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Der Fall Professor B.: Er war ein berühmter Transplantationschirurg, Ex-Leibarzt eines verstorbenen honorigen Politikers, Professor und mehrfacher Ehrendoktor, Träger des Großen Verdienstkreuzes und Visionär: Nicht nur medizinisch, sondern auch wirtschaftlich. Er etablierte die Vierklassenmedizin. Dafür wurde er jetzt zu einer Haftstrafe verurteilt. Doch eigentlich hatte er edle Absichten, wollte die Forschung fördern. Ist der Professor am Ende nur Opfer unseres Gesundheitssystems? Was steckt dahinter?
 
Ein Fall, wie er nur im Buche stehen sollte
 
Herr W. hat genug von seinem Hundeleben. Seit Jahren muss er alle zwei Tage zur Dialyse, tagein tagaus. Seine Nieren sind kaputt und ohne die regelmäßige Blutwäsche müsste er sterben. Aber die Behandlung wird von Jahr zu Jahr anstrengender für ihn. Mitunter fühlt er sich nur noch schlapp und müde. Das Kribbeln in den Händen und Füßen bessert sich auch nicht mehr so wie früher nach der Therapie. Doch am schlimmsten ist der Juckreiz. Manchmal kratzt sich Herr W. den ganzen Körper wund. An solchen Tagen ist Herr W. nur noch verzweifelt.
 
Es ist klar: Herr W. braucht eine Spenderniere, je eher desto besser. Seine ganze Hoffnung liegt jetzt in Professor B. Vor einem halben Jahr hat er sich in seiner Not an diese Koryphäe für Organverpflanzungen gewandt. Heute hat er endlich einen Termin.
 
Zunächst einmal lässt ihn der Professor eine Stunde warten. Dann wird Herr W., der extra mit seiner Frau angereist ist, damit noch ein weiteres Ohrenpaar den wichtigen Informationen des gewichtigen Herren folgen kann, endlich von der Sekretärin in ein kleines Untersuchungszimmer geführt. Die beiden dürfen auf zwei schmalen, einfachen Holzstühlen vor einem riesigen Schreibtisch Platz nehmen. Ein großes Plakat prangt an der kahlen weißen Krankenhauswand: "Spenden auch Sie und retten Sie Leben!"
 
"Ich werde gleich morgen einen Organspendepass ausfüllen", wispert Frau W.: "Und auch zum Blutspenden werde ich gehen." Sie würde mittlerweile fast alles tun, nur um ihren geliebten Mann noch ein wenig behalten zu dürfen.
 
Nach weiteren fünfzehn Minuten bangen Wartens kommt ER dann herein: Der Chefarzt. Ein Erfolgsmensch, graumeliert und leicht gebräunt, mit frisch gebügeltem weißen Kittel, aus dem dezent eine edle Designerkrawatte hervorblitzt.
 
Der Professor begrüßt die Wartenden, die ehrfürchtig dafür aufstehen, mit einem kurzen festen Händedruck. Dann lässt er sich in seinem riesigen Chefsessel aus dunkelbraunem Edelleder am anderen Ende des gewaltigen Tisches nieder. Mitleidig lächelt er die beiden an.
 
"Sie brauchen also eine neue Niere, Herr W.", beginnt der berühmte Chirurg das Gespräch. Der Mann auf dem unbequemen Holzstuhl schaut den Professor mit großen Augen erwartungsvoll an.
 
Der Chefarzt wiegt sich leicht in seinem Drehsessel: "Ihnen ist doch wohl bewusst, dass Sie sich operieren lassen müssen. Sonst haben Sie keine Chance, noch im nächsten Jahr mit Ihren Enkeln spielen zu können."
 
Herr W. verspürt jetzt eine diskrete Übelkeit, die in Form eines dicken Kloßes von seinem Magen in Richtung Kehle aufsteigt. Er schluckt. Der Professor schweigt und schaut ihn mit nachdenklicher Miene an.
 
Herr W. räuspert sich zaghaft, bevor er es wagt, die für ihn so lebenswichtige Frage zu stellen: "Werden Sie mich operieren können, Herr Professor?"
 
