Autismus: Fehlfunktion der Schaltkreise im Kopf kann reversibel sein

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Kontakt mit Freunden und Familie, Small-Talk, Chaos im Alltag – für Autisten sind diese Selbstverständlichkeiten oft ein Albtraum. Vor kurzem identifizierten Forscher nun eine spezifische Fehlfunktion in neuronalen Schaltkreisen, die durch Autismus bedingt ist. Im Fachjournal “Science” berichten sie zudem über einen Therapieansatz, diese Veränderungen im Mausmodell wieder rückgängig zu machen.

Synapsen einer Autismus-MausViel los im Gehirn: Synaptische Verbindungen einer Autismus-Maus
(Foto: Stéphane Baudouin, Quelle: Uni Basel)

Autisten sind besondere Menschen

Autismus (von griechisch αὐτός “selbst”) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt. Etwa ein Prozent aller Kinder entwickeln eine autistische Störung. Das Erkrankungsverhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt 4:1. Die Ursachen für dieses Verhältnis sind bislang unbekannt.

Autistische Störungen machen sich bereits im frühen Kindesalter bemerkbar. Autisten zeigen einen besonderen Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsmodus. Sie fallen oft auf durch ein gestörtes Sozialverhalten, stereotype Verhaltensweisen und Probleme bei der Kommunikation.

Autisten können sich jedoch auch durch besondere Stärken bei Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis und Intelligenz auszeichnen. Bekannte Beispiele sind der Mathematikprofessor Richard Borcherds an der Universität Berkeley oder auch Tierwissenschaftlerin Temple Grandin, die an der Colorado State Unniversity in Fort Collins lehrt und forscht.

Nach den aktuellen Diagnosekriterien wird zwischen frühkindlichem Autismus (Kanner-Syndrom) und dem Asperger-Syndrom unterschieden, das sich oftmals erst nach dem dritten Lebensjahr zeigt. Das Autismus-Spektrum dient zur Differenzierung der verschiedenen Ausprägungen und Symptome von Autismus, wobei die genaue Abgrenzung bei oftmals fließenden Verläufen schwierig sein kann.

Während Autismus lange Zeit als psychologische Erkrankung verkannt wurde, gehen Forscher heute davon aus, dass die Störung zu mehr als 90 Prozent genetisch bedingt ist. Dabei zählen zahlreiche Mutationen in über 300 Genen zu den zentralen Risikofaktoren für die Entstehung von Autismus. Eines dieser Gene ist Neuroligin-3, welches zur Bildung von Synapsen, den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, beiträgt.

Gestörte neuronale Signalübertragung

Mäuse, denen das Gen für Neuroligin-3 fehlt, entwickeln Verhaltensmuster, die wichtige Aspekte von Autismus widerspiegeln.

Die Forschungsgruppen der Professoren Peter Scheiffele und Kaspar Vogt vom Biozentrum der Universität Basel konnten nun bei diesen Modellmäusen einen Defekt in der synaptischen Signalübertragung identifizieren, welcher die Funktion und Plastizität neuronaler Schaltkreise stört.

Diese negativen Auswirkungen gehen mit der verstärkten Produktion eines spezifischen neuronalen Glutamat-Rezeptors einher, der die Signalübertragung zwischen Neuronen moduliert. Ein Überschuss dieses Rezeptors verhindert die Anpassung der synaptischen Signalübertragung bei Lernprozessen. Dadurch wird langfristig die Entwicklung und Funktion des Gehirns gestört.

Besonders interessant ist die Erkenntnis, dass die gestörte Entwicklung der neuronalen Schaltkreise im Gehirn reversibel ist. Denn nachdem die Wissenschaftler die Bildung von Neuroligin-3 in den Mäusen wieder angeschaltet hatten, drosselten die Nervenzellen die Produktion des Glutamat-Rezeptors auf ein normales Niveau. Die für Autismus typischen strukturellen Defekte im Gehirn verschwanden.

Daher könnten diese Glutamat-Rezeptoren ein geeigneter pharmakologischer Angriffspunkt sein, um in bestimmten Fällen die Entwicklungsstörung aufzuhalten oder sogar rückgängig zu machen.

Pharmakologische Therapieansätze

Die derzeitigen Behandlungsansätze autistischer Störungen sind rein symptomatisch. Sonderpädagogik sowie Musik-, Sprach- und Verhaltenstherapie können die Probleme der Betroffenen lindern und eine Integration in die Gesellschaft fördern.

