Ostsee: Meeresleben auf giftiger Weltkriegs-Munition 

Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entmilitarisiert wurde, wurden große Mengen der übrig gebliebenen Munition in der Ostsee versenkt.
Eine aktuelle Studie eines Teams unter Leitung der Senckenberg-Meeresbiologen Andrey Vedenin und Ingrid Kröncke in Kooperation mit dem Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (Geomar, Kiel) sowie dem Thünen-Institut für Seefischerei (Bremerhaven) hat jetzt ergeben, dass einige dieser versenkten Waffen, obwohl sie giftige Verbindungen freisetzen, mittlerweile mehr Meeresorganismen beherbergen als die Sedimente in ihrer Umgebung.
Es ist nicht so paradox und schon gar nicht so harmlos, wie diese Meldung auf den ersten Blick scheint. Dafür braucht es allerdings Kontext-Wissen.

Das toxische Erbe des Kriegs

Nach Angaben des Bundesumweltamtes (Stand 2023) lagern in der deutschen Nord- und Ostsee Altlasten von ca. 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Manche gerieten im Zweiten Weltkrieg durch Militäroperationen ins Wasser, andere wurden danach durch Verklappung versenkt. Dies gefährde, so das Umweltbundesamt, Schiffsverkehr, Fischerei, Tourismus, Menschen an Stränden sowie die Meeresumwelt und ist zusätzlich eine Gefahr für Offshore-Installationen und Seekabel-Verlegungen (Anmerkung Meertext: Die Mengenangaben basieren auf Schätzungen, Funden und Verklappungsplänen, darum können sie in verschiedenen Arbeiten etwas abweichen).

Allein in der deutschen Ostsee sind schätzungsweise rund 300.000 Tonnen Altmunition, deren Metallhüllen durch Korrosion eine zunehmende Gesundheitsgefahr werden. GEOMAR und andere Forschungsinstitutionen messen den Schadstoffgehalt des Seewassers. Zurzeit ist die toxikologische Belastung etwa des Trinkwassers noch unterhalb der als unbedenklich festgelegten Grenzen, in einigen Gebieten erreicht sie aber bereits kritische Grenzen, so der Meereschemiker Aaron Beck, Geochemiker am GEOMAR: „Die Altmunition enthält giftige Substanzen wie TNT (2,4,6-Trinitrotoluol), RDX (1,3,5-Trinitro-1,3,5-triazinan) und DNB (1,3-Dinitrobenzol), die ins Meerwasser freigesetzt werden, wenn die Metallhüllen durchrosten“ – „Diese Stoffe können die marine Umwelt und die Gesundheit von Lebewesen gefährden, da sie toxisch und krebserregend sind.“ Die Mengen der im Wasser gelösten Chemikalien unterscheiden sich regional. Durch den zunehmenden Zerfall der im Meerwasser korrodierenden Behältnisse werden ihre Konzentrationen allerdings ansteigen, darum besteht dringender Handelsbedarf. Ansonsten würde der Prozess der Korrosion und Freisetzung wohl noch 800 Jahre dauern.
Die rot-grün-gelbe Bundesregierung hatte im Herbst 2024 ein Pilotprogramm zur Bergung und umweltgerechten Entsorgung von Munitionsaltlasten ins Leben gerufen. So konnten mit einem Budget von 100 Millionen Euro im Herbst 2024 erstmals gezielt Munitionsreste aus der Lübecker Bucht geborgen werden. In einem zweiten Schritt sollte dann eine autonome Bergungsplattform entwickelt werden, die die Altmunition Ort birgt und unschädlich macht.

Schöner wohnen auf Weltkriegsmunition?