Ernst runzelt der Professor jetzt seine Stirn, etwas später zieht er auch eine Augenbraue nach oben: "Also Herr W., Sie wissen ja sicher, dass wir im Zuge der ganzen Gesundheitsreformen und Sparzwänge nicht mehr alles tun können, was wir eigentlich gerne wollten. Da müssen wir einfach Prioritäten setzen, auch im OP. Wissen Sie überhaupt, wie viel so eine Operation kostet? Zuerst kommen die Reichen unters Messer, dann die Politiker, an dritter Stelle die Privatpatienten und zuletzt die gesetzlich Versicherten. Haben Sie mich verstanden?"
 
Herr. W. schluckt wieder. Der Kloß in seinem Hals raubt ihm die Luft. Seine Frau blickt nur noch zu Boden und wagt kaum noch zu atmen.
 
Der Professor nimmt die Akte von Herrn W. in die Hand und schaut auf den Versicherungsstatus des Patienten, der mit einem dicken schwarzen Edding unübersehbar auf dem Deckel markiert wurde: "KP", "Kassenpatient" oder auch "Keine Privilegien".
 
Seufzend legt der Chefarzt die dicke Akte wieder auf den Tisch zurück und fragt Herrn W. nochmals: "Haben Sie mich verstanden? Es liegt jetzt an Ihnen etwas zu tun. Denken Sie an Ihre Enkelkinder! Wenn Sie wollen, können wir Ihnen helfen. Sie haben doch Enkel?" 
 
Die W.s nicken beschämt. Nächstes Jahr wird der Große eingeschult. Das wollte Herr W. eigentlich noch erleben.
 
Zum Abschied drückt der Professor dem Ehepaar W. eine Visitenkarte in die Hand. Dort ist die Nummer eines Kontos vermerkt, auf das eine "Spende für Forschungszwecke" an die Klinikverwaltung überwiesen werden soll. Man würde sich über einen mindestens dreistelligen Betrag freuen. Barzahlungen und noch höhere Beträge würden bevorzugt bearbeitet.
 
Eine Woche nachdem die W.s ihre Ersparnisse zusammengekratzt und 3.500 Euro auf das Konto eingezahlt haben, bekommt Herr W. einen Operationstermin.
 
Für Herrn W. hat sich die Spende gelohnt. Mit seiner neuen Niere lebt er viel glücklicher als früher. Der Juckreiz ist vergessen, Frau W.s Blutspendeplan ebenso.
 
Dafür gab es zu Weihnachten nur selbstgebackene Plätzchen und keine teuren Geschenke. Auch den nächsten Sommer werden die W.s wohl auf Balkonien verbringen und nicht wie sonst nach Mallorca fliegen. Aber Herr W. spielt jetzt so oft er kann mit seinen Enkeln und war sogar bei der Einschulung dabei.
 
Für Professor B. dagegen ist das Spiel vorerst zu Ende. Seit Jahren war er umzingelt von Spielverderbern, wurde immer wieder angezeigt. 
 
Auch diesmal gibt es eine Gerichtsverhandlung – das Routineprogramm also. Professor B. lächelt entsprechend siegesgewiss, als er seine ehemaligen Patienten, darunter auch Herrn W. und zahlreiche andere, im Gerichtssaal wiedersieht. Freundlich zwinkert er Herrn W. zu. Für den Professor ist der Gerichtssaal nichts anderes als eine Bühne und da kennt er sich aus. Schließlich heißt der OP-Saal in England "theatre". Der Professor ist es gewöhnt, die Hauptrolle zu spielen. Was soll da schon schiefgehen?
 
Herr W. zwinkert diesmal jedoch nicht zurück. Der ehemalige Patient ist wütend, kann er doch wegen dieser Geschichte zwei Jahre lang nicht auf sein geliebtes Mallorca fliegen. Seine Aussage ist eine von vielen: "Ja, ich habe Geld auf ein Spendenkonto überwiesen, um so nicht so lange auf einen OP-Termin warten zu müssen. Der Professor da" und damit zeigt Herr W. auf das Häuflein Elend zwischen zwei teuren Anwälten, "der Professor da hat mir Angst gemacht. Er hat mir etwas von seiner Vierklassenmedizin erzählt."
 
Jetzt lächelt auch Professor B. nicht mehr. Da können ihm selbst die beiden Anwälte nicht mehr helfen, die er sich für diesen Prozess geleistet hat– ob von den "Spenden", dem ganz normalen Gehalt als Ordinarius einer großen Klinik oder seinen legalen Einnahmen aus Privatliquidationen sei einmal dahingestellt. Das Lebenswerk ist jedenfalls zerstört.
 