Bis vor kurzem wurde davon ausgegangen, dass die bestehenden Probleme fest im Gehirn verankert sind. Die aktuellen Erkenntnisse lassen jedoch darauf schließen, dass Autismus in manchen Fällen durch die Art und Weise verursacht wird, wie die Zellen im Gehirn an den Synapsen miteinander kommunizieren. Diese Erkenntnisse könnten in Zukunft für therapeutische Ansätze genutzt werden.

So konnten kürzlich in Science Translational Medicine veröffentlichte Studienergebnisse zeigen, dass das Medikament GRN-529, welches bestimmte Andockstellen des Botenstoffs Glutamat blockiert, bei Mäusen die soziale Kompetenz verbesserte und deren stereotype Verhaltensweisen minderte.

Auch die beiden Forschergruppen im Biozentrum Basel arbeiten in einem von der Europäischen Union geförderten Projekt (EU-AIMS) gemeinsam mit Partnern aus der Industrie an der Entwicklung von therapeutischen Glutamat-Rezeptorantagonisten. Ziel ist, die Probleme der Autisten in Zukunft zumindest in einigen Fällen auch medikamentös behandeln zu können.

 

Quelle / weiterführende Literatur:

 

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

10 Kommentare

  1. Mögliche Wirkstoffe

    Könnte man dann nicht evtl. Mavoglurant dafür mal testen, das sich z. Zt. (soweit ich weiß) in Phase III (freilich für eine andere Erkrankung) befindet?

  2. Glutamat-Rezeptor-Antagonisten

    Das ist der Tat ein guter Ansatz. AFQ056 („Mavoglurant“) ist ein Glutamat-Rezeptor-Antagonist, der zurzeit beim Fragilen X-Syndrom in einer klinischen Phase III Studie getestet wird. Etwa 30% der Patienten mit Fragilem X-Syndrom erfüllen auch die diagnostischen Kriterien für Autismus.

    Der im oben erwähnten Mausmodell für Autismus eingesetzte Wirkstoff GRN-529 zielt übrigens auf die Hemmung des gleichen Glutamat-Rezeptor-Subtyps (mGluR5) wie Mavoglurant ab.

    Weitere Informationen zur Fragilen-X-Studie und mögliche Ansprechpartner gibt es beispielsweise auf der Homepage der Interessengemeinschaft Fragiles-X e.V.: http://www.frax.de/component/content/article/252-update-zu-den-fragiles-x-studien-von-novartis.

  3. Behandeln?

    Als von (schwachem) Autismus (Aspergersyndrom) betroffener hört sich die Idee, mich behandeln zu wollen sehr erschreckend an.

    Autismus ist keine Krankheit – es ist eine “Art zu sein”, eine Andersartigkeit, nennt es wie auch immer.

    Vor wenigen Jahrzehnten galten Homosexuelle noch als “krank” und wurden – mit teils brutalen, zutiefst verachtenswerten Methoden – “behandelt”. Einen Autisten behandeln zu wollen unterscheidet sich davon kaum. Autisten sind anders als die Gesellschaft es gewohnt ist. Sie erfordern Toleranz mit Andersartigkeit – keine Behandlung.

  4. Behandeln?

    Whoa! Auch Asperger hier! Solange es keine Belastung für den Betroffenen darstellt ist das ein Persönlichkeitstyp, keine Krankheit. Da muß nichts behandelt werden. Bei mir konkret stören allenfalls die Konzentrationsprobleme. Und meine nerdigen Hobbies gefallen mir viel besser als auf dem Sofa zu liegen und RTL zu glotzen!

  5. @ Daniel Fink, T. Werner: Behandlung?

    Vielen Dank für die Kommentare, denen ich absolut zustimme.

    Daher denke ich hier auch eher beispielsweise an die Autisten mit mittlerer bis starker sozialer Einschränkung, die lieber tot wären als von dieser Andersartigkeit betroffen zu sein. Hier könnte eine medikamentöse Therapie durchaus hilfreich sein.

  6. Das ist natürlich vollkommen richtig! Darum habe ich ja auch die Einschränkung gemacht das dies nur gilt wenn kein oder nur wenig Leidensdruck vorhanden ist und warne halt nur vor Pauschalisierungen. Asperger ist nicht gleich Asperger. Nicht mal bei der selben Person im Laufe der Zeit.

