben verheerende Auswirkungen – ohne MitarbeiterInnen werden Schutzkonzepte nicht mehr überwacht und durchgesetzt und ohne Forschung gibt es kein Bestandsmanagement. Und ohne Walschutz sind die Walbestände gerade in den Küstengewässern praktisch vogelfrei – selbst ohne direkte Bejagung sterben sie in Fischereigeschirr oder durch Schiffskollisionen.
Quellen
- Pressemeldung der NOAA Fisheries
- Patricia E. Rosel, Lynsey A. Wilcox, Tadasu K. Yamada, Keith D. Mullin: „A new species of baleen whale (Balaenoptera) from the Gulf of Mexico, with a review of its geographic distribution“; 10 January 2021; https://doi.org/10.1111/mms.12776