Auf den Mont Blanc trotz Handicap

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Alpinismus ist die Kunst, sich größten Gefahren mit höchstmöglicher Vorsicht zu stellen. Körper und Geist müssen optimal trainiert sein, um nicht nur erfolgreich auf einem Gipfelfoto zu posieren, sondern auch heil wieder unten im Tal anzukommen. Für viele Bergsteiger ist der Mont Blanc als das Dach Europas eines der großen Traumziele. Doch können sich auch chronisch Kranke wie Diabetiker an solch ein ehrgeiziges Projekt heranwagen?

Mont Blanc
 
Der Mont Blanc – Wunschtraum eines jeden Alpinisten
 
Mit seinen 4810 Metern ist der Mont Blanc der höchste Berg der Alpen. Am 8. August 1786 begann mit seiner Erstbesteigung die Geschichte des Alpinismus. Der englische Literaturkritiker und Vater der Schriftstellerin Virginia Woolf, Leslie Stephen, schrieb: "Als treuer Anhänger des ehrwürdigen Herrschers aller Berge verfechte ich den Glaubenssatz, dass kein Alpengipfel es an Schönheit und Erhabenheit mit dem Mont Blanc aufnimmt." Stephen stand im August 1873 auf dem Gipfel.
 
Die Besteigung des Mont Blanc zählt zumindest über die Normalwege technisch zwar eher zu den leichteren Bergtouren, dennoch wird sie nicht selten unterschätzt. Das Prestige ist zu verlockend. Allzu oft mangelt es daher am Können der Bergsteiger, weshalb diesem Berg der traurige Ruf anhaftet, einer der tödlichsten Gipfel der Welt zu sein.
 
Denn auch hier gelten die allgemeinen alpinen Bedingungen wie häufige Wetteränderungen, Steinschlaggefahr, Blankeis oder die nicht weniger gefürchteten unberechenbaren Gletscherbrüche. Hinzu kommt eine Höhenlage, die ohne vorherige Anpassung und regelmäßiges Training nicht aufgesucht werden sollte.
 
Ist beispielsweise wie so oft im Sommer der etwa 800 Meter lange Gipfelgrat vereist, bleibt nur mit voller Kraft die Steigeisen in das Eis zu rammen und zu hoffen, dass sie halten. Rechts und links brechen steile Flanken ins Leere ab, auf dem Rücken drückt ein schwerer Rucksack und die Luft ist so kurz vor dem Ziel ziemlich knapp. Oft sind die körperlichen und nervlichen Reserven am Limit, so dass es nicht selten zu dramatischen Situationen kommt: Bergsteiger, die ins Rutschen geraten und dabei andere fast mitreißen oder Gipfelaspiranten, die in ihrer Verzweiflung