Der Bobbit-Borstenwurm – ungebetener Aquariumsbewohner

Im Karlsruher Naturkundemuseum trieb jahrelang ein unbekannter Aquariumsbewohner nachts sein Unwesen. Der Aquarienleiter Johannes Kirchhauser hatte bei nächtlichen Rundgängen ein längliches “Phantom” bemerkt. Aber sowie er Taschenlampe und Blick darauf richtete, hatte sich das Tier schon blitzschnell ins Korallenriff zurückgezogen. Zurück blieben Spuren wie angeknabberte Korallen und Schleimröhren. Nun fand der Aquarienchef tatsächlich einen toten, eineinhalb Meter langen Borstenwurm auf dem Aquarienboden. Da es sehr viele Meeresborstenwürmer (Polychaeta) gibt und diesem Tier leider der Kopf fehlte, wird es mit der Identifizierung durch einige Experten noch etwas dauern. Dieses Exemplar war vermutlich mit zwei Drückerfischen aneinandergeraten und verlor dabei den Kopf.
Auch wenn viele Meeresborstenwürmer lang, schnell und mit fiesen Chitinkiefern bewaffnet jagen, hatte dieser gegen die beiden Fische offenbar keine Chance.
Aber es ist vermutlich ein Bobbit-Wurm.
(Ein herzliches Dankeschön an @RPGNo1 für den Link zu diesem ungewöhnlichen Fund!)

Bobbit worm (Eunice aphroditois) (Wikipedia: JennyFlickr: “Aliens” movie star!)

Es ist an der Zeit, etwas mehr über diese schlängelnden Jäger der Ozeane zu erzählen.
Dies ist nämlich nicht der erste exotische Riffbewohner, der in einem Aquarium sein Unwesen trieb.
Die Tiere kommen vermutlich als kleine Jungwürmer mit Korallengestein in Aquarien auch auf der Nordhalbkugel und gedeihen dann im warmen Ambiente bei bester Ernährung über Jahre unerkannt. Bis sie dann als eineinhalb Meter lange Erwachsene meist bei Reinigungsarbeiten doch entdeckt werden. Oder, wie in Karlsruhe, nach einem verlorenen Kampf.

Der Ringelwurm Eunice aphroditois, auch Bobbitoder Riesenborstenwurm genannt, lebt in tropischen Gewässern. Er ist nachtaktiv und kann bis zu drei Meter lang werden. Allerdings ist der größte Teil des Körpers in Hohlräumen wie in Korallenkalken, manchmal auch in Sand eingegraben. Kommt Beute vorbei, schnellt er hervor und schnappt sich andere Anneliden, Pfeilwürmer, Ostrakoden, Ruderfußkrebse und Muscheln angegeben oder kleinere Fische. Er erbeutet aber auch Tintenfische und selbst giftige Rotfeuerfische. “Der Kieferapparat ist komplex gebaut, er besteht aus einem Paar Mandibeln mit einer scharfen Schneidekante und vier Paaren grob gezähnter Maxillen. Die Kraft der Kiefer reicht aus, die menschliche Haut zu durchdringen. Zwischen den Kiefern sitzt ein muskulöser, vorstreckbarer Pharynx.” – kein Wunder, dass er im Englischen auch Sand Striker heisst. Außerdem schillert Eunice in Regenbogenfarben, wenn sich auf ihrem Chitin das Licht bricht.
Bobbitwürmer leben normalerweise innerhalb von Hohlräumen von marinen Hartsubstraten wie zum Beispiel Korallenkalk.

Hier ist ein video von einem großen Bobbit-Wurm, der ebenfalls in einem Aquarium entdeckt wurde:

Meeresringelwürmer – glitzern, schnell, tödlich

Sowie Eunice mit ihren Tastfortsätzen Beute ertastet, schlägt sie ihre Mandibeln in die Beute und zieht diese unter den Sand, um sie ungestört zu verspeisen.
Nach Aussage einiger Wissenschaftler spritzt Eunice eine chemische Verbindung in ihre Beute, um sie zu lähmen und möglicherweise auch besser zu verdauen.

Eine kleinere Eunice-Art und ihre Verwandten wie Nereis leben in der Nordsee. Kleiner, aber genauso tödliche Jäger.

Andere Meeresringelwürmer wie der Feuerwurm haben Brennhaare, die auch für Menschen sehr unangenehm werden können. Sie verursachen Verbrennungen wie die Nesselkapseln von Quallen.

Auch die Palolo-Würmer gehören in diese Verwandtschaft: Sie sorgen durch ihren mondsüchtig-orgiastischen Paarungstanz für Aufsehen. Unter dem Vollmond treffen sich Massen von Männchen und Weibchen im tropischen Meer und werfen ihre Hinterteile ab, die mit Fortpflanzungsprodukten prall gefüllt sind. Hier ein Video mit dem irren Tanz der Palolo-Würmer, die auf Samoa eine geschätzte Delikatesse sind:

Auch die Bobbit-Wurm-Männchen und -Weibchen treffen sich bei Vollmond zu einer Licht-synchronisierten ozeanischen Orgie und geben dann Wolken von Spermien und Eiern ab, allerdings etwas weniger spektakulär als die Palolo-Würmer.

Der Trivialname “Bobbit-Wurm” ist übrigens ziemlich anrüchig: Ein Unterwasserphotograph soll die bisher Riesen-Eunice genannten Tiere so bezeichnet  haben, in Anlehnung an John Wayne Bobbit. Dessen Ehefrau Lorena Bobbit hatte 1993 ihrem schlafenden Ehemann den Penis abgeschnitten. Aufgrund der Ähnlichkeit des Wurms mit einem erigierten Penis und der Wurm-Kiefer, die an eine Schere erinnern, kam es zu diesem Trivialnamen. Da fast keiner der vielen Meeresringelwürmer bisher jemals einen Trivialnamen hatte, wird der Name mittlerweile auch auf viele verwandte Arten angewendet (Sergio I. Salazar-Vallejo1 et al: “Giant Eunicid Polychaetes (Annelida) in shallow tropical and temperate seas” (Rev. biol. trop vol.59 n.4 San José Dec. 2011).