Als im Oktober 2024 Forscher eine Munitionsdeponie im nördlichen Teil der Lübecker Bucht im Südwesten der Ostsee untersuchten, fanden sie darauf eine überraschend hohe Anzahl von Arten und Exemplaren. Mit den beiden Kamerasystemen ihres ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs, dem ROV “Käpt`n Blaubär”, filmten sie große Metallzylinder, die auf dem feinen Schlammsediment verstreut waren: Sprengköpfe von Fieseler Fi103-Marschflugkörpern, die während des Krieges vom nationalsozialistischen Deutschland eingesetzt worden waren.
Außerdem filmten sie das darauf und em angrenzenden Sandboden sitzende Meeresleben und sammelten biologische und Sedimentproben sowohl von den militärischen Trümmern als auch aus dem umgebenden Sediment.

Auf den ROV-Videos identifizierten sie acht Arten, darunter Schnecken, Seeanemonen, Würmer, Seesterne, Krabben und Fische wie Kabeljau, Schwarzgrundel und Flunder. Am häufigsten waren Polydora ciliata-Würmer und Metridium dianthus-Seeanemonen. Insgesamt zählten sie auf den Raketenreste wesentlich mehr Organismen (43.184 Individuen pro Quadratmeter) – als auf dem umgebenden Sediment (8.213 Individuen/m2).
Das war überraschend, denn eigentlich hatten sie erwartet, auf den giftigen Trümmern weniger Tiere als in der Umgebung zu finden. Allerdings, so Vedenin, war nur die Individuenzahl sehr hoch, die Artenzahl war mit 8 dafür recht gering.

Examples of the species identified from the ROV videos. Image courtesy of Vedenin et al., 2025 (CC BY 4.0).]

Gleichzeitig fand das Forschungsteam heraus, dass das Wasser rund um die Munition hochgiftige Sprengstoffverbindungen enthielt, hauptsächlich TNT und RDX. Teilweise in Konzentrationen, die bekanntermaßen für Meereslebewesen gefährlich sind.
Allerdings mieden die Tiere die Sprengstofffüllung und siedelten stattdessen auf den Metallteilen. Das dürfte daran liegen, dass die Oberflächen mit den höchsten Toxin-Konzentrationen tatsächlich zu giftig zum Besiedlen sind. Ob die Tiere die Toxine wahrnehmen und dann aktiv ausweichen oder beim Versuch, darauf zu siedeln, schnell sterben, ist nicht untersucht. Die weniger stark toxischen Metallteile hingegen sind offenbar attraktive Fundamente.

ROV “Käpt`n Blaubär” (https://www.nature.com/articles/s43247-025-02593-7/figures/2)

Die Erklärung dafür ist, dass viele Tiere einen festen Untergrund als Siedlungsfundament brauchen. Da die ursprünglich am Ostseegrund natürlich vorkommenden eiszeitlichen Steine und Felsblöcke aber durch die Ostsee-Steinfischerei weitgehend verschwunden sind, herrscht Wohnungsnot. Auch wenn die historische „Steinfischen“ für Bau- und kommerzielle Zwecke in der deutschen Ostsee 1976 verboten wurde, war bis dahin der größte Teil der natürlichen Festsubstrate verschwunden. So besiedelten viele Tiere notgedrungen ersatzweise die Munitionsreste, trotz derer Toxinlast.

Darum schlagen Wissenschaftlerinnen schon länger vor, der einheimischen Tierwelt künftig ungiftige harte Gegenstände auf dem Meeresboden anzubieten, die die ursprünglichen Steine ersetzen. Schließlich ziehen die schützenden Strukturen auch viele andere Arten an und sind etwa für Fischbrut sowie manche erwachsene Fische zum Verstecken und Fressen sehr attraktiv. So sorgt etwa ein künstliches Riff vor Nienhagen bei Rostock für wimmelndes Meeresleben.