Denn diesmal hat der erfolgsverwöhnte Superchirurg Pech: Jetzt soll der mehrfach mit Ehrendoktorwürden ausgezeichnete Professor sogar für drei Jahre in den offenen Vollzug. Außerdem droht dem mittlerweile 65-Jährigen der Verlust seiner Beamtenpension.
 
Bestechlichkeit in 30 Fällen, dreimal Nötigung und Steuerhinterziehung in zwei Fällen konnten nachgewiesen werden. Dabei wollte der gute Mensch doch nur helfen und wie er beteuert auf seine eigene Art die Forschung fördern. Fast 160.000 Euro sammelte er in einem Zeitraum von fünf Jahren. Davon lassen sich schon einige Wissenschaftler bezahlen. Auch wenn der Forschungsdrang des unkonventionellen Mannes gestoppt wurde, ist das Spiel noch nicht aus: Seine Anwälte haben Revision gegen das Urteil eingelegt.
 
Das griechische Modell
 
Diese Geschichte ist frei erfunden, hat sich aber so ähnlich vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich zugetragen. Ausnahmsweise einmal nicht in Griechenland, dessen kranke Finanzpolitik gerade mal wieder die Gemüter heftig erhitzt, sondern im Ruhrgebiet.
 
Das griechische System hatte hier offenbar Vorbildcharakter. Wer in Griechenland operiert werden will, bringt vorher einen kleinen Umschlag, den Fakelaki, zu seinem Arzt, schrieb Nera Ide vor kurzem in den ChronoLogs.
In diesem Umschlag befinden sich jedoch keine Patientenbefunde, sondern Geld, um schneller einen OP-Termin zu bekommen. Die Griechen kennen das nicht anders.
 
Allerdings fühlen sich auch nur 25 Prozent der Griechen von ihren Ärzten gut versorgt, wie die aktuelle Eurobarometer-Umfrage zur Patientensicherheit und Qualität der medizinischen Versorgung ergab. In Deutschland gibt es dagegen immerhin 86 Prozent zufriedene Patienten. Wird sich das mit der Vierklassenmedizin noch steigern lassen?
 
Denn die zufriedensten Patienten findet man in den folgenden Ländern: Belgien, Österreich, Finnland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden. Hier waren mindestens neun von zehn Befragten von der guten Qualität der Gesundheitsversorgung ihres Landes überzeugt. Das sind allerdings alles Staaten, in denen eine Bakschisch-Mentalität keine Rolle spielt.
 
Die Spitze des Eisbergs
 
Die Straftaten des Professor B. – also ein Einzelfall? Mitnichten. Nur ein besonderes Beispiel eines Vertreters, der sich am obersten Ende des Eisbergs niedergelassen hatte, selbst wenn er vielleicht sogar wirklich auch Gutes erreichen wollte: Eine Verbesserung der Forschungsförderung in einem gewinnorientierten Universitätsbetrieb, in dem für gute Wissenschaft immer weniger Geld und Zeit bleibt. Aber der Zweck heiligt nun mal nicht immer die Mittel.
 
An der Spitze des Eisbergs ist das Eis bekanntlich am dünnsten und so können wir gespannt darauf warten, was im Zuge der fortschreitenden Erwärmung und weiterer Gesundheitsreformen bald noch alles auftaut.
 
Manipulationen von OP-Berichten sind auch an anderen Kliniken gängige Praxis*. Wer prüft schon nach, ob der Professor die Privatpatienten auch tatsächlich operiert oder ob er nur zeitweise oder gar nicht im OP-Saal steht? Ist das ein besonders begnadeter Chefarzt oder bereits ein Betrüger, der in fünf Sälen gleichzeitig Privatpatienten operiert und dabei auch noch den Überblick behält?
 
Schon allein aus hygienischen Gründen kann man nur hoffen, dass solch ein Operateur nicht auch in der Realität überall gleichzeitig Hand anlegt. Selbst wenn die tatsächliche Abwesenheit des Professors für manchen Kranken letztendlich zum Überlebensvorteil wird, gegenüber den privaten Krankenkassen ist sein Wiederauftauchen als Operateur im OP-Bericht zumindest ganz nah an der Grenze zum Betrug.
 