Nur die Seemaus Aphrodite aculeata aus der Nordsee hat einen Trivialnamen, der allerdings recht weit weg vom Wurm führt. Dafür ist die Seemaus sehr knuffig – ich habe auf Helgoland mal eine getroffen.

Aphrodita aculeata (Sea mouse), taken at the Marine Aquarium, Lyme Regis, Dorset, UK. (Wikipedia: MichaelMaggs)

(Teile dieses Textes waren 2016 auf dem alten Science Blog Meertext erschienen. Ich habe sie aktualisiert.)

Bettina Wurche in Portsmouth

Veröffentlicht von

https://meertext.eu/

Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

14 Kommentare

  1. Wie nett, dass es mein Hinweis aus “Fundstücke, Fragen & Anregungen” zu einem upgedateten Artikel geschafft hat. Das freut mich. 😀

  2. Als ich anfing das zu lesen, dachte ich, der Name wäre auch für eine Punkband geeignet…die Realität ist deutlich krasser und erinnert auch an einen japanischen Film der ein ähnliches Ereignis thematisierte…
    Faszinierende Tiere.

    • @DH: Das ist ein hervorragender Gedanke! Ich finde Nereis, Eunice & Co nicht nur namentlich sondern auch charakter- und körperlich außerordentlich geeignet für eine Punkband
      : )))))

  3. Der Fall Abe Sada wurde gleich mehrfach verfilmt, aber die bekannteste Version ist “Im Reich der Sinne” von Nagisa Oshima.

    • @Manfred Polak: Der Fall war mir noch gar nicht bekannt. Puh, hoffentich hat sie die Teile getrocknet oder konserviert, das müffelt ja sonst schnell. Dann sollte der nächste von Japanern neu entdeckte Polychae den Arnamen XY abesadais oder so ähnlich bekommen. bin schon auf die Publikation gespannt und wie so manchem Taxonomen bei der Morgenlektüre dann erstmal die Brille ins Müsli fällt : )

    • Hart an der Grenze zur Pornographie, allerdings nicht niveaulos. Die eigentliche Stärke des Films ist das Einfangen der bedrückenden Atmosphäre der damaligen Zeit, der das Paar vergeblich versucht zu entfliehen.

        • Auch in Japan gab es die “roaring twenties”, an denen, wie bei uns, nur diejenigen teilnehmen konnten, die es sich leisten konnten.
          Dort gab es aber noch eine kurze Zwischenphase bevor sich der Faschismus durchsetzte, verbunden mit dem Begriff” ero goru nansensu”, was soviel heißt wie “erotischer bizarrer Nonsens”.
          Das besondere Interesse für solche Geschichten, beginnend mit der Weltwirtschaftskrise 29, endend irgendwann in den 30ern, war eine wohl sehr japanische Art der Weltflucht angesichts des verbreiteten Gefühls, daß schon die nähere Zukunft nicht mehr rosig aussehen würde.
          Die Geschichte der Abe Sada ist die einzige die ich kenne aber da gab es noch viel mehr in Kunst und Literatur, bis der Faschismus diese kurze Ära beendete.
          Sada ist da wohl gleichsam Produkt als auch Bedienerin dieses Zeitgeistes.

          • Weniger am bizarren Sex interessiert und dafür noch politischer, aber durchaus ebenfalls skandalträchtig und sehr eng an reale Ereignisse der 1910er und 1920er Jahre angelehnt, ist der sehr lange (je nach Version bis zu dreieinhalb Stunden) und sehr sperrige “Eros plus Massaker” von Yoshishige Yoshida.

            https://en.wikipedia.org/wiki/Eros_%2B_Massacre

          • @Manfred Polak
            Interessante Beschreibung. Zeigt natürlich auch wie das Pendel hin und her schlägt und die Übertreibungen der einen Seite zu jeweiligen Überreaktionen auf der anderen führt.
            Daß das gerade heute wieder veröffentlicht wird, ist vielleicht kein Zufall.

  4. In dem einen Video wird ja gesagt, dass sich der Wurm in drei lebensfähige Teile aufteilte. Ist sowas eine Stressreaktion im hell erleuchteten Aquarium ohne Deckung, oder machen die das auch im “Alltag”? Und wenn sowas geht, führt dann ein abgebissener Kopf zwangsläufig zum Tod, oder können die das (wie Plattwürmer) auch mal wegstecken?

    • @Manfred Polak: Der dreigeteilte Wurm war zerrissen worden und hat das nicht überlebt. Serienmäßig können sie nur Teile des Hinterleibs abtrennen. Ich weiß allerdings nicht, wie lange sie das überleben – viele Arten sterben ja nach der Fortpflanzung ohnehin. Ohne Kopf geht bei Polychaeten gar nichts, die sind mit Zentralnervensystem, Ernährung, … zu hoch entwickelt. Sie sind von der Komplexität her knapp unterhalb der Arthropoden. Seit ich beim Eingangspraktikum Zoologie in meiner Glasschale voller Muschelbank in die bernsteingelben Augen einer Nereis guckte und fast vom Hocker fiel, bin ich bei denen vorsichtig. Das Vieh hatte alles andere, bis auf die Miesmuscheln, aufgefressen Schon so einige Wattenmeerarten werden für Würmer riesig und können fies zwicken.

      Plattwürmer sind sehr viel einfacher strukturiert, ein ganz anderes evolutives Niveau.

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