Der mysteriöse Menacho-Clan – Orcas snacken Dusky-Delphin

Gerade gehen chilenische Orcas (Humbold-Orcas, Orcinus orca) durch die Medien – dramatische Bilder und eine neue Studie belegen, wie ein Familien-Pod Dusky-Delphine und andere Wale sowie Robben jagen und fressen (Ana M. García-Cegarra: “New records of odontocete and mysticete predation by orcas in the Humboldt current system, South Pacific Ocean“). Die Forscher konnten den Menacho-Orca-Clan direkt bei der Jagd beobachten, die Matriarchin (das anführende Weibchen) warf den kleineren Delphin in die Luft. Dabei wird die Beute traumatisiert und desorientiert und kann nicht mehr davonflitzen. Anschließend teilten sich die schwarz-weißen Top-Prädatoren ihre Beute, für jeden gab es ein kleines Häppchen. Da diese Orca-Population entlang der extrem langen chilenischen Küste noch wenig erforscht ist, waren die Jagd und das Food-Sharing eine aufregende Erstbeobachtung. Das Teilen der Beute ist für viele Orca-Gruppen typisch, es stärkt die Familienbande und das kooperative Jagdverhalten auch größerer Gruppen.

Orca-Matriarchin Dakota erbeutet einen Dusky-Delphin

Vor der chilenischen Küste fließt der kalte Humboldtstrom. Dort steigt kaltes, sauerstoffreiches Tiefenwasser aus der Tiefe des Pazifiks auf und vermischt sich mit dem Nährstoffeintrag der nahen Küste. Damit gedeiht in diesem Meeresgebiet extrem viel pflanzliches und tierisches Plankton wie Krill, sowie große Mengen Sardellen. Der Nahrungsreichtum zieht dann größere Fische und Tintenfische an, wie den großen Humboldt-Kalmar, auch Seevögel, Robben und Wale fressen sich dort satt. Zwei besonders lebensreiche Hot Spots der marinen Biodiversität im Humboldtstrom-System sind zwei Auftriebsgebiete um Inselgruppen vor Nord-Chile. Wenig überraschend gibt es dort besonders viele Orca-Sichtungen.
Für die aktuelle Studie hat ein Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Dr. Ana García Cegarra von der Universidad de Antofagasta insgesamt 28 Sichtungen ausgewertet: 15 rund um die Inseln Chañaral, Choros und Damas im Humboldt-Pinguin-Nationalreservat von 2010 bis 2023 und 13 auf der Halbinsel Mejillones von 2022 und 2023. Gleichzeitig dokumentierten sie erstmals erfolgreiche Jagden von Orcas auf Dusky-Delphine in diesem Gebiet und beobachteten zweimal die gleiche Orca-Gruppe – den Menacho-Clan – beim gemeinsamen Verspeisen von Delfinfleisch, alle Gruppenmitglieder bekamen ein Häppchen. Außerdem entdeckten sie dreimal Orca-Zahnspuren auf den Rückenflossen von Finnwalen (Balaenoptera physalus). Diese nordchilenischen Schwertwale fressen also Meeressäuger und offenbar zunehmend in Küstennähe.

Wal-Verwandtschaften – Ökomorphotypen von Orcas

Orcas sind die unangefochtenen Top-Prädatoren und damit Schlüsselarten (Keystone species) von Ökosystemen. Allerdings sind einzelne Bestände sehr unterschiedlich: Schwertwale befinden sich in einem Prozeß der Bildung von Unterarten – verschiedene Orca-Gruppen sehen unterschiedlich aus, haben unterschiedliche Sprachen sowie Kulturen und Jagdstrategien. Außerdem unterscheiden sie sich sogar genetisch. So gibt es heute verschiedene Ökomorphotypen (oder Ökotypen), die miteinander nicht mehr kommunizieren und sich nicht paaren, sondern stattdessen aus dem Weg schwimmen.

