Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Dicke Kinder -> kranke Erwachsene?


Die ersten Grundsteine für spätere Herz-Kreislauferkrankungen werden oft in der Kindheit gelegt. Dies zeigt nun eine Analyse von mehreren prospektiven Beobachtungsstudien, veröffentlicht in der Fachzeitschrift JAMA Network Open [3]: Vor allem Adipositas und erhöhte Werte für LDL-Cholesterin bereits im Kindesalter haben direkte Auswirkungen auf spätere Erkrankungen an Schlaganfall oder Herzinfarkt.

Eine ganz normale Situation?

Neulich bei Familie D. im Irgendwo. Die Oma kommt zu Besuch. Der Enkel sitzt am Tablet und löffelt in einem XXL-“Nussmus”-Glas, das Nüsse vor allem auf der Verpackung enthält und ansonsten überwiegend aus Zucker und Palmöl besteht. Stürmisch begrüßt er die Oma mit einem dicken Schokoladenkuss. Diese freut sich und bewundert die wohlgenährte Form ihres kleinen Wonneproppens. Der Zehnjährige wiegt mittlerweile über 60 kg und ist damit fast so schwer wie die Oma.

“Das ist doch nicht schlimm, das Kind wächst doch noch”, meint die alte Dame stolz. Dabei liegt das Gewicht des Jungen über der 100. Perzentile. Das bedeutet, dass 100% der gleichaltrigen Jungs weniger wiegen als er. Auch wenn das Oma und Eltern mit Stolz, Ignoranz, Überforderung oder was auch immer erfüllt, für das Kind ist das schlimm.

Es ist ein heikles Thema. Klar ist, dass die meisten Formen von Übergewicht durch eine falsche Ernährung entstehen. Die Eltern sind selbst übergewichtig. Das Kind isst, was eingekauft wird und verbringt viel Freizeit am Bildschirm. Die Mutter ist Diabetikerin, der Vater war früher sehr sportlich, bevor er im wahrsten Sinne des Wortes in seinen Familienpflichten aufging wie ein guter Hefekuchen.

Dicke Kinder werden meist dicke Erwachsene

Die Wahrscheinlichkeit, dass kleine Kinder aus einer Adipositas “herauswachsen”, ist verschwindend gering. Dies konnte vor einiger Zeit in einer großen Längsschnittstudie gezeigt werden: Hierzu analysierten Wissenschaftler 51.505 Kinder aus dem CrescNet-Register im Alter von 0 und 18 Jahren. [1]

Das kritische Alter des Gewichtsanstiegs ist das Kleinkindalter von zwei bis sechs Jahren. Die Chancen, später zu einem Normalgewicht zurückzukehren, stehen für Kinder, die in den ersten beiden Lebensjahren adipös waren, bei 50:50. Bei Dreijährigen waren es nur noch zehn Prozent, d.h.: Rund 90 Prozent waren auch als Jugendliche übergewichtig oder adipös.
Dabei ist die Prävalenz, d.h. die Häufigkeit, von Übergewicht bei Erwachsenen noch höher, und nicht jeder übergewichtige Erwachsene war schon als Kind zu schwer.

Laut WHO beträgt die Prävalenz für Übergewicht bei Jungen im Grundschulalter in der Europäischen Region 31%, bei Mädchen liegt sie bei 28%. In den Ländern, in denen die Daten für mehrere Altersgruppen erhoben wurden, stieg die Häufigkeit von Adipositas bei Jungen mit dem Alter. [2]

Eltern, Erzieher, Lehrer und Kinderärzte müssen Wachstum und Gewicht schon früh genau beobachten, um Kinder mit erhöhtem Risiko möglichst rechtzeitig zu erkennen.

(Gute) Beispiele?

“Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige”, wusste Albert Schweitzer (1875-1965). Dieser besondere Arzt, Theologe, Musiker und Philosoph gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrunderts und seine “Ehrfurcht vor dem Leben” hat nach wie vor große Bedeutung.

Leider wird Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen oft verharmlost oder gemieden, weil es ein so heikles Thema ist. Eltern und Umfeld haben oft selbst ungelöste Gewichts- und andere Probleme.

Viele Erwachsene glauben fälschlicherweise, dass sich die Gewichtsprobleme von Kindern durch das Wachstum oder ein wenig (mehr) Sport lösen lassen. Selbst Professionelle trauen sich oft nicht, das sensible Thema anzusprechen oder finden weder Zeit noch einen passenden Zugang.