Ebenfalls ist es normal, wenn die Operation eines gesetzlich Versicherten dreimal verschoben wird, nur damit ein paar dringende private "Notfälle" noch schnell operiert werden können. Da es kein schönes Gefühl ist, diese Nachricht am Ende eines langen Tages voller bangen Wartens auf nüchternen Magen serviert zu bekommen, zahlen die, die es sich leisten können, oft auch heute schon drauf. Denn diese Differenz kann ein gesetzlich Versicherter eigentlich nur ausgleichen, indem er sich entweder privat zusatzversichert oder im Sinne einer Eigenleistung dazuzahlt. 
 
Gesetzlich Versicherte werden in Zukunft noch stärker zur Kasse gebeten. Immer mehr Ärzte kommen finanziell nur noch über die Runden, wenn sie ihren Kassenpatienten möglichst viele IGeL angedeihen lassen. Das sind keine kleinen Stacheltiere, sondern "individuelle Gesundheitsleistungen", die von den gesetzlich Versicherten selbst gezahlt werden müssen, mehr oder weniger der Gesundheit dienen und in jedem Fall die Existenz der Ärzte sichern.
 
Und wenn die Privatpatienten schon am nächsten Tag das bekommen, worauf die Kassenpatienten in der Regel ein halbes Jahr warten müssen, ist das ebenfalls ganz offiziell legal – in Deutschland. Quo vadis Medizin?
 
*P.S.: Gegen eine Belohnung in mindestens sechsstelliger Höhe gebe ich sachdienliche Hinweise an interessierte Krankenversicherer oder Staatsanwälte – völlig legal. Natürlich gern auch in der bereits bei Steuersündern bewährten Form (CD). Die Regierung kann sich ja vorher noch überlegen, ob sie Chefärzten, die sich selbst anzeigen, Rabatte einräumt. Allerdings sollte das Geld dann auch tatsächlich in die medizinische Forschung investiert werden. Kleinere Beträge könnten auch für die Griechenland-Hilfe verwendet werden – z.B. als Förderung von Bildungsreisen.

