Autisten – unsere seltsamen Geschwister vom Mond?

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Bevor der April und damit der “Autismus-Bewusstseins-Monat” zu Ende geht, möchte ich einen meiner Lieblingsfilme zu diesem Thema vorstellen: “Mon petit frère de la lune” (Mein kleiner Bruder vom Mond). In diesem liebevoll animierten Kurzfilm lernen wir einen Bewohner des uns so wohlvertraut und doch unbekannt erscheinenden Satelliten kennen. Vielleicht gelingt es uns dadurch etwas besser, ein Seil des Verständnisses nach dort oben zu weben, das uns alle bereichert – hoffentlich nicht nur im April.

Autisten sind anders

Autisten sind besondere Menschen, denn ihre Nervenzellen sind anders als bei normalen Gehirnen miteinander verbunden. In der Folge nehmen Autisten Reize wie Geräusche oder Gerüche nicht wie die meisten Menschen wahr und zeigen häufig eine verzögerte Entwicklung. Auch wenn wir vieles zu diesem Thema noch nicht verstehen, wissen wir mittlerweile, dass Störungen des Autismus-Spektrums in der Regel genetisch beeinflusst werden. Jungen sind öfter betroffen als Mädchen.

Autisten müssen die uns eigentlich angeborene Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen richtig einschätzen zu können, erst mühsam erlernen, selbst wenn es ihnen grundsätzlich nicht an Empathie mangelt. Somit wird das alltägliche Leben in unserer Gesellschaft für die Betroffenen zu einem gefährlichen Drahtseilakt. Dies ist eine extreme Belastung, da sich Autisten ständig in einer für sie unnatürlichen Umgebung bewegen müssen.

Jeder, der selbst schon einmal auf einem Grat oder Hochseil balanciert hat, weiß, dass diese Aktivitäten volle Konzentration und Energie verlangen und nicht unendlich lange fortgesetzt werden können. Irgendwann braucht selbst der beste Drahtseiltänzer oder Bergsteiger eine Pause, doch Flexibilität oder Unaufmerksamkeit im falschen Moment könnten das Gleichgewicht und damit manchmal sogar das Leben kosten.

Berühmte und bekannte Autisten

Manche Autisten verfügen über eine außergewöhnliche Inselbegabung, wie Raymond im Film “Rain Man” – ein genialer und dennoch behinderter “Savant”. Andere bringen es dagegen wie beispielsweise Temple Grandin zu angesehenen Universitäts-Dozenten oder wie Glenn Gould bis zum Weltklasse-Pianisten.

Dennoch fühlen sich auch Autisten selbst oft als Wesen nicht von dieser Welt. Daniela Schreiter, besser bekannt als @Fuchskind, lässt uns auf humorvolle Art in ihren Comics an ihren Erfahrungen als Asperger-Autistin auf unserem Planeten teilhaben. Seit kurzem zeichnet sie regelmäßig für Spektrum neo und wurde dafür sogar zum wohl ersten Fuchs, der mit einem Huhn – ganz ohne bösartige Hintergedanken – lediglich geplaudert hat.

“Mein kleiner Bruder vom Mond”

Auch der französische Regisseur Frédéric Philibert geht das Thema künstlerisch an. In seinem knapp sechsminütigen Animationsfilm erzählt uns ein kleines Mädchen von ihrem Bruder, der anders ist als die meisten Kinder. Die deutsche Übersetzung des Textes lautet, etwas gekürzt:

„Ich erinnere mich, als mein kleiner Bruder geboren wurde, hörte er nicht auf zu essen. Er aß viel, sehr, sehr viel. Und er weinte auch, sehr, sehr viel. Dagegen schlief er kaum. Jetzt sieht er schon ziemlich groß aus. Doch er bewegt sich nicht viel. Er sagt nichts. Manchmal möchte ich ihn zum Lachen bringen. Aber das interessiert ihn nicht. Er tut so, als sähe er mich nicht, als hörte er mich nicht.

Mein kleiner Bruder, er schaut immer nur in die Luft. Er ist ruhig. Außer manchmal, wenn Mama den Staubsauger laufen lässt oder etwas zum Kochen aufsetzt; wenn wir durch einen Tunnel fahren oder wenn wir “alles Gute zum Geburtstag” singen. Wenn Besuch kommt und er keine Lust danach verspürt; wenn man ihm die Nägel schneiden soll; wenn man in die Hände klatscht und wenn man ihm die Haare schneiden will. Dann wird er ganz wütend, und das ist dann gar nicht lustig. Daher schneiden ihm meine Eltern immer die Haare, wenn er schläft. Ganz vorsichtig.

Mein kleiner Bruder geht in den Kindergarten, aber er spielt nicht mit den anderen Kindern. Er schaut immer nur in die Luft. Jedenfalls fast immer. Wenn wir spazieren gehen, starren ihn die Leute an, denn mein Bruder macht dann manchmal komische Gesten. Er flattert mit den Armen, als wenn er fliegen wollte. Manche Leute scheinen Angst davor zu haben, als wenn das eine ansteckende Krankheit wäre. […]

Treppensteigen mag er auch. Aber nur, so lange es nach oben geht. Damit hört er nicht auf, er steigt und steigt….

Mein kleiner Bruder ist ein Prinz und Dirigent eines Orchesters. Ich wäre gerne eine Fee, dann könnte ich ihm einen Zauber schicken. Ich würde bei ihm auf Mond schlafen, damit er schließlich zu uns käme. Wir haben eine Sprache erfunden, mein kleiner Bruder und ich… So verstehen wir uns und können zusammen spielen. Das ist so toll!

Der Mond ist eine Welt, die wir schlecht kennen. Wir waren dort, aber wir haben nicht gut geschaut. Um den kleinen Mann zu verstehen, müssen wir uns setzen, ihn ansehen und uns weniger um seine seltsamen Bewegungen kümmern, als darum, ihn von unserer Welt kosten zu lassen. Wir müssen sehr geduldig sein und einen goldenen Faden vom Mond bis zu unserer guten, alten Erde weben. Wie weit wird uns mein kleiner Bruder vom Mond entgegen kommen? Wie nah werden wir an ihn gelangen?“

Lovaas / Applied Behavior Analysis

“Mein kleiner Bruder vom Mond” wurde mir von einem spanischen Freund und Kollegen empfohlen, dessen ältester Sohn selbst Asperger-Autist ist. Nach einer Odyssee, die nicht wenige betroffene Eltern erleben, die jedoch in diesem Fall zum Glück schließlich zur richtigen Diagnose führte, wird der jetzt Siebenjährige seit einigen Monaten psychotherapeutisch nach dem Prinzip der “Angewandten Verhaltensanalyse” (Applied Behavior Analysis) behandelt.