In der südlichen Hemisphäre rund um die antarktischen Gewässer wurden bisher fünf verschiedene Ökotypen gemeldet: Typ A, B1 und B2, C und D. Typ A ist spezialisiert auf Meeressäuger wie antarktische Zwergwale, Balaenoptera bonaerensis, und südliche Seeelefanten, Mirounga leonina (Visser et al., 2008). Typ B1-Orcas fressen Weddellrobben (Leptonychotesw eddellii), während Typ B2 Pinguine und Fische erbeutet (Pitman und Durban, 2010). Typ C ist ein Fischfresser und spezialisiert auf Antarktischem Seehecht (Dissostichus mawsoni) (Pitman und Ensor, 2003; Tixier et al., 2019) und Typ D „pflückt“ Fische von Langleinen (Bruyn et al., 2012; Tixier et al., 2016).

Ein Orca “pflückt” vor Chile einen Fisch von einer Langleine
BBC‘s new Frozen Planet II series: group of four orcas works together to pen in a scared-looking Weddell seal in Antarctica. The technique they use to break up the ice floe the seal is hiding on is called “wave washing”.

Da die schnellen Schwertwale große Areale durchstreifen und ihre Beute unter Wasser fangen, ist die Erfassung ihrer Jagdstrategie und ihres Nahrungsspektrums schwierig. Außerdem sind diese Gewässer um die Antarktis und bis nach Südamerika abgelegen, meist kommen nur gelegentlich Fischerei- oder Forschungsschiffe vorbei. Nicht umsonst heißen diese hohen südlichen Breiten Screaming Sixties, Furious Fifties und Roaring Fourties, das Seegebiet ist für kleinere Boote und Freizeit-Tourismus zu abgelegen und gefährlich, außerdem sind Wale bei hohem Seegang nicht mehr zu erkennen.
Aufgrund der wenigen direkten Jagd-Beobachtungen (Higuera-Rivas et al., 2023; Ayres et al., 2024; Towner et al., 2024) sind gestrandete Tiere eine wichtige Informationsquelle: Neben exakten morphologischen Vermesssungen kann man genetische Proben nehmen, außerdem geben Mageninhalts-Analysen (Santos et al., 2005) sowie Isotopen- oder Fettsäureanalysen (Loizaga et al., 2023; Remili et al., 2023) Aufschluß über das Beutespektrum (Quellenangaben s. Ana M. García-Cegarra1,2: “New records of odontocete and mysticete predation by orcas in the Humboldt current system, South Pacific Ocean“).

Welcher Orca-Typ jagt vor Chile?

Wissenschaftler und Citizen Scientists zeichneten in den letzten Jahrzehnten immer wieder Bilder und Videos von Schwertwalen vor Nord-Chile auf und dokumentierten deren Gruppenzusammensetzung und den Aufenthaltsort. Diese konnten die Biologen dann systematisch erfassen und mit Photo-ID-Katalogen abgleichen: Photos der Seitenansicht zeigen die Größe und Form des Augenflecks, damit lassen sich die Ökomorphotypen identifizieren. Bilder der Rückenflossen hingegen machen Individuen unterscheidbar.
Aus all diesen Daten erstellten die chilenischen Walforschenden eine Karte der Orca-Präsenz in dem Gebiet und verfolgten deren Verhalten und Beuteauswahl. So kam es auch zu der Beobachtung, dass die Menacho-Orca-Familie um die Matriarchin Dakota Dusky-Delphine erbeutet.
Weiterhin deuten gleich sechs Beobachtungen darauf hin, dass der Menacho-Clan zu den großen Typ A-Orcas gehört. Dieser Clan aus zwei Männchen, einem Weibchen, einem Heranwachsenden und einem Kalb wurde zwischen 2016 und 2023 sechsmal vor der nordchilenischen Küste beobachtet: Zunächst hatten sie Fischereiboote für die Jagd auf Mähnenrobben (Otaria flavescens), genutzt. Außerdem erbeuteten sie Dusky Delphine (Lagenorhynchus obscurus) und Langschnäuzige Gemeine Delphine (Delphinus cf. capensis).
Aufgrund ihrer Größe, der kleinen Gruppe und der Meeressäuger-Jagd könnten sie zu Typ A gehören. Dagegen spricht allerdings, dass ihre weißen Augenflecken eigentlich zu klein für den Typ A sind und der Menacho-Clan nie vor Patagonien gesichtet wurde. Das Teilen der Nahrung ist schon bei der Seelöwenjagd von Typ A-Familien beobachtet worden, kommt aber auch bei vielen anderen Orca-Gruppen in anderen Teilen der Welt vor.