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Veröffentlicht von

Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

11 Kommentare

  1. xytrblk meint: Im Krieg dieTriage

    Als Student habe ich für eine medizinische Zeitschrift gearbeitet. Damals (1964) stieß ich auf einen Beitrag, der sich mit der “Triage” befasste. Das ist ein bewährtes und weltweit engesetztes System, nach dem verwundete Soldaten ein- und letztlich aussortiert werden. Nur die, welche eine gute Überlebenschance haben, werden sofort behandelt. Auch damit sie möglichst rasch wieder in den Krieg zurückgeschickt werden können.
    Für große Katastrophen gibt es ähnliche Verfahren des Aussortierens. Jeder Arzt kennt sie – oder sollte sie kennen. Damit er im Notfalls rasch entscheiden kann. An der monierten “Vier-Klassen-Medizin” ist also neu eigentlich nur die “Schublade” Nr. 4.
    Was sich in diesen meinen Zeilen zynisch ausnehmen mag, ist letztlich nur ein Spiegel der medizinischen Realität.
    Ich bin Psychologe und war zum Glück von derart drastischen Entscheidungen nicht betroffen. Aber auch Psychologen, vor allem Psychotherapeuten mit Warteliste, müssen immer wieder “aussortieren”: Wer ist wirklich in Not?
    Mir hat als Student einmal selbst geholfen, dass ich meine “Not” dem Psychoanalytiker so vermitteln konnte, dass er – bei geschätzter Wartelistenzeit von einem halben Jahr, am nächsten Tag nach meinem Anruf einen Termin für mich hatte. Was dabei half, war sicher auch, dass der Analytiker unser Hausarzt gewesen war und mich als Kind schon behandelt hat. Glück muss man eben auch haben. Wenn man auf der “anderen Seite” ist.
    Das ganze Dilemma ist nicht erst eines unserer Gegenwart, in der allzu raffgierige Nutznießer dieses Notsystems mal vor Gericht kommen.
    Ein Arzt sagte mit mal ganz offen, dass bei Geburten bereits aussortiert wird. Nicht immer. Aber er jedenfalls habe durchaus Kinder (wie hat er das bloß genannt – sicher nicht “getötet” – “sterben lassen”?), bei denen massivste Behinderungen absehbar waren. Nun, das war in den späten 1950-er Jahren. Er war in der Nazizeit sicher an solches “Euthanasie-Denken” gewöhnt worden – und als Arzt im Krieg sowieso. Was machen Ärtzte heute in solchen Fällen? Was dürfen sie? Was wollen sie? Was müssen sie?
    Immer mehr Menschen wollen teilhaben an immer mehr Ressourcen. Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz wird eine ähnliche Erleichterung schaffen wie die Ausbeutung der fossilen Energien im vergangenen Jahrhundetr: Roboter wird man zur Pflege der Alten und zur besseren Verwahrung (und Kontrolle) der Kinder einsetzen sowie für weitere Hilfsdienste. Das wird ein paar Jahre helfen. Möglicherweise. Aber wenn es nicht gelingt, die Bevölkerungsexplosion drastisch zu bremsen, wird die angeprangerte Vier-Klassen-Medizin irgendwann ganz offiziell eingeführt sein. Und wir sind wieder da, wo die Menscheit bis vor etwa einem Jahrhundert immer war: “die da oben – wir da unten”. Und jeder halbwegs intelligente Mensch wird versuchen, über die Schranke zu den “da oben” zu gelangen.
    Science Fiction? Man lese den Artikel von Trota vor Berlin nochmals. Und nochmals. Und nochmals. Ich danke für diese Aufklärung – und die Denkanstöße. Aber wird sich das Problem jemals lösen lassen?
    In dem Artikel über die Triage von 1964 in der “Selecta” ging es übrigens um die Frage, ob man den Oberbürgermeister von Los Angeles (oder welcher Stadt auch immer) aufgrund seiner Verdienste oben auf die Liste der Spendernieren-Empfänger setzen dürfe. Von einem (leider verstorbenen) befreundeten Arzt weiß ich, dass er zweimal eine Spenderniere bekam. Auf die dritte musste er zu lange warten und beendete die immer unerträglicher werdende Dialyse deshalb ganz bewusst.
    Johannes, einstiger Fürst von Thurn und Taxis, bestens vernetzt von bayrischen Größen wie Franz Joseph Strauss, bekam zwei neue Herzen von den Münchner Herz-Hexenmeistern eingesetzt. Für einen dritten Versuch war er dann doch zu krank. Aber bezahlen hätte er das locker können: Damals wurde sein Vermögen auf fünf Milliarden Mark geschätzt.
    Ich schreibe das ohne jeden Neid. Lösbar ist das Dilemma meines Erachtens nicht.

  2. Ärzte Streik

    sehr schöner Blog =)
    ich war letztes Wochenende im Krankenhaus, da ich eine Entzündung im Bauch habe. Die Ärzte haben einen enorm hohen CRP-Wert festgestellt und entdeckten 2cm zu große Lymphknoten im Bauch. Sie behilten mich 3 Tage da und haben mich dann rausgeschmissen (offiziell entlassen) weil die Kasse einfach nicht mehr zahlt. Was ich seltsam fand war, dass die in den 3 Tagen nur einmal meinen CRP Wert gemessen haben. Ansonsten fand ich die betreuung auch nicht so gut. Klar war aber, dass die Ärzte sich nicht so um mich kümmern, da ich auch nicht Lebensbedrohlich krank bin oder privat Versichert. Das ärgert mich sehr!Die haben mir 3 verschiedene Antibi. gegeben und der Arzt sagte doch tatsächlich “Das richtige wird schon dabei sein”. Es ist schon seltsam. Wenn ich das Wissen nicht gehabt hätte, dass die mich rausschmeißen weil die Kasse nicht mehr zahlt. Hätte ich echt gedacht, ich wäre wieder gesund. Früher war das ja so, dass die einen da gelassen haben, bis die Person wieder gesund war. Mich ärgert momentan so vieles, vorallem dass die auch 24 Stunden Schichten haben. Ich find das geht ja mal gar nicht. Naja, die Ärzte streiken ja bald (hoffentlich Bundesweit), hoffentlich ändert das was am System.

  3. @ Jürgen vom Scheidt: Genfer Gelöbnis…

    Vielen Dank für diesen ausführlichen Kommentar und den interessanten Bezug zur Triage.
    Auch was die Katastrophenmedizin angeht, gibt es natürlich Parallelen, aber auch erhebliche Unterschiede zur Vierklassenmedizin.