Die Grundlagen dieser Methode wurden durch die amerikanischen Psychologen B.F. Skinner und vor allem Ole Ivar Lovaas begründet. So konnte Lovaas als Erster zeigen, dass selbst autistische Kinder lernen können, ihr Verhalten zu ändern, um sich besser in unserer Welt zurechtzufinden.

Das Besondere an Lovaas’ Methoden ist, dass unangemessene Verhaltensweisen wie beispielsweise Stereotypien, Aggressionen oder das Vermeiden von Augenkontakt durch Schaffung eines für das Lernen günstigen Umfeldes und entsprechenden Reiz-Reaktions-Mustern konditioniert werden können, so dass auch diese Kinder es schließlich schaffen, sich in unserer Gesellschaft zu sozialisieren.

Die Therapie ist aufwändig, da sie vor allem Zeit und Energie kostet. Doch der Sohn meines Freundes macht gute Fortschritte, auch wenn er in manchen Bereichen im wahrsten Sinne des Wortes noch hinterherhinkt. Vor kurzem haben seine Eltern zur Feier der ersten Erfolge eine Party organisiert, zu der er alle seine Freunde einladen durfte: neun Mädchen. Was für eine Fiesta!

  PartyConSusChicas
Girls only – Autismus schützt offenbar nicht vor frühem Erfolg beim anderen Geschlecht… (Credit: Foto mit freundlicher Genehmigung von Dr. E. Cerezo).

Quelle / weiterführende Literatur:

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

29 Kommentare

  1. Das Besondere an Lovaas’ Methoden ist, dass unangemessene Verhaltensweisen wie beispielsweise Stereotypien, Aggressionen oder das Vermeiden von Augenkontakt durch Schaffung eines für das Lernen positiven Umfeldes positiv konditioniert werden können, so dass auch diese Kinder schließlich lernen, sich in unserer Gesellschaft zu sozialisieren.

    Der Begriff “positive Konditionierung” ist mir aus dem Kontext des Behaviorismus nicht bekannt. Ich kenne unter anderem “positive Verstärkung”, die aber die Auftrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens noch verstärkt.
    Es gibt natürlich im Behaviorismus noch andere Begriffe für Prozesse/Effekte, die unser Verhalten beeinflussen.

    Was war in diesem Fall genau gemeint?

  2. Vielen Dank für die Anmerkungen und die Frage. Gemeint ist die von B.F. Skinner geprägte Konditionierung, d.h. das Aneignen von Reiz-Reaktions-Mustern (Stimulus-Response). Ich habe die Passage jetzt hoffentlich etwas deutlicher formuliert.

    Das Verbal Behavior Verfahren (Applied Behavior Analysis, ABA) ist quasi eine Weiterentwicklung der von Lovaas entwickelten Methode und beruht auf der Idee, dass die Bedeutung eines Wortes in dessen Funktion und nicht im eigentlichen Wort liegt. Denn erst wenn das Kind nicht nur eine Vokabel auswendig lernt, sondern auch die Funktion eines Wortes begreift, wird es in der Lage sein, sich damit auszudrücken bzw. andere zu verstehen. ABA/Verbal Behavior trainiert dieses Verständnis und wird dadurch zu einer sehr wirksamen Intervention für autistische Kinder.

  3. Leider ist mit “genetische Ursache” gar nichts erklärt. Und es ist noch nicht mal sicher, ob da was dran ist, wenn man sonst nichts erlären kann.
    So bleibt die Aussage “genetische Ursache” eine andere Variante von “keine Ahnung” oder “ich sags euch nicht”.

    Man weiß also nichts (oder sagt nichts). Und nicht ausgerechnet “wissen wir um die genetischen Einflüsse”. Man argumentiert immer mit Korrelation.

    Die “genetischen Einflüsse” sind der These nach überall verantwortlich für etwas. Deswegen ist es auch banal und nichtssagend, wenn man sonst wenig genaueres dazu sagt.

    Es gibt zu solchem Szenario ein schönes Gleichnis aus jedermans Alltag. Welche Ausrede etwas nicht zu kaufen fällt einem am leichteten und ist am unverfänglichten?
    Genau: “kein Geld dafür da”.
    Und diese “Ausrede” ist schlicht überall angewendet – also ist Geld ein Scheinargument. Eben, wie es die “genetischen Einflüsse” sind. Jeder wird dann immer leicht zustimmen können und nicht weiter hinterfragen.

    Ohhhhooh ja, die Gene. Da kann man nichts machen….

    Ein Freifahrtschein mit dem alles weitergehen kann, wie bisher.

    • Die genetischen Ursachen der Autismus-Spektrum-Störungen sind äußerst komplex und waren nicht Thema dieses Beitrages. Hier noch einmal die Stelle aus meinem älteren Blogartikel zum Thema Autismus, auf die ich bereits oben im Text verwiesen habe (https://scilogs.spektrum.de/medicine-and-more/autismus-fehlfunktion-der-schaltkreise-im-kopf-kann-reversibel-sein/):

      “Während Autismus lange Zeit als psychologische Erkrankung verkannt wurde, gehen Forscher heute davon aus, dass die Störung zu mehr als 90 Prozent genetisch bedingt ist. Ein zentraler Risikofaktor für die Entstehung von Autismus sind zahlreiche Mutationen in über 300 Genen. Eines dieser Gene ist Neuroligin-3, welches zur Bildung von Synapsen, den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, beiträgt.”

      • Schon recht was sie sagen. Ich wollte es nur noch mal erwähnt haben, dass es mit den Genen nicht so eindeutig ist, wie der unbedarfte Rezipient solcher Aussagen leicht imaginiert.

        Und ich bin noch lange nicht überzeugt, dass Gene die richtige Erklärungsschiene sind. Vor allem nicht, wie es derzeit getan wird. Eben dass das genetische über allemsteht.
        In ihrem Linkttext steht dann auch, dass die Genaktivität verändert ist.