    Speziell als Kind hätte mir das sicher geholfen, da mache ich keinen Hehl draus. Auch wenn damals niemand an eine Störung gedacht hat, erst recht nicht an Asperger. War in den frühen Achtzigern. Irgendwann mit 11 oder 12 Jahren kamen dann die Konzentrationsstörungen, das war es dann mit dem ewigen Klassenbesten! Stattdessen war ich der Klassentrottel. Und wo bin ich am Ende gelandet? Rrrrrrrrrichtig! Hauptschule! Wo sonst? Abschluß als Schulbester. Da ging es langsam wieder etwas besser, aber so richtig gut wurde es nie wieder.

    Erst viel später wurde dann mal genauer nachgeschaut. IQ-Tests lagen meist so um die 130 – 135, manchmal höher, manchmal tiefer. Aber ich habe natürlich Gould gelesen und weiß, was davon zu halten ist, nämlich nichts!

    Heute bin ich zwar angepasster, aber Augenkontakt halten, Körpersprache interpretieren oder einfach mal Smalltalk sind auch heute noch zuweilen schwierig. Aber nicht dramatisch. Trotzdem wirke ich wohl oft kühl oder abweisend, was ich aber gar nicht bin.

    Unterm Strich habe ich aber wohl mehr Vor- als Nachteile dadurch, jedenfalls heute.

    Das nur als Anekdote um zu zeigen, das ich exakt weiß wovon ich spreche!

  7. Wirkstoffe

    “Kontakt mit Freunden und Familie, Small-Talk, Chaos im Alltag – für Autisten sind diese Selbstverständlichkeiten oft ein Albtraum.”

    In dieser Welt- und “Werteordnung” des nun “freiheitlichen” Wettbewerbs um die Begehrlich- und Abhängigkeiten der KONFUSIONIERENDEN Überproduktion von systemrationalem KOMMUNIKATIONSMÜLL, werden vor allem “individualbewußte” (teils LOGISCH brutal-egoisierende) Konsum- und Profitautisten produziert, durch Bildung zu funktionaler Suppenkaspermentalität auf stets systemrationaler Sündenbocksuche – wenn man nun einen solchen gesellschaftsfähigen Autisten auf eine MENSCHENWÜRDIGERE / zweifelsfreiere Ordnung (in geistig-heilendes Selbst- und Massenbewußtsein) OHNE Steuern zahlen, OHNE “Sozial”-Versicherungen, OHNE wettbewerbsbedingten Zeit- / Leistungsdruck, usw., umorientieren möchte, dann reagiert er (teils sogar hysterisch!!!) mit: “NEIN NEIN NEIN, das hatten wir schon, das kann niemals … und überhaupt …” 🙂

  8. @ T. Werner, Horst 52

    Herzlichen Dank für diese Anmerkungen und Einblicke.
    Unsere Gesellschaft wäre sicher ärmer ohne Autisten. Ich bin beispielsweise dankbar, wenn mir meine “Aspie”-Freunde in manch einer Situation einen anderen Blickwinkel ermöglichen. Ich weiß aber auch einiges um die Problematik und suche daher immer auch nach (neuen) Wegen zur Unterstützung.

  9. Man sollte die unterschiedlichen Autismusformen besser voneinander abgrenzen. Jemand mit Asperger Syndrom oder PDD Nos der sich in der Gesellschaft handhaben kann und oft wesentliche intelligenter ist als der Normalbürger muss es mit Recht als eine regelrechte Frechheit ansehen wie Menschen ihn therapieren wollen. Die beste Therapie wäre wenn sich Normalos selber mal einleben würden wie Autismus funktioniert, dann hätten Menschen mit Autismus nämlich kaum noch Probleme!!

  10. Hallo zusammen

    Ich habe schon in einigen Foren und auf Internetwebseiten gelesen, dass Autismus ein Art des seins ist. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Autismus wird von der WHO als tiefgreifende Entwicklungsstörung bezeichnet. Wenn es keine Störung sein sollte, warum haben den Autisten so viele Probleme in der Schule, einen Beruf zu finden, mit Empathie, Mimik, Blickkontakt, Sprache, Gestik und Stereotypien? Ich habe vieles auch gelesen über das Rettsydrom und das Fragile X Syndrom, auch dort schreiben die Wissenschaftler das es bei diesen Störungen einen Gendefekt gibt. Bei Autismus kann man das noch nicht sagen, weil man bis her noch keinen Gendefekt gefunden hat. Für mich ist es eine Störung.

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