    In der Katastrophenmedizin gilt: Alles, was in 20 Minuten operiert werden kann und lebensrettend ist, hat absolute Priorität. In der Vierklassenmedizin heißt es dagegen: Das, was das meiste Geld einbringt, hat Vorrang.

    Auch in der Katastrophenmedizin werden die Patienten in vier „Klassen“ eingeteilt:
    T1: immediate help. Dies ist die wichtigste Gruppe, denn sie brauchen unmittelbare Hilfe. Diese Verletzten haben massive Kreislaufprobleme, profitieren aber am meisten von einer Therapie.
    T2: delayed. Leicht Verletzte, die noch warten können.
    T3: minimal. Dies ist die gefährlichste Gruppe, denn sie laufen noch. Sie schreien am lautesten und sollten am besten sofort als mögliche Chaosstifter aussortiert werden.
    T4: deceased. Dies ist die Gruppe mit der schlechtesten Prognose. Sie müssen aussortiert werden, aber auch sie werden am nächsten Tag wieder begutachtet und haben so noch eine kleine Chance.

    In der Vierklassenmedizin werden die Gruppen T3 und T2 vorrangig behandelt. So kann die Vierklassenmedizin als Regulativ gegen die Bevölkerungsexplosion eingesetzt werden – zugunsten der Reichen, die es sich leisten können.

    Leider hat ein solches System nicht mehr viel zu tun mit der Deklaration von Genf, der modernen Version des hippokratischen Eides, die eigentlich jeder Arzt kennen und vor allem auch praktizieren sollte. Denn dort steht: „Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung.“

    Es wäre schon ein erster Schritt in die richtige Richtung, wenn sich jeder Arzt und auch die Patienten dessen bewusst würden und danach handelten.

  4. @ Nabila: Viel Glück zurück :-)!

    Das mit der Infektion tut mir leid und ist natürlich ein Armutszeugnis für die behandelnde Klinik, vor allem was die Qualität der Visiten betrifft. Aber am Wochenende ist halt nur Notbesetzung und da werden dann auch Prioritäten gesetzt. Das Personal ist dann noch überforderter als sonst. Jeder, der nicht halbtot oder privat versichert ist, muss sehen, wie er selbst zurechtkommt.

    Eine Entzündung im Bauchraum wird oft mit drei Antibiotika behandelt, weil man dadurch alle Erreger abtöten will, die dafür üblicherweise in Frage kommen (es sind ja oft auch Mischinfektionen mit oder ohne Chlamydien). Wenn man erst auf die Ergebnisse der Abstriche warten würde, würden nochmals drei Tage und damit auch wertvolle Behandlungszeit vergehen. Die Keime würden sich in der Zeit fröhlich weitervermehren. Daher geben viele Ärzte eine Dreifachkombination, welche die häufigsten Erreger abdeckt. Die Therapie sollte über mindestens eine Woche, muss aber nicht die ganze Zeit im Krankenhaus erfolgen. Aber wenn die Beschwerden nicht besser werden, sollte man natürlich nicht entlassen, sondern nochmals untersuchen und die Therapie überdenken…

    Leider habe auch ich schon einige Patientinnen getroffen, die mit Unterbauchschmerzen jahrelang von Arzt zu Arzt gelaufen sind und dann fast am Blinddarmdurchbruch gestorben wären. Die ganzen zuvor besuchten Ärzte dagegen meinten, diese Patientinnen seien “hysterisch”.

    Zum Glück gibt es sie dennoch, die guten Ärzte – man muss sie nur geduldig suchen. Viel Glück dabei und gute Besserung!

    Und was den Streik betrifft – auch hier wünsche ich uns allen viel Glück und Erfolg!

  5. @ Trota Danke

    Hey,

    es war der erste Mai, mir war klar, dass nur Dienstärzte arbeiten würden und keine Stationsärzte. Daher bin ich zur Uni Klinik gefahren, weil die ja normalerweise (auch an Feiertagen und Wochenenden) immer auch einen Facharzt da haben. In den Kreiskliniken sind dann -so weit ich weiß- sehr viele Assistenzärzte aber keine bzw kaum Fachärzte.