        Die meisten, die was von “genetisch bedingt” lesen, denken sofort: Behindert, unvollständig und unzurechnungsfähig und also “kein Mensch”, wie er soll. Weil sofort assoziiert wird, die “gene” seien gar nicht da oder andere an der Stelle. Das läuft auf “Genetismus” hinaus – der schlicht der Nachfolger eines irgentwie imaginierten Rassismusses ist/wäre.
        Und auch, wenn deutliche autistische Merkmale sonderbare Gefühle in uns erzeugen, sollte dabei der Krankheitsbegriff wirklich mal überdacht werden – wie bei vielen anderen “Krankheiten”.

        Das Problem nämlich sei:

        Was “gesund” sei, ist aus einer Betrachtungsperspektive erzeugt worden, die ebenso abgründig ist und die die kriterien für “gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” erfüllt.

        Tausende junge, unauffällige (der kulturel gedeuteten Perspektive darauf – Bildung, Charakter und Verhaltensweisenbetreffend), ästhetisch ansprechende (im Verhalten und Interaktion einer idealistischen Vision folgend) und “gesunde” Probanden in den Messgeräten und Versuchsumgebungen stehen für das Beispiel der idealen “Normalität” einer Existenz – ergo für “Gesundheit”. Alles, was abweichend existiert, ist logisch schlüssig “krank”.

        Dabei wird uns an anderer Stelle allerhand erzählt und weißgemacht, dass Perfektionismus keine Pflichtveranstaltung sei. Also auch mal ein Alltagsgegenstand (ästhetisch) fehlerhaft sein darf, wenn er nur seine Funktion halbwegs erfüllt.

        Die “Funktion” des Menschen ist: zu leben – vor allem anderen. Was danach kommt, darf gerne verhandelt werden, aber nicht demokratisch, sondern mit dem betroffenem als Bezugssystem egoistisch. Denn ich würde mich nie wieder auf die “Mehrheitsgesellschaft” verlassen wollen (müssen), wenn sie es jederzeit locker zustande bringt, von sich auf andere zu schliessen – und zwar völlig unreflektiert und unkritisch.

        Ersteinmal ist es also schlcht Devianz – und nicht “Krankheit”.

        • “Die meisten, die was von “genetisch bedingt” lesen, denken sofort: Behindert, unvollständig und unzurechnungsfähig und also “kein Mensch”, wie er soll.”

          Eine derartige Assoziation bezweifle ich, so ungebildet ist doch heutzutage kaum einer mehr. Alles mögliche ist genetisch bedingt (zB das wir zwei Beine haben, oder andere Arbeitsgedächntniskapazitäten haben als Affen). Dass eine Population mit einem breiten Genpool auch eine Vielfalt von Merkmalsausprägungen generiert, ist doch nicht ungewöhnlich – vielmehr ist das biologisch sinnvoll, da somit eine Pufferwirkung garantiert wird. Genetische und soziokulturelle Vielfalt ist daher unbedingt wünschenswert, dazu gehören auch Menschen mit ASD oder anderen Abweichungen (unabhängig von der Richtung der Abweichung).

          “Und ich bin noch lange nicht überzeugt, dass Gene die richtige Erklärungsschiene sind. Vor allem nicht, wie es derzeit getan wird. Eben dass das genetische über allemsteht.”

          Ich verstehe nicht, wo Ihre Abneigung gegenüber genetischen Erklärungen herrührt. Es gibt ein Spektrum zwischen “nature & nurture”. Dabei liegen zum Beispiel Phenylketonurie, Lesch-Nyhan-Syndrom, Williams-Syndrom ganz außen auf der “nature”-Seite: diese Syndrome sind zu 100% genetisch bedingt. Posttraumatische Belastungsstörungen etwa sind auf der anderen Seite. Man geht heute davon aus, dass Autismus zu 90% genetisch bedingt ist. Das sind nicht 100%, dh. auch die Umwelt spielt eine Rolle. Was eine gute Nachricht ist, denn das gibt Hoffnung, dass man mit geeigneten Therapien negative Symptome (zB. Belastungen in sozialen Situationen) vermindern kann.
          Sie sehen das in meinen Augen zu negativ, in dem Sinne, dass man das “Abnorme” bekämpfen will, autistische Menschen an die Norm angleichen will. Ich denke nicht, dass das der Fall ist.

          • Das man autistische Menschen “angleichen” will, ist unleugbar. Das gilt auch für alle anderen “Krankheiten”. Jedes Streben nach Therapie ist das Streben nach Angleichung an sein eigenes Weltbild und darin enthaltenen Idealen – leider. Individuelle Perspektiven des Subjekts interessieren da nur am Rande – zur Rechtfertigung.

            Dass da letztlich das Ideal nicht erreicht werden kann, ist zwar klar, hält aber niemanden wirklich davon ab. Und noch übler ist es, den Menschen einen Leidensdruck einzureden/zu suggerieren, um Therapiewilligkeit herzustellen – also ein mindestmaß an Kooperation. Mag auch ein Leidensdruck da sein. mit den Veränderungen durch eine Therapie aber wird es für solche Menschen zuweilen schwieriger, als es vorher war. Wobei hier gilt, je früher im Leben, desto unauffälliger. Spättherapierte haben es aufgrund der allzubewussten Veränderung extrem schwierig bis unmöglich. Das ist bekannt – und endet nicht selten in der Entwicklung anderer psychischer Störungen; etwa eine latent schizophrene Tendenz, wegen der drastischen veränderungen im Selbsterleben der Therapierten.

            Neuerdings hört man, dass Autisten gar quasi-begehrte Sonderlinge im Berufsleben seien und für sie besondere Arbeitsumgebungen geschaffen werden – in durchaus realen Betriebsumgebungen der Wirtschaft. Mir steckt diese Realität etwas queer im Hinterkopf.