Für die Meereswesen mit Flossen und Beinchen wäre künstliche Strukturen sicherlich gesünder, als toxische Untergründe. Im Bereich der Ostsee ist nicht untersucht, ob und welche Auswirkungen die Gifte auf Krebse, Seesterne oder Co haben. Allerdings zeigen Ergebnisse aus anderen Regionen anderer Meere, dass toxische Last zu verringerter Fruchtbarkeit, verkrüppeltem Nachwuchs und Erkrankungen führt.
In der Ostsee ist das bislang nur für Fische nachgewiesen, die weiter oben in der Nahrungskette stehen: Speisefische zeigen, je nach Region, hohe Belastungen mit auch für Menschen gesundheitsgefährdenden Stoffen. Aktuelle Studien des Thünen-Instituts wiesen erstmals TNT-Metaboliten im Urin von den Plattfischen Klieschen, Schollen und Flundern nach. Demnach kann die Analyse von Sprengstoffen in Galle oder Urin als zuverlässige und wirksame Überwachungsstrategien für Vorkommen von Sprengstoffen in der Ostsee genutzt werden, so die FischereibiologiInnen.

Andere Thünen-Studien hatten bereits 2022 gezeigt, dass das Vorhandensein verrottender Munition bei Klieschen (Limanda limanda) zu steigenden Lebertumoren führt – 25%, gegenüber den normal kommenden 5%. Der Sprengstoff TNT (Trinitrotoluol) hatte auch bei zahlreichen anderen Studien an Menschen bereits zu erheblichen Gesundheitsrisiken geführt, darunter ein Anstieg der Leberkrebsrate sowie Hepatitis sowie Anämie.

Ostseesteine und Riffe

Wie stark die Ostsee-Tierwelt von Steinen als Untergrund abhängig ist, wurde mir erst 2020 im Rahmen einer Recherche über Riffe in der Ostsee bekannt. Ich war nicht die Einzige, die das überraschte. Wie ausgedehnt solche Riffe – die in der Ostsee mit ihren ausgedehnten Sandböden meist nur aus wenigen Meter großen Steinblock-Stapeln bestehen, auf denen einige Algen wachsen, ist vor allem durch die ökologischen Kartierungen vor dem Bau des Fehmarnbelt-Tunnels herausgekommen. „Riffe sind vom Meeresboden schwach bis stark aufragende mineralische Hartsubstrate wie Felsen, Geschiebe, Steine, hauptsächlich auf Moränenrücken mit Block- und Steinbedeckung in kiesig-sandiger Umgebung“ mit „aufwachsenden Muscheln und Großalgen“, beschreibt das BfN diese festen Strukturen der deutschen Ostsee. Im Bereich des Fehmarnbelts liegen sie teilweise recht tief und damit im kühleren, salzhaltigeren Wasserkörper, der aus der Nordsee hereinschwappt. Solche „Inflows“ hängen von Wind und Temperaturen ab, sie bringen dann auch eigentlich ozeanische Arten wie Sonnensterne oder Hochseefische mit in die eigentlich eher brackige Ostsee – aber nur in tiefere Areale.

In der Nordsee gibt es auch Riffe, die bestehen allerdings aus Miesmuschel-, früher auch aus Austernbänken oder sogenannten Sandkorallen oder Wurmschiet. Das sind Röhrenwurmriffe der Ringelwürmer Sabellaria spinulosa. Die Winzlinge bauen aus Schleim und Sand Wohnröhren, die als Communities dann zu riffartigen Festsubstraten werden – darin und darauf siedeln sich dann auch andere Tiere an. Diese Riffe sind durch die Fischerei stark reduziert, die europäische Auster gilt im südlichen Bereich der Nordsee als ausgestorben und Wurmriffe sind auch verschwunden. Dafür wachsen dort mittlerweile die eingeschleppten pazifischen Austern, die sich in der erwärmten Nordsee entgegen der ursprünglichen Annahme sehr wohlfühlen und auch fortpflanzen.