    Die haben mich auf alles getestet und Abstriche gemacht. Es lag keine V.Entzündung vor, Chlamydien konnten auch nicht festgestelllt werden und im Ultra Shall waren alle Organe i.o.
    Sie sagten mir, ich würde vor einer Entzündung stehen, schienen aber doch sehr ratlos.
    Die Frage ist ja jetzt ob ich im oberen Teil des Bauches eine Entzündung habe und daher Entzündetes Wasser / Eiter runter läuft und alles andere Entzündet.
    Genau, ich habe ebenfalls 3 versch. Antibi. gegen die bekanntesten Keime. Diese würde man auch im Falle einer Eierstockentzündung verabreichen (die aber als ich Untersucht wurde, NICHT festgestellt wurde). Dies tat man, für dann Fall, dass sie sich noch entwickelt. Dann wurde ich auch nicht mehr gründlich Untersucht. Angeordnet war für den nächsten Tag ein Blutbild, was mich echt wundert(e). Was mir momentan auch eher zu schaffen macht, sind die Nebenwirkungen und nicht mehr die eigentlichen Schmerzen. Im Arztbrief stand etwas von einer raschen Besserung. Ich musste da echt lachen. Sie gaben mir nämlich Schmerzmittel und fragten ca. 20 min später, wie es mir ginge. Als ich “gut” aussprach, haben die schon von Entlassung geplappert. Was mich da jetzt zum Lachen brachte, war das sie im Arztbrief Diagnose Adnexitis geschrieben haben, mir immer sagten, es könnten viele Dinge sein (mich nicht aufklärten) und dann noch was von rascher Besserung (oder war das doch Genesung?! Weiß nicht mehr , sorry) schrieben.

    Ist dieser Streik denn jetzt Bundesweit? Das hab ich irgendwie nicht so mitbekommen.

  6. @ Nabila

    Ja, in den Unikliniken gibt es in der Gynäkologie an Wochenenden und Feiertagen meist “nur” drei diensthabende Ärzte: einen Oberarzt, einen Fach- bzw. fortgeschrittenen Assistenzarzt im “1. Dienst” und einen jüngeren Assistenzarzt im “2. Dienst”. Der Jüngere ist prinzipiell erstmal für die Ambulanz und meist auch für die Visiten zuständig. Wenn er nicht weiterkommt und fachärztliche Anordnungen braucht, stellt er die Patienten dann seinem 1. Dienst vor, der dann wiederum entscheidet, ob das ein Fall für den Oberarzt – sprich Operationsindikation – ist. Denn die beiden höheren Diensthabenden vergnügen sich meist im OP oder im Kreißsaal. Nachts darf der Jüngere dann aber auch den Kreißsaal vorrangig betreuen, damit die Älteren vielleicht ein wenig schlafen können. Denn oft operieren sie am nächsten Tag noch weiter, auch wenn sie offiziell schon Dienstschluss haben – je nach der Anzahl der kritischen Notfälle. Und der Jüngere wird dann schnell noch vor Dienstschluss (also nach ca. 24 Stunden!) auf die Morgenvisite zu den stationären Patienten geschickt, damit der frische Dienst schon mal in der Ambulanz die ganzen Notfälle anschauen kann. Da hat er dann meist auch keine große Lust mehr auf medizinische Höchstleistungen….
    Natürlich hat jeder Patient ein Recht auf Facharztbetreuung und kann das auch einfordern. Dann muss ein Facharzt kommen und eine Untersuchung durchführen.
    Die Wochenenddienste in den Kliniken werden nicht einmal voll bezahlt, sie gelten ja als “Bereitschaftsdienst”. Ganz zu schweigen von Wochenend- oder Feiertagszulagen… Auch das ist Fehlanzeige. Kein Handwerker würde so arbeiten… aber Ärzte haben dafür ja auch eine oft mehr als 10-jährige Ausbildung gemacht. Im Rahmen solch großer Spezialisierung vergisst man vielleicht irgendwann auch das eine oder andere.
    Ob ein Streik diese Situation verbessern kann ist fraglich, denn bundesweit sind bereits 5000 Vollzeitstellen im Ärztlichen Dienst unbesetzt. Die Ärzte brauchen vor allem bessere Arbeitsbedingungen und nicht nur ein paar Euro mehr auf dem Konto!

    Streiken werden nur die kommunalen Krankenhäuser (bundesweit) und am 17.5.10 geht es in München los mit einer  Großkundgebung.
    An den Universitätsklinika tut sich also erst einmal nichts.