            Zur Gen-Thematik:
            Was mich daran stört, ist die banalst zurgundegelegte Ursachenzuweisung – in so ziemlich jedem Szenario/Krankheit. Mit “genetisch bedingt” erklärt man eben nur, dass da quasi “gottgegeben” nichts zu machen sei – also sei auch nichts besonders zu erklären – außer eben “alles genetisch”.
            Und es ist nicht die genetische Erklärung, die mich abstößt, sondern die Aussage: “zu ~50 % genetisch bedingt” und dazu weiter nichts zu erklären. Sowas ist standard und geht in eine falsche Richtung mit der Fokussierung auf die Normabweichung. Zumindest, wenn auch die Fachdisziplinen detailiertes Wissen darüber besitzen, die fachfremden Rezipienten imaginieren anders. Und das, was die Rezipienten imaginieren, bildet letztlich einflußreich den Blick auf eine Problematik im Alltag. Daraus entsteht eine unzulässig hohe Belastung von Betroffenen und damit eine Art latente Diskrimminierung. Dass zwar damit transportiert wird, der/ie Betroffene könne nichts dafür, weil ja “genetisch”, macht das Problem nicht einfacher zu ertragen. Niemand, wirklich niemand kann etwas für seine Existenz – jeder kann nur mehr oder weniger erfolgreich daran arbeiten, sie anzupassen und abzustimmen auf die vermeindlichen Erfordernisse des Lebens in “dieser” Gesellschaft. Dass dabei von sogenannter “Krankheit” betroffene mehr zu leisten haben, wird unausgesprochen und völlig unkritisch vorrausgesetzt – die Überforderung ist vorprogrammiert – ohne dass es dafür eine Kompensation gäbe. Weil Krankheit fällt ja vom Himmel.

            Und meine Tendenz und Meinung geht dahin, dass eben nicht alles genetisch bedingt ist, was man derzeit dafür hält. Dafür sind Umwelteinflüsse viel zu präsent. Das ist aber den meisten Menschen nicht bewusst genug – selbst hochgebildete Spezialisten erkennen nicht, wie uns das Leben und seine Einflüsse selbst beeinflusst. 90 % ist bei Autismus dann wieder eine Anmaßung – außerdem mir völlig neu: neulich erst habe ich wieder was von “zu 50 %” gelesen. Aber Anyway.
            Es gibt jedenfalls schlicht auch noch molekulare Erklärungen neben der genetischen Ausrede.

            Mit meiner Kritik am Geneinfluß lege ich meine Hoffnung offen, dass da noch was zu machen sei. Aber eben nicht einfach so, dass man eben einen Idealzustand a priori vorgibt und dann wildest drauflos forscht und therapiert, ohne dem Betroffenen darin Einblick und Einspruch zu gestatten – also eigene Interessen an seiner Situation zugesteht zu haben.

            Zitat:
            “Dass eine Population mit einem breiten Genpool auch eine Vielfalt von Merkmalsausprägungen generiert, ist doch nicht ungewöhnlich – vielmehr ist das biologisch sinnvoll, da somit eine Pufferwirkung garantiert wird. Genetische und soziokulturelle Vielfalt ist daher unbedingt wünschenswert, dazu gehören auch Menschen mit ASD oder anderen Abweichungen (unabhängig von der Richtung der Abweichung).”

            -> Ja, wenn das dann mal auch so wäre – mit der wünschenswerten Vielfalt und deren Anerkennung.
            Die Denkfalle aber steckt in der Vision einer “Pufferung”, die letztlich nur was aussagt über die Überlebensfähigkeit einer Population. Nicht über die situationen des Einzelnen. Hochkulturen nutzen dass dann nur, wenn die Kacke am dampfen ist – ansonsten wird diese mit aufgesetztem Stolz als “Vielfalt” bezeichnete Devianz von ihr behandelt, als seien jene vom Mars – also Aliens oder so.
            Man will selbst eigentlich nie als Notnagel einer solch undifferierten “Population” gelten, sondern doch eher schon als etwas “normales”, individuelles. Wir sind auch Subjekte. Aber das geht einer Gesellschaft immr dann am Arsch vorbei, wenn sie mangels Anpassungsdruck in einen anderen Modus übergeht (etwa den sozialdarwinistischen Modus im modernen Output-orientierten Quantitätswettbewerb, der sofort alle anderen Lebensbedingungen und Bedürfnisse leugnet/ignoriert).
            Da hilft dem Subjekt die Vision einer “Nützlichkeit” der Vielfalt in Gesellschaft und Population nicht weiter. Das ist letzlich schlicht überspringende “Sozialromantik” – falsch verstandene und falsch kontextierte.

          • hmmm, ich kann Ihre Argumentation nicht so recht nachvollziehen..

            Ein Beispiel: Ich habe eine Missbildung meiner Hand. Die ist genetisch bedingt (zu 100%, sogar die genaue Position der Depletion in der Aminosäuresequenz ist bekannt). Man konnte aber chirurgisch korrigierend eingreifen. Meine Hand sieht jetzt zwar nicht ganz perfekt aus, aber ich kann sie trotzdem gut benutzen.

            Sie setzen “genetisch bedingt” mit “nichts zu machen” gleich. Das ist aber nicht richtig (wie oben gezeigt). Es ist sogar so, dass die Ursache (Genetik oder Umwelt) überhaupt keine Rolle spielt für die Therapie. Ebenso hätte meine Missbildung ja auch durch einen Unfall verursacht worden sein können, die chirurgische Korrektur hätte ich dann genauso sehr begrüßt.
            Ob es sich um körperliche oder geistige Behinderung handelt, ist für diese Frage übrigens irrelevant.

            “Jedes Streben nach Therapie ist das Streben nach Angleichung an sein eigenes Weltbild und darin enthaltenen Idealen – leider. Individuelle Perspektiven des Subjekts interessieren da nur am Rande – zur Rechtfertigung”

            So wie Sie Ihr Argument aufziehen (“Rechtfertigung”), ist es unwiderlegbar.

            Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung mit Ärzten sagen, dass sie nicht an einer Angleichung an die Norm interessiert waren. Sie wollen den Menschen helfen.
            Z.B. der Arzt der meine Hand operiert hat, hatte nicht das Ziel, dass der Anblick meiner Missbildung für die Gesellschaft besser zu ertragen ist. Er wollte, dass ich mich wohler fühle (wenn ich den Blicken der Mitmenschen ausgesetzt bin) und vor allem, dass ich meine Hand besser benutzen kann. Ich kenne auch einen Kinderpsychologen, der hat ganz sicher das primäre Ziel, den Menschen zu helfen. Das schließt nicht aus, dass auch die Gesellschaft etwas davon hat. Aber ein Kind mit ASD, oder noch besseres Beispiel: ADS) leidet unter Umständen darunter, wenn es nicht normal am sozialen Miteinander teilnehmen kann.