Auch wenn nun immer mehr Sichtungen vorliegen, bräuchten die Forscher um García Cegarra für die sichere Zuordnung dieser Wal-Clans Biopsie-Proben, um die genetischen Daten zu analysieren. Die gibt es aber noch nicht – die intelligenten Schwertwale halten meist zu viel Abstand zu Booten, um mit einem Biopsie-Pfeil zu beproben eine Hautprobe zu ergattern.
Darum hoffen die Biologen auf mehr Daten, um eine klare Zuordnung treffen zu können – immerhin wissen sie mittlerweile, wo die Orcas besonders gern abhängen und jagen.

Quellen

Ana Maria Garcia Cegarra: “Evidence of Type A-Like Killer Whales (Orcinus orca) Predating on Marine Mammals Along the Atacama Desert Coast, Chile” (September 2022, Aquatic Mammals 48(5):436-448; 10.1578/AM.48.5.2022.436)

Ana M. García-Cegarra (Instituto de Ciencias Naturales Alexander von Humboldt, Facultad de Ciencias del Mar y Recursos Biológicos, Universidad de Antofagasta, Antofagasta, Chile; Laboratorio de Estudio de Megafauna Marina, CETALAB, Antofagasta, Chile) et al: New records of odontocete and mysticete predation by orcas in the Humboldt current system, South Pacific Ocean (Front. Mar. Sci., 26 September 2024; Volume 11 – 2024 | )

Wer sich für Orcas interessiert: In der Mai-Ausgabe 2024 von Natur sind Orcas das Titelthema – mit längeren Beiträgen auch von mir zu ihren Sprachen und Kulturen. Da geht es um genau diese Ökotypen-Bildung und eine Übersicht auch zu den fünf antarktischen Typen mit ihren unterschiedlichen Kulturen.

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Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

5 Kommentare

    • @Karl Bednarik:
      Evolution dient niemandem, sie ist ein natürlicher Vorgang und geschieht.
      Es ist umgekehrt: Bei empfindungsfähigen Organismen trägt individuelles Wohlbefinden zur Fitness bei, was ein evolutiver Vorsteil ist. Auch Altruismus und soziale Kooperation zahlen sich aus, da sie Gesundheit und Jagderfolg erhöhen.
      Ich sehe allerdings keinen Zusammenhang zwischen Ihrer Antwort und meinem Artikel.

      • Hallo Frau Wurche.
        Ich stimme Ihnen dabei natürlich voll zu.
        Der Zusammenhang mit Ihrem Artikel sollte sein,
        dass die Delphine diesen Vorgängen
        eher ablehnend gegenüber stehen.

  1. Man soll sich ja vor bestimmten Vergleichen, aber dass die Orcas ihren Speiseplan variieren und ab und an auch mal etwas Neues ausprobieren, macht sie irgendwie “menschlich”.

  2. @RPGNo1: Gut wäre es, denn nur mit Innovation werden sie überleben.
    Allerdings haben ja nur die Wissenschaftler etwas erstmals beobachtet, bei bisher insgesamt sehr wenigen Informationen zu Typ D. Gut möglich, dass die Orcas das schon sehr lange machen. Insgesamt scheinen diese Ökomorphotypen in ihrer Nahrungswahl und dem entsprechenden Jahgdverhalten eher sehr beständig zu sein.
    Im Nordpazifik magern einige Gruppen, die auf Lachse spezialisiert sind, ab. Vor Norwegen sind sie den Heringen hinterhergezogen, statt auf andere Fische auszuweichen.
    Und nach dem Fang sind einige Meeressäuger jagende Orcas sogar verhungert, bevor sie den angebotenen Fisch annahmen.
    Hoffentlich zeigen sie sich flexibel in den sich so schnell verändernden Ökosystemen. Zumindest in der Arktis scheinen sie das Tauwetter ja gut zu nutzen.

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