    Was die Verdachtsdiagnose „Adnexitis“ angeht, hatte ich ja schon fast so etwas vermutet ;-). Ich kann zwar keine Ferndiagnose stellen, aber es kommt nicht selten vor, dass sich z.B. Chlamydien am unteren Rand der Leber einnisten (man nennt das Fitz-Hugh-Curtis-Syndrom).
    Im Ultraschall ist dann nichts oder nicht viel zu sehen, im Labor zeigen sich allenfalls unspezifische Entzündungszeichen (auch in der Laborverlaufskontrolle), aber die Kerlchen können mehr oder weniger viel Ärger bereiten – von unspezifischen Beschwerden bis hin zur akuten Bauchfellentzündung. Die Sicherung einer solchen Diagnose gäbe es durch eine Bauchspiegelung (mit Abstrichen direkt vor Ort, denn der von außen genommene Abstrich kann negativ sein), aber wenn eine konsequente Chlamydientherapie Besserung bringt (Hauptwirkstoff z.B. Doxycyclin mit Partnerbehandlung – ganz wichtig wegen des Pingpong-Effekts), braucht man auch keine OP. Natürlich gibt es noch viele andere Ursachen, die nur durch eine gute Untersuchung und Verlaufskontrolle geklärt werden können. Ein/e pfiffige/r Frauenarzt /-ärztin müsste das aber können. Viel Glück nochmals und gute Besserung!

  7. Vielen, vielen Dank

    wow danke für die Aufklärung!
    Vielleicht sollte ich es tatsächlich doch wieder in Erwägung ziehen Medizin statt auf Lehramt zu studieren. Dann wäre ich jedenfalls nciht mehr die Dumme.

    Gut, dass ich das jetzt gelesen habe, da ich gleich nochmal zum Arzt muss. Bin mal gespannt ob der meinen CRP und Leuko. wert misst.

    Ich hoffe auch, dass die Arbeitsbedingungen sich verbessern, man mehr Ärzte einstellt, PJ ler bezahlt, die Wochenstundenzahl in den Verträgen eingehalten werden und sich die Atmosphäre da verbessert, natürlich auch das Geld.

  8. mehr als 24-Stunden

    So ein Dienst kann einem als Akademiker auch mal blühen, wenn man beispielsweise zehn Stunden vor seiner Vorlesung vielleicht fünf Folien hat — bisschen wenig für 90 Minuten; aber man kann zu den Vortragseinladungen, Interviews, Fototerminen nicht nein sagen und will dabei nebenbei noch bloggen. 😉

    Im Großen und Ganzen hatte ich übrigens meistens Glück mit den ÄrztInnen: Erst mal junge Leute, die ihren Job echt gut machen und helfen wollten; und im Hintergrund dann jemand mit Erfahrung, der einschreitet, wenn es nötig ist.

    So erinnere ich mich beispielsweise noch gut daran, dass ich mal einen hartnäckigen roten Belag auf der Zunge hatte. Der junge Arzt sah darin einen Pilz und wollte gleich zum Rezeptblock greifen. Der erfahrenere Zückte stattdessen seinen Eisstiel, machte einen Abstrich und tippe auf Lebensmittelfarbstoff. Tatsächlich war ich einige Wochen zuvor auf einen Früchtetee umgestiegen, der eher nach dem Prinzip “günstig” als “gut” gefertigt war. 🙂

    @ Nabila: Wünsche dir auch weiter gute Besserung. Vielleicht klappt es ja noch mit den Prüfungen.

  9. nebensache

    Ab morgen beginnt die Prüfungswoche und ich bin Gottsei dank zugelassen =)
    Hoffentlich wird alles so laufen, wie geplant.
    Ich danke dir =)

  10. Keine Nebensachen

    @ Stephan: Ja, es gibt viele Möglichkeiten, rund um die Uhr zu arbeiten – nicht nur als Arzt.

    Einen kleinen Unterschied gibt es doch: Ein verpfuschter Vortrag ist vielleicht ärgerlich für das Auditorium und peinlich für den Redner, aber immer noch eher zu verschmerzen als ein ärztlicher Kunstfehler…

    Hoffe dennoch, dass alles bei Dir gut gegangen ist!

    @ Nabila: Hoffentlich geht es Dir wieder gut! Wünsche Dir alles Gute für die Prüfungen und drücke ganz fest die Daumen!

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