          • @ Diana
            2. Mai 2014 9:19

            Zitat:

            “Es ist sogar so, dass die Ursache (Genetik oder Umwelt) überhaupt keine Rolle spielt für die Therapie.”
            -> Das mag sein. Zumindest derzeit noch. Anders sähe es aus, wenn man tatsächlich genau wüsste, dass eine Fehlbildung eines Handknochenbereichs entstünde, weil die GEne das anzeigen, dann könnte man schon früh genau am Gen oder an seiner Funktion ansetzen. Dann fiele die chirurgische “Therapie” weg – im Idealfall.

            Andererseits ich das alles nicht besonders vertrauenserweckend finde – Genmanipulation oder auch “nur” dessen Funktion künstlich zu erzeugen. Das mag beim Knochen noch hinnehbar sein. Betreffend Gehirnentwicklung (oder Hormon-Regulierung) gehts ans Eingemachteste, dass es in uns gibt.

            Nun ist eine Missbildung an der Hand nur arg grob mit einer vermeindlichen Gehirnfehlentwicklung zu vergleichen. Die Frage ist also doch schon relevant.

            Ja, wie soll ich denn Argumentieren? In der Sache gibts da keine Variablen. Allenthalben legte ich ihnen aus irgend Grund (Chauvinismus oder ä.) eine unscharfe Argumentation dar, damit sie diese zerlegen können und sich dabei gut fühlten.

            Etwas kritisch sei aber doch die Unterstellung, es handle sich uneingeschränkt um ein eigenes Weltbild des Therapierenden. Manchmal ist es auch nur einfach Dienst nach Vorschrift und anerkannter Strategie. Dann sei es schlicht nur Opporunismus – damit das Monatsgehalt zum 1. verbucht werden kann. Die erwähnte “Rechtfertigung” hat auch tendenziel eher mit psychiatrischer Disziplin zu tun – weil dort zu erheblichen Teilen die Heterophänomenologie angewendet wird. Fragende Psychowracks sind nicht sehr willkommen. Autisten gehören mutmaßlich nicht ausgesprochen dazu – aber eine tendenzielle Wahrscheinlichkeit der kooperationsverweigerung besteht auch bei ihnen (Vertrauensfrage).

            Das Ärzte helfen wollen, sei unbestritten. Aber meine Erfahrungen zeigten immer nur bis zu einem gewissen Grad einen echten Kooperationswillen der Ärzte. Eben, wenn Fragen gestellt wurden, die nicht auf der Uni gelehrt wurden (oder so), fiel die Schranke und das wars.
            Liegt es daran, dass ich Kassenpatient bin? Oder daran, dass das “System” der Gesundheitsversorgung “dumm” ist und per Fallpauschalen oder Tagessätzen zur Dummheit gezwungen ist?

            Ja, andere Menschen machen potentiel andere Erfahrungen. Schon weil die persönliche Interaktion nicht gleich ist.
            Inzwischen jedenfalls scheints bei mir so zu sein, das ich eine sehr schlechte Ausstrahlung vor allem auf Ärzte) haben muß, weil wegen den vielen schlechten Erfahrungen und Enttäuschungen mit Ärzten ich selbst mit Verachtung zu ihnen gehe. Dann spiegelt sich nur noch meine Negativität in ihnen.

            Anyway, ich wollte nie eine Liebesbeziehung zum Arzt. Aber detailreiche und spezielle Erklärungen für Symptomatiken – die leider fast alle unzureichend waren; zuweilen verhöhnend. Ich fühle mich diskrimminiert und falsch behandelt (weil schon nicht mal richtig diagnostiziert, woraus sich mein Misstrauen ergibt)

          • @chris: vielen Dank für die Ausführungen, ich kann Sie jetzt besser nachvollziehen.

            Natürlich folgen Ärzte nicht nur Ihrem Eid, sondern sind auch Dienstleister in einem immer marktwirtschftlich werdenden Gesundheitssystem. Das ist in der Tat eine beunruhigende Entwicklung, denn es stimmt, auch ich bin mir nicht immer sicher, ob eine Behandlung, eine Medikation, immer notwendig ist, oder ob auch pekuniäre Interessen mitgewirkt haben.

            Bezüglich Normangleichung: auch will ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich finde, dass alles super ist. Gerade bei meinem eigenen Beispiel ADHS kann ich mir durchaus Fälle vorstellen, dass Kinder, die zu sehr den Unterricht stören, also von der Norm abweichen, weil sie unruhiger und chaotischer sind, medikamentös ruhiggestellt werden, anstatt ihrem Naturell den Raum für Entfaltung zu geben. Das ist aber sicher nicht ausschließlich der Fall und häufig ist sicher eine sehr sorgfältige Abwägung notwendig. Es ist eine trade-off, denn beides geht nicht – freie Entfaltung der Individualtität und Eingliederung in die Gesellschaft. Auch bei “normalen” Kindern, ganz ohne Erziehung geht es nicht. Aber auch hier – auch da stimme ich Ihnen zu – gehen wir einer beunruhigen Entwickung entgegen, die Kinder als optimierbares Kapital ansieht, und der Einsatz von gentechnischen Eingriffen und Neuroenhancement scheint zumindest möglich.

      • Naja, sehr viele Forscher gehen auch davon aus, dass es für psychische Krankheiten eine genetische Ursache gibt.
        Man lese nur in den Zeitungen, wenn wieder von einem Gen für und/oder genetischen Voraussetzungen für bestimmte psychische Krankheiten geschrieben wird. Meist basiert diese Entdeckung auf Korrelation. Natürlich gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen: Etwa Zwilingsstudien, Untersuchungen über das Auftreten der Krankheit in Familien, Genuntersuchungen an Erkrankten etc.pp.
        Es gibt auch Forscher, die andere Ursachen annehmen.

        Autismus, auch Asperger-Syndrom, wird im ICD nach wie vor unter “F” (das für psychische Störungen steht) geführt. Das amerikanische DSM ist ausschließlich ein Manual für psychische Störungen. Natürlich gibt es Experten oder Forscher, die dieser Kategorisierung nicht (mehr) zustimmen würde, sie ist aber (quasi) offiziel.
        Zumindest soweit ich weiß.

