Hvaldimir – Marine-Wal oder Kinderfreund?

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Der Beluga-Wal Hvaldimir, der im Mai 2019 mit einem Brustharnisch aus russischer Produktion bekleidet vor der norwegischen Küste auftauchte und dort Anschluß suchte, verursachte einen riesigen Medienrummel.
Er hatte sich vor Hammerfest an Fischer „angelehnt“, und war offenbar dringend auf der Suche nach menschlicher Gesellschaft. Die Fischer und der Fischereiinspektor Jörgen Wiig hatten ihn von dem Brustgeschirr befreit und er war ihnen dann in den Hafen von Hammerfest gefolgt. Ich hatte dazu einige der beteiligten Norweger interviewt, meine Infos waren also aus erster Hand.
Von russischer Seite kam zu diesem Wal allerdings nie ein offizielles Statement.
Meine Hvaldimir-Artikel findet ihr hier (auf dem alten Meertext-Scienceblog) und hier (neuer Blog, seit 2023).
Hvaldimir ist mittlerweile leider verstorben, ist aber weiterhin gute Click-Bait. Jetzt hat die BBC einen Film herausgebracht, in dem die Biologin und Wal-Expertin Olga V. Shpak erzählt, Hvaldimir sei doch ein Marinewal gewesen. Der Film ist außerhalb des UK leider nicht aufrufbar, aber in diesem BBC-Artikel steht mehr dazu. Olga V. Shpak ist Ukrainerin und arbeitete mehrere Jahrzehnte im russischen Severtsov Institute of Ecology and Evolution of Russian Academy of Sciences, wie sie in ihrem ResearchGate-Profil schreibt. 2022 sei sie nach dem russischen Überfall der Ukraine aus Rußland ausgereist und sei seitdem Independent scientist.

Kurz bevor erste Berichte über Hvaldimir auftauchten, hätten Veterinäre und Tiertrainer in Murmansk sich darüber ausgetauscht, so Shpak, dass sie ihren Weißwal “Andruha” vermissen würden. Er sei 2013 im Ochotskischen Meer vor Sibirien gefangen worden und über ein St. Petersburger Delfinarium nach Murmansk gelangt.
Jetzt sagt eine Expertin für diese Art, sie glaube, dass der Wal tatsächlich dem Militär gehörte und von einem Marinestützpunkt am Polarkreis entkommen sei. Ihre Quellen möchte sie nicht offenlegen, um sie und sich zu schützen, aber „Durch die Kette von Tierärzten und Trainern kam die Nachricht zurück, dass ihnen ein Beluga namens Andruha fehlte“. Die “russische Meeressäugergemeinschaft” habe ihn sofort als einen der ihnen identifizierte, als der Beluga in Norwegen auftauchte.Darum sei sie überzeugt, dass der Belugawal doch der russischen Marine entfleucht war. Er war sicherlich nicht zum Spionieren abgerichtet, sondern vielmehr zur Bewachung der Marinebasis in Murmansk. Allerdings war er wohl ein Querulant: „Was ich von den Leuten im kommerziellen Delfinarium gehört habe, die ihn früher hatten, war, dass Andruha klug sei und daher eine gute Wahl für die Ausbildung sei. Aber gleichzeitig war er so etwas wie ein Hooligan – ein aktiver Beluga – und so waren sie nicht überrascht, dass er es aufgab, dem Boot zu folgen (und ihm zu folgen) und dorthin ging, wohin er wollte.“

Statt selbst Fische zu fangen oder weit fort in die Freiheit zu schwimmen, spielte der querulante Meeressäuger in Norwegen dann lieber mit Menschen und apportierte ein ins Wasser gefallenes Mobiltelefon. „Es war sehr offensichtlich, dass dieser spezielle Wal darauf konditioniert wurde, seine Nase auf alles zu richten, was wie ein Ziel aussah“, sagt Eve Jourdain, eine Forscherin vom norwegischen Orca Survey „Aber wir haben keine Ahnung, in was für einer Einrichtung er war, also wissen wir nicht, wofür er ausgebildet wurde.“
“Satellitenbilder aus der Nähe des russischen Marinestützpunkts in Murmansk zeigen, was Hvaldimir/Andruhas alte Heimat gewesen sein könnte.” – darauf sind in den Gehegen weiße Umrisse sichtbar, die tatsächlich sehr nach Weißwalen aussehen. „Die Lage der Belugawale in unmittelbarer Nähe der U-Boote und Überwasserschiffe könnte uns verraten, dass sie tatsächlich Teil eines Schutzsystems sind“, zitiert die BBC Thomas Nilsen von der norwegischen Online-Zeitung The Barents Observer.