Grundsteine werden oft im Kindesalter gelegt

Damit werden Gesundheitsrisiken wie beispielsweise eine familiäre, d.h. angeborene Hypercholesterinämie, oft nicht erkannt, obwohl betroffene Kinder schon früh sehr hohe LDL-Cholesterinwerte haben können.

Das “International Childhood Cardiovascular Consortium” (I3C) konnte zeigen, dass Menschen, die im mittleren Alter Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln, oft schon im Kindesalter Risikofaktoren hatten.

Vor kurzem untersuchte das Team um Terence Dwyer vom Murdoch Children’s Research Institute in Melbourne die Auswirkungen der bekannten Risikofaktoren im Kindes- und mittleren Erwachsenenalter. [3]  Den Anteil, den die Risikofaktoren in den beiden Lebensabschnitten hatten, bestimmten die Wissenschaftler mit einer Mediationsanalyse.

Die aktuelle Auswertung umfasst 10.634 Personen, die im Alter von durchschnittlich 13,3 Jahren das erste Mal und im Alter von 32,2 Jahren ein zweites Mal untersucht wurden. Circa 540 Teilnehmer erlitten im durchschnittlichen Alter von 49,2 Jahren ein erstes kardiovaskuläres Ereignis.

Kardiovaskuläre Ereignisse…

Zu den beobachteten kardiovaskulären Ereignissen bei Erwachsenen gehörten Herzinfarkt, Schlaganfall vorübergehende ischämische Attakte (TIA), ischämische Herzinsuffizienz, Angina pectoris, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Bauchaortenaneurysma, Karotisintervention und Koronarrevaskularisierung.

Die Forscher definierten den Kindheitszeitraum als Alter von 3 bis 19 Jahren; das Erwachsenenalter begann mit 20 Jahren.

Dwyers Gruppe analysierte sieben Längsschnittkohorten, die im International Childhood Cardiovascular Cohort (i3C) Consortium enthalten waren. Die Kohorten kamen aus den USA, Finnland und Australien und verfolgten die Teilnehmer bereits ab den 1970er Jahren.

… und ihre Basis:

1. Risikofaktor Rauchen

Der wichtigste Risikofaktor war das Rauchen mit einem relativen Risiko (RR) von 1.43 (95% Konfidenzintervall (CI), 1.17-1.75). Da Kinder selten rauchen, war ihr Anteil gering (11%). Die restlichen 89% waren auf das Rauchen im späteren Lebensalter zurückzuführen. Ein weiteres Ergebnis war, dass Rauchen in der Kindheit kardiovaskuläre Erkrankungen nur indirekt über das Rauchen im Erwachsenenalter beeinflusste.

2. Risikofaktor Übergewicht

Der zweitwichtigste Risikofaktor war der Body-Mass-Index (BMI) mit einem RR von 1.41 (1.30-1.54). Dabei hatte die Adipositas im Kindesalter einen Anteil von 44% gegenüber 56% im Erwachsenenalter. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass Gewichtsprobleme im Jugendalter demzufolge nicht bagatellisiert werden sollten.

3. Risikofaktor Cholesterin

Ein weiterer wichtiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse ist ein erhöhter Cholesterinwert, vor allem das LDL-Cholesterin. Hierfür ermittelte Dwyer eine RR von 1.32 (1.18-1.48). Zu 33% war das Risiko auf die LDL-Werte im Kindesalter zurückzuführen. Auch wenn das darauf hinweise, dass die Frühdiagnose und Therapie erhöhter Cholesterinwerte den Schutz verbessern können, ließe sich das aber letztendlich nur mit einer randomisierten Studie beweisen.

4. Blutdruck, “böse” Blutfette…

Zu den Faktoren, die sich vor allem im Erwachsenenalter auswirken, zählte mit 87% der systolische Blutdruck (RR 1.27, 95% CI, 1.15-1.41) gegenüber nur 17% im Kindesalter.
Auch der Einfluss von erhöhten Triglizeridwerten (RR 1.36, 95% CI, 1.21-1.52) war zu 81% auf das Erwachsenenalter und nur zu 18% auf das Kindesalter zurückzuführen.

Fazit 1: Das Gewicht der Kinder ist wichtiger als bisher gedacht

“Diese Ergebnisse legen einen Beginn von Intervention bei Risikofaktoren in der Kindheit nahe, insbesondere beim BMI, um die Häufigkeit von kardiovaskulären Erkrankungen im Erwachsenenalter zu reduzieren. Denn diese können durch Risikofaktormanagement im Erwachsenenalter nicht vollständig gemildert werden”,

lautet die Schlussfolgerung die Autoren.