  4. Aus der Sicht einer Autistin, die keinen Autismus “hat”, sondern Autistin “ist”, Danke Chris! Denn bei der ganzen Sache mit der Behavioraltherapie geht es auch eher darum, einem Menschen beizubringen, wie er/sie was empfinden SOLL, weil Andere “meinen”, sie würden sich damit “angemessen” verhalten und “meinen”, es würde ihnen damit in der Gesellschaft besser gehen. Aus Autistensicht ist es aber eher umgekehrt. Man lernt das, um es Abderen angenehmer zu machen, damit man überhaupt als vollwertiger Mensch akzeptiert wird. Und das ist die “Milchmädchenrechnung”, welche all diese Forscher, Pädagogen, Therapeuten und Eltern nicht begreifen (wollen).

    • Ein Mindestmaß an Kommunikation und Interaktion mag ja wünschenswert sein – für alle Beteiligten.

      Eine Behavioraltherapie im Sinne von nachdrücklichem, aber endoffenen Umgangsverlauf ist da nicht die schlechteste Strategie. Ich bezweifle aber auf eigenen Erfahrungen, dass es ausschliesslich mit permanenter “Übung” sozialer Interaktion getan sei. Eine Grundlage wäre ja, den Betroffenen aus der introvertierten Haltung in eine extrovertierte zu “holen”. Das geht nur mit einer Art “Reizüberflutung” – entweder von Extern oder durch chemische Unterstützung, sodass von Intern auf übliche normale externe Reize mehr reagiert wird. Und da gäbe es einige Möglichkeiten. Etwa Esterasehemmer, die die Sinneswahrnehmungsfähigkeit steigern, also auch mehr Reaktionen auf externe Reize auf neuronaler Ebene erzeugen. Bei Überdosierung endet dass aber offenbar in Zustände, die einer ADHS-Symptomatik ähneln. Man reagiert dann völlig ungewohnt unselektiv /ungefiltert (wegen fehlender Übung aufgrund der schlagartigen Veränderung) auf alle externen Reize – was schlicht leicht zu Panik-Attacken führen kann. Es mag auch noch andere ähnlich wikrende Substanzen geben.
      Schlicht ist das Ziel dieser Strategie, eine Veränderung des bestehenden Aktivitätsverhältnisses von Symphatikus und Parasymphatikus zu erreichen – woraufhin bei einer erfolgreichen “Optimierung” dieser entgegenwirkenden Systeme eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Umfeld zu erwarten ist, anstatt eine überwiegend intrinsische Haltung und Bewusstseinsaktivität.

      Autismus “haben” oder Autist “sein”… ich bin noch nicht mal so richtig glücklich darüber, dass man derart differenziert. Das ist ja meine Kritik: sichtbare Devianz lässt Gesellschaften tendenziel solche schnell und unkritisch pathologisieren. Und diese “Deutung” kommt aus dem Alltagsleben, nicht primär aus der Wissenschaft. Die Wisenschaft ist aber letztlich gezwungen, im Sinne der Deutung der Mehrheitsgesellschaft zu forschen – also deren Paradigmen daran anzupassen. Da kann man noch so naiv von freier Forschung dahersabbeln. Da geht nichts ohne die “richtige” Orientierung. Das ist nicht unbekannt – und steht nicht nur im Zusammenhang mit “Drittmitteln”, wie man immerzu hört, was es da für Fallstricke gibt.

    • In ähnlicher Weise/strategie wird – so hört man aus einschlägiger Literatur und sonstigen Gerüchten – bei der Scientologie beim “Auditing” “therapiert”. In einer direkten Konfrontationssituation (physisch und psychisch/kognitiv) wird quasi Zwangskommuniziert und interagiert.
      Wie man aber auch hört, ist es wohl nicht selten, dass dabei sehr belastende und präsente Kopfschmerzen auftreten. Da fragt sich dann, was dabei vorgeht und was noch im Spiel sei (hinsichtlich meiner Erfahrung und Mutmaßung, es sei allein mit der “Übung” von Kommunikation nicht getan).
      Ich jedenfalls habe seit über 3 Jahren dauerhaft und tägliche Kopfschmerzen. Und ich bin mit Sicherheit Autist im bekannten Spektrum “gewesen” – aber nie diagnostiziert.

      Solche Begebenheiten und deren “Zusammendenken” führte bei mir zur Erkenntnis, dass dieses Autismusspektrum sich nicht nur innerhalb der anerkannten akuten Symptomatik befindet, sondern eigentlich eine viel breiteres Spektrum hat – bis hin zum schlüssigen Szenario, dass es eben eine Bandbreite zwischen zwei Extremen bei allen Menschen gibt – und die Hauptproblematik der akuten Symptomatik (Autismus) dabei in der übermäßig bestehenden Introvertiertheit besteht. Und andere Symptomatik/en mutmaßlich nur Nebeneffekte einer aus dieser Eingangsbegebenheit folgenden “dysfunktionalen” Umweltinteraktion entstammen.
      Was auch wieder nur an der Oberfläche und Verhaltensweisen abgelesene Eigenschaften seien, die wiederum ihre molekularen und organischen Bedingungen haben müssen.
      Bei den Begriffen (und Eigenschaften) Intro- und Extrovertiert kann man leicht an banalen Assoziationen hängen bleiben – etwa, dass die Bandbreite gar nicht so groß sein kann, wenn man Beispielhaft seine oberflächllichen Wahrnehmung im Alltag folgt. Und eine zu ausgeprägte Extrovertiertheit mit Hyperaktivität zu vergleichen, gar beide widerspruchsfrei in einer Kausalkette zu bringen, kommt einem nicht in den Sinn. Wird doch immer jede “Krankheit” einzeln betrachtet (sicher, weil eben auch oft nur die deutlichsten Symptome sich zur Diagnose und Therapie “anbieten”, aufdrängen).

    • Ach was, wo denken sie hin – Herr Doktor. Das ist nur eine Klassifikation/Kategoriesierung aus an der Oberfläche sichtbaren wesendlichen, differenzierbaren Grundeigenschaften und Verhaltensweisen.
      Gewisse eindeutige organische Fakten stehen offenbar derzeit nicht zur Verfügung – wenn man sich umhört, ist da nichts zu finden.

      Auch dass man ein “Autismus-Spektrum” visioniert, lässt eine Festlegung nicht so eindeutig zu. So recht “stabil” ist da also noch nichts.