Bettina Wurche in Portsmouth

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https://meertext.eu/

Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

11 Kommentare

  1. Danke für diesen Beitrag, der wieder einmal zeigt, dass von uns Menschen vor allem die Meeresoberfläche wahrgenommen wird, während der Meeresgrund von uns weder gesehen noch mitgedacht wird. Allenfalls dient der Meeresgrund der Abfallentsorgung oder er wird als Rohstoffquelle in Betracht gezogen. Das sollte sich ändern. Wir sollten dem Leben unter Wasser mehr Beachtung schenken und vielleicht sogar unterseeische Reservate einrichten. Auch die Lebensverhältnisse für Unterwasserbewohner liessen sich womöglich verbessern. Mit künstlichen Riffen etwa bestehend aus Materialien wie Beton, 3D-gedruckte Elementen, Schiffs- und Fahrzeugwracks oder speziell entworfenen Module wie Riffbällen. Immerhin gibt es bereits einen Wikipedia-Eintrag Künstliches Riff

    • @Martin Holzherr: Danke. Ja, was wir nicht sehen, kümmert uns meist wenig.
      Künstliche Riffe aus Schiffen, Ölriggs, … sind nicht ganz unproblematisch, weil sie oft giftige Ölreste u a Toxine enthalten.
      Im Fall des künstlichen Riffs von Nienhagen habe ich mit einigen gefrusteten Wissenschaftlern gesprochen – das Riff funktioniert. Es ist clean und zieht Fische u a Meerestiere an. Allerdings sollen Naturschutzvorschriften dafür sorgen, den jetzigen Ist-Zustand zu erhalten. Die Wiederherstellung ehemaliger Ökosysteme bzw die Aufwertung der jetzigen Sandböden durch Festsubstrate sollen dadurch untersat sein.
      Ich habe mittlerweile ähnliches auch aus dem Wattenmeerbereich gehört.
      Der Naturschutz schützt also wohl lieber einen schlechten Ist-Zustand, anstatt einen früheren besseren Zustand durch Renaturierung wiederherzustellen. Bin sehr gespannt, ob die derzeitige Dekade der Natur-Restaurierung da einen anderen Kurs ermöglichen wird. Habe dazu allerdings noch nichts gehört. Nur halbherzige Rewilding-Projekte, die auf Freiwilligkeit und UNterfinanierung im Beliebigen vertröpfen

    • @Sascha: Aber sowas von! Und von den allmählich stärker leckenden Wracks ist da noch gar nicht die Rede. Von denen liegen viele küstennah und bedrohen neben Mensch und Natur ja auch den ganzen Tourismus. In Deutschland passiert immerhin überhaupt noch etwas, in Polen und weiter östlcih ist das Bewusstsein dafür noch geringer : (

  2. Ich habe meinen Herbsturlaub 2020 in Börgerende-Rethwisch verbracht. Der Ort liegt nicht weit weg von Nienhagen. Bei einer Radtour ist uns die Forschungsplattform des Riffs aufgefallen. Wir konnten uns zuerst keinen Reim darauf machen, was dieses Gebäude dort draußen bedeuten soll. Bei einer nachfolgenden Recherche haben wir dann herausgefunden, dass an der Küste ein künstliches Riff angelegt wurde. Ein wirklich spannendes Thema.

    Danke für die Gedächtnisauffrischung. 🙂

    https://de.wikipedia.org/wiki/Riff_Nienhagen

  3. Vielen Dank für diesen Beitrag, Frau Wurche.

    Als Laie auf diesem Gebiet kam mir sofort die Frage in den Sinn, ob Erfahrungswerte darüber vorliegen, ob die Sprengstoffe in dieser Umgebung irgendeinem Abbauprozess unterliegen, und wenn ja, welche (mehr oder wenigen) giftigen Abbauprodukte dabei entstehen und, wenn es überhaupt Abbauprozesse gibt, wie lange diese dann dauern? Gibt es dazu vielleicht gar eine Forschung?

    Vielen Dank im Voraus für Ihre Rückmeldung.

  4. Auf energetischen Materialien findet sich kaum ein Halt. Eingedenk der Oberflächenstrucktur, Biofilmen und intrinsisch geringer mechanischer Festigkeit. Halbwegs mechanisch feste WK2 Sprengstoffe sind eine ganz besondere Ausnahme.

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