“Die Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen durch die Reduzierung etablierter Risikofaktoren konzentriert sich weitgehend auf Interventionen, die im mittleren Erwachsenenalter beginnen. Die zugrundeliegende Pathologie, Arteriosklerose, kann jedoch in der Kindheit beginnen, und ihre frühe Entwicklung hängt von denselben Risikofaktoren ab.”

Fazit 2: Rauchen so früh wie möglich verhindern

Auch zum Rauchen äußern sich die Autoren:

“Auch wenn die Auswirkungen des Rauchens größtenteils im Erwachsenenalter auftraten, unterstreichen unsere Ergebnisse die Möglichkeit, lebenslanges Rauchen in Kindheit und Jugend zu verhindern, da Rauchen ein veränderbares Verhalten ist und die Mehrheit der erwachsenen Raucher in der Jugend beginnt.”

“Obwohl Bemühungen zur Reduzierung von Risikofaktoren im Erwachsenenalter weiterhin wichtig bleiben, müssen Bemühungen zur Erzielung optimaler Erfolge bei der Verhinderung sowohl der direkten als auch der indirekten Auswirkungen, die wir beobachtet haben, möglicherweise bereits in der Kindheit beginnen. Die Entwicklung einer öffentlichen Strategie, die das wünschenswerte Gleichgewicht zwischen Lebensstil und klinischen Interventionen in jeder Lebensphase bestimmt, ist jetzt eine Priorität”,

betonte Dwyers Gruppe.

Fazit 3: Umfassendere Daten und gezielteres Eingreifen nötig

Eine wesentliche Einschränkung der Studie war, dass sie vor allem ein Umfeld mit hohem Einkommen und mehrheitlich weißen Teilnehmenden untersuchte. “Zukünftige Studien sollten vorrangig umfassendere Daten zu den sozialen Determinanten der Gesundheit sammeln, als uns dies bisher möglich war (z. B. Zugang zur Gesundheitsversorgung und gesunde Umgebungen), um die Gestaltung und Umsetzung wirksamer und gezielter Interventionen besser zu unterstützen”, folgerten die Wissenschaftler.

Klar ist: Wer kardiovaskuläre Folgekrankheiten wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle verhindern möchte, darf bei der Behandlung der Risikofaktoren und vor allem bei Übergewicht und Fettleibigkeit nicht erst im Erwachsenenalter beginnen.

Der Volksmund weiß: Man soll den Brunnen nicht erst zudecken, wenn das Kind hineingefallen ist. Und dicke Kinder sind noch schwerer wieder herauszuziehen…

Quellen / weiterführende Literatur:

  1. Geserick M et al. “Acceleration of BMI in Early Childhood and Risk of Sustained Obesity“ NEJM 2018; DOI: 10.1056/NEJMoa1803527
  2. WHO: Adipositas im Kindesalter: Fünf Fakten über die Europäische Region der WHO, online, Mrz 3, 2023 [abgerufen am 10.08.2024]
  3. Kartiosuo N, et al “Cardiovascular risk factors in childhood and adulthood and cardiovascular disease in middle age” JAMA Netw Open 2024; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2024.18148.

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

1 Kommentar

  1. Hallo,

    ich beschäftige mich seit Jahren mit dem auflösen von fehlerhaften Synapsenverbindungen in meinem Gehirn. Eines Abends fühlte es sich bei mir so an, als seien meine Beine regelrecht am kochen. Erst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, aber nach 1 bis 2 Wochen bemerkte ich, dass meine Hosen immer lockerer saßen. Beim gehen rieben meine dicken Oberschenkel fast bis zu den Knien aneinander. Jetzt sind es ca. noch 10%.

    Was ist passiert? Die Synapsen die dafür Verantwortlich waren das sich jede Menge Fett an meinen Oberschenkeln ansammelte, haben sich aufgelöst. Hierdurch konnte der von Evolution eingerichtete Basiscode wieder aktiv werden. Der Basiscode stellte fest, dass sich an den Oberschenkeln viel zu viel Fett angesammelt hat. Der Basiscode fing an das Fett zu „verbrennen“, um den von der Evolution vorgesehenen Zustand wieder herzustellen.

    Gibt man dem kindlichen Gehirn die Möglichkeit sich wie vor der Evolution (vor dem Sesshaft werden) zu entwickeln, wird es viel weniger körperliche und geistige Probleme geben. Dito im Erwachsenenleben.

    Es liest sich wie Science Fiction, ist es aber nicht…

    Heiner M.

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