      Allenthalben mag man wieder korrelierende Gene gefunden haben. Aber sie zu erklären, dauert noch.

      • Danke für Ihre Nachricht, Ihr Kommentatorenfreund hätte sich natürlich selbst schlau lesen können, wünschte sich aber vorab eine fachliche Einschätzung.
        Die Asperger-Diagnose ist also wohl nicht ganz unproblematisch und nutzt wohl nicht immer dem Diagnostizierten (der ansonsten womöglich einfach sein Leben führen würde, in Abhängigkeit zur Schwere der Störung natürlich nur).
        Besonders auch skrupellos Vorgehende, Leute, die mit Bären oder Menschen wie mit Gartenzwergen hantieren, sollen ja oft betroffen sein.
        MFG
        Dr. W

        • Könnte sein, dass ich betroffen bin (war).

          Tut mir leid, wenn es als skrupellos empfunden wird.

          Dass sie jetzt nicht wissen, ob das ernst gemeint gewesen, liegt nicht zwingend daran, dass ich einst “betroffen” gewesen…!

    • “Stabil theoretisiert” ist mir nicht bekannt.
      Es gibt – wie so oft – sehr viele verschiedene Theorien. Manche davon gelten mittlerweile als weitgehend veraltet.
      Übrigens ist die Hypothese von der ungefilterten Reizaufnahme, von der man heufig hört, auch nur eine unter anderen. Andere Forscher gehen von anderen Ursachen aus. So etwa männliche Sexualhormone in der Schwangerschaft oder eine Veränderung der “Spiegelneuronen”.
      Es gibt sogar die Meinung, “Autismus” sei eine Sammelbezeichnung für verschiedene Erkrankungen, die sehr ähnliche Symptome, aber andere Ursachen haben (jedenfalls habe ich von einer solchen Studie gelesen) usw.

      Es ist hier nicht leicht, sich in der Fülle der Publikationen zurecht zu finden.

      Beantwortet das annähernd die Frage?

  5. Ohne mich im Detail mit Autismus auszukennen , kann ich chris verstehen , im Zeitgeist der letzten Jahrzehnte und ganz besonders in Deutschland gibt es eine grundsätzliche Neigung , alles genetisch zu erklären und psychologische , soziologische und andere Ursachen so ein bißchen unter den Teppich zu kehren.
    Wenn dann tatsächlich mal genetische Ursachen im Vordergrund stehen sollten – was ich an dieser Stelle nicht beurteilen kann – dann will man dem eben nicht mehr so recht glauben.

    @Diana

    “Eine derartige Assoziation bezweifle ich, so ungebildet ist doch heutzutage kaum einer mehr. ”

    Ich will Ihnen den Optimismus nicht nehmen , aber ist das nicht ein wenig zu positiv?
    Wenn ich mir anhöre oder durchlese (nicht an dieser Stelle), was so mancher Zeitgenosse von sich gibt , würde ich nicht zuerst auf das Stichwort “gebildet” kommen , um es mal vorsichtig zu formulieren.

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar, ich schätze Ihre Meinung und besonders Ihren angenehmen Ton – so macht es Spaß zu diskutieren.

      “im Zeitgeist der letzten Jahrzehnte und ganz besonders in Deutschland gibt es eine grundsätzliche Neigung , alles genetisch zu erklären und psychologische , soziologische und andere Ursachen so ein bißchen unter den Teppich zu kehren.”

      Es ist interessant, dass Sie das so einschätzen, mein Eindruck ist eher das Gegenteil. Vielleicht gibt es auch ein Gefälle dahingehend, dass (Natur)wissenschaftler genetische Einflüsse eher überbewerten während naturwissenschaftliche Laien Genetik eher kritisch gegenüberstehen (Stichwort Gentechnik), nicht differenzieren und negative Assoziationen dann auf den Gesamtbegriff beziehen. Dass unser Verhalten genetischen Einflüssen (ich würde lieber den Begriff “Grenzen” verwenden) unterliegen, ist aber bei Lichte betrachtet weder ungewöhnlich noch bedrohlich.
      Man kann es vielleicht so formulieren: Genetische Einflüsse determinieren die Grenzen innerhalb dessen sich Verhalten ausprägen kann und auch nur innerhalb dieser Grenzen können sich psychologische und soziologische Einflüsse entfalten. Naturwissenschaflter sehen allerdings sehr häufig diese Grenzen als viel zu eng!

      • @Diana

        Vielen Dank zurück.
        Kommt wohl tatsächlich darauf an , aus welcher Warte es gesehen wird.
        Gentechnik scheint mir gar nicht so der Punkt zu sein , eher machen psychologische Zusammenhänge viel aus , dort gibt es in der öffentlichen Debatte – so sie denn stattfindet – eine starke Neigung zu etwas , was man vielleicht als Determinismus bezeichnen könnte und was sich ungern mit besseren Machbarkeiten beschäftigt , auch weil sich sonst unbequeme Fragen stellen könnten , die in andere Bereiche hineinreichen.

        “Genetische Einflüsse determinieren die Grenzen innerhalb dessen sich Verhalten ausprägen kann und auch nur innerhalb dieser Grenzen können sich psychologische und soziologische Einflüsse entfalten. ”

        Ziemlich treffend , und man kann in diesem Satz die Einflüsse untereinander austauschen .

  6. Als Vater eines Kindes mit Asperger-Syndrom, kombiniert mit ADHS, kann ich sagen, das unser Kind schon sehr früh “spezielle” Verhaltensweisen zeigte, die durch keinerlei besondere Einflüsse des umgebenden Umfeldes zu erklären waren. Manifestiert und bestätigt wurden die Besonderheiten im Sozialverhalten im Kindergarten mit ca 3 Jahren. Nach diversen Diagnostk-Versuchen wurde im Alter von 6 Jahren die obige Diagnose gestellt – verbunden mit sehr guten kognitiven Fähigkeiten. Ich sehe dieses “besonders” sein als eine – zuweilen für alle Beteiligten anstrengende und kräftezehrende – Spielart der Natur im weiten Spektrum der menschlichen Individualität an. Für mich persönlich spielt die genetische Komponente in jedem Fall eine Rolle, wobei das persönliche Umfeld und dessen Reaktion auf die Nonkonformität des Betroffenen mit “allgemeingültigen” Verhaltensregeln im Verlauf der Entwicklung eine zunehmend größere Rolle spielt. Der Druck, der sich zumindest bei meinem Sohn dadurch aufbaut, bei Klassenkameraden und Lehrern akzeptiert zu werden, ist enorm und es ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung, den geeigneten Weg für ihn zu finden. Ohne kompetente, fachliche Hilfe und ständige Kommunikation aller involvierten Personen wäre eine inklusive Beschulung nicht möglich.
    Fazit: Wie groß letztendlich der genetische Einfluß sein mag, sei dahingestellt, für den Betroffenen sollten in jedem Fall die Möglichkeiten ausgelotet und bereitgestellt werden, sich Sozialkompetenzen bis zu einem gewissen Grade anzueignen, denn so manchem Aspie ist es keinesfalls egal, wie er von seiner Umwelt wahrgenommen und “bewertet” wird.

    • “…Spielart der Natur im weiten Spektrum der menschlichen Individualität an.”

      Ich denke das ist es. Genauso wie z.B. jemand gut darin ist andere Leute zu unterhalten, zu schauspielern oder Geschichten zu erzählen, kurzum: empathisch /emotional talentiert, so gibt es natürlich auch das Gegenteil hiervon – denjenigen, der Talent zum analytischen Denken hat. Man kann aber selten beides gut, von dem einen mehr bedeutet meistens von dem anderen weniger. Gut wäre es, wenn man hier natürlich gegebene Talente erkennt und nicht nur auf vermeintliche Defizite abstellt. Bei richtigen Autisten sieht es natürlich etwas schwieriger aus.

  7. @ Trota
    Ist Ihnen tatsächlich nicht bekannt, daß ABA von den meisten Betroffenen als eine folterähnliche Menschendressur betrachtet wird, die zwar angenehme Resultate für das soziale Umfeld des Kindes haben mag, nicht aber für das Kind selbst hat?
    Falls nicht ->
    http://realitaetsfilter.com/2013/05/21/ist-das-noch-pavlov/
    http://aspergerfrauen.wordpress.com/2013/05/21/blos-nicht-zu-nett-sein-eine-zeitung-erklart-was-autisten-brauchen/
    Falls doch ->
    Warum stellen Sie dann ABA als vollkommen unumstritten dar?

  8. Vielen Dank allen Kommentatoren für die interessante Diskussion zu diesem Thema.

    Wir alle lernen durch Verstärkung, auch wenn das natürlich nicht immer positiv ist. Jedes Lob kann uns beeinflussen, genauso wie jeder Tadel. Erziehung ist folglich immer auch Konditionierung ist nicht immer bequem. https://www.uni-due.de/edit/lp/behavior/skinner.htm Doch am Ende sollte jedem die Chance und das nötige Rüstzeug für ein eigenständiges Leben gegeben werden.

    Natürlich ist die Angewandte Verhaltensanalyse (ABA) nicht für jeden empfehlenswert und auch nicht für alle realisierbar. Hier sollte in jedem Fall individuell entschieden werden. Aus eigenen Erfahrungen und wie einige Kommentatoren es hier ja auch wunderschön formuliert haben, kann dieser Ansatz sehr hilfreich sein, gerade für die Betroffenen.

    Hier noch ein vielleicht für viele “grausam” anmutendes Beispiel für eine erfolgreiche individuelle Therapie: Temple Grandins Pressmaschine. Rinder werden zum Impfen in ähnliche Apparate gepfercht. Temple Grandin, Psychologin, Dozentin für Tierwissenschaften und Autistin, erkannte die paradoxerweise beruhigende Wirkung dieser Apparatur und baute sich in ihrer Pubertät selbst einen solchen “Behandlungsstand”. Noch heute benutzt sie ihn erfolgreich, um sich zu beruhigen. http://de.wikipedia.org/wiki/Temple_Grandin

  9. @Trota
    Meine Frage (Anschlußfrage) ist damit nicht beantwortet. Für mich ist bisher nicht einmal der Versuch einer Antwort zu erkennen. Deshalb verweise ich noch einmal auf die von mir gestellten Fragen und bitte um deren (und auch nur deren) Beantwortung.

    Sollte es sich dennoch dabei um einen Antwortversuch handeln ->
    [Grandins “Pressmaschine” hat mit ABA so wenig gemein, daß ich anstatt eine sehr lange andauernde Aufzählung der Unterschiede zu beginnen, nur den wesentlichsten Unterschied nenne, welcher die Problematik mit dieser “Therapie” am besten zu verdeutlichen geeignet scheint; Grandin hat die vollständige Kontrolle über den Apparat. Deshalb ist daran ganz im Gegensatz zur Festhaltetherapie nichts Grausames. ABA hingegen degradiert das Kind zu einem Objekt, dessen Verweigerung schlicht nicht akzeptiert wird. In diesem Zusammenhang eine solche Formulierung zu verwenden(“Hier sollte in jedem Fall individuell entschieden werden.”), kann man Ihnen sehr zu Ihrem charakterlichen Nachteil auslegen, was zumindest meine Person zu diesem Zeitpunkt nicht tut. Ich schlage Ihnen vor, diese Aussage zu paraphrasieren. Tatsächlich sollte ein Individium IN JEDEM FALL seine eigene Entscheidung treffen dürfen. Und diese gilt es dann auch zu akzeptieren.
    Im Übrigen sei Ihnen zu bedenken gegeben, daß eine operante Konditionierung gegen den Willen des Betroffenen bei jedem und damit letzlich auch bei Ihnen möglich wäre. Ich nehme nicht an, daß Ihnen diese Vorstellung Wohlbehagen vermitteln dürfte. Zumindest bei mir ist dem nämlich so. In diesem Sinne möchte ich doch um die allgemein so oft beschworene Empathie gegenüber den entsprechenden Menschen bitten.]

    Mit vorsichtigen Grüßen, der Bitte um Antwort und vorausgehendem Dank für die Beherzigung der Kritik.

  10. Natürlich kann das Konditionieren funktionieren, nur funktioniert es nicht immer. Aber wichtig ist, dass es erste Fortschritte bei einigen Autisten gibt. Noch viel schöner finde ich, dass viele Kinder mit autistischen Kindern klar kommen – manchmal fast sogar besser.

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