Russland hat sich nie offiziell zu Hvaldimir/Semjon/Andruha geäußert oder dazu, dass Andruha von der Armee ausgebildet worden sei. Im Jahr 2019 sagte ein russischer Reserveoberst, Viktor Baranets: „Wenn wir dieses Tier zum Spionieren nutzen würden, glauben Sie wirklich, dass wir eine Mobiltelefonnummer mit der Nachricht ‚Bitte rufen Sie diese Nummer an‘ anhängen würden?“. Aber die Ausbildung von Meeressäugern wie Großen Tümmlern und Weißwalen hat eine lange Tradition in der russischen Marine

Hvaldimir, der Kinderfreund

Das norwegische Fiskeribladet schrieb 2019 in dem Beitrag “«Hvaldimir» heter trolig «Semjon», og er en terapihval. Se video når den leker med barn”, dass der ehemalige Fiskeribladet-Journalist und Ex-Konsul von Murmansk Morten Vikeby den Wal wieder erkannt habe: Es sei wohl Semjon, ein “Therapie-Wal” aus Murmansk. Morten Vikeby hat dort einen Weißwal kennengelernt, der auch solch ein Brustgeschirr trug. So hätte der Beluga ein kleines Boot mit Kindern gezogen.
Das Fiskeribladet hatte 2008 einen Film dazu gedreht und auch darüber geschrieben. Den Artikel habe ich nicht gefunden, aber das Video von 2008 ist im Fiskeribladet-Beitrag verlinkt und auf Youtube zugänglich:

Der zahme Wal sei von Robben verletzt und von Russen gesundgepflegt worden sein. Danach sei er in den Freizeitpark gekommen. Von russischer Seit gab es dafür weder Bestätigung noch Dementi.

Diese Erklärung hörte sich so plausibel an, dass sie seitdem Lesart war. Auch auf Meertext.
Dennoch bezeichneten andere Medien den Beluga immer wieder als Marinewal, wie etwa 2022 H I Sutton. H I Sutton schreibt auf seinem Blog viel über U-Boote, ich war auf Twitter auf ihn gestoßen. Wie sachkundig er ist, kann ich nicht einschätzen. Aber insgesamt kommt mir sein Geschäftsmodell aus martialischen Insider-Erläuterungen mitunter ein wenig zu sensationsheischend vor. Sein Beitrag “Killer Dolphins: World Survey Of Navy Marine Mammal Programs” über Marine-Wale war nicht sehr überzeugend. Er hatte auf Luftaufnahmen des Hafens von Sewastopol angeblich Delphin-Gehege gesehen – ich konnte die nicht finden. Dass sich alle Medienberichte auf Suttons Bericht in den USNI News (U.S. Naval Institute) bezogen, fand ich auch nur wenig überzeugend.

Zum Weiterlesen empfehle ich die beiden Meertext-Artikel “Delphine und Robben in Diensten der Seestreitkräfte” und “Schützen russische Marine-Delphine die russische Flotte in Sewastopol?“. Ich hatte sie 2022 geschrieben, die enthalten viele Details und Backgroundwissen. Auch die anschließende Diskussionen enthalten noch Wissenswertes.

Irgendwie habe ich bei Diskussionen um Meeressäuger als Marine-Wunderwaffen immer schnell den Eindruck, ich sei in einer der schlechteren Seaquest-Folgen gelandet. Das war diese 90-er Jahre-Serie mit dem Anspruch “Star Trek unter Wasser” zu sein. Die allerdings ziemlich schnell im Meer der Peinlichkeiten sank – der Produzent Spielberg und der Hauptdarsteller Roy Scheider gingen darum nach der 2. Staffel von Bord. Nur der Delphin “Darwin” hielt weiter die Stellung, als Animatronic konnte er wohl nicht kündigen. Sabine und Patrick haben “SeaQuest” mit ihrem Podcast “DarwinPod” neulich wieder aus der Versenkung geholt – es lohnt sich unbedingt, mal hineinzuhören! Sie sprechen einzelne Folgen durch und im unterhaltsamen Gespräch mit ihren Gästen (ich war auch schon dabei) ist manches Spannendes zu erfahren. “SeaQuest” enthält herrlich viele SF-Anspielungen, die mir gar nicht bewusst waren. Das gefiel mir so gut, dass ich auf der letzten FedCon einen “SeaQuest”-Vortrag hielt, bei dem der Saal so voll wurde, dass viele Leute auf dem grell gemusterten Teppichboden Platz nahmen. Da ich nicht fertig wurde, will ich 2025 einen 2. Teil anschließen.

Bettina Wurche in Portsmouth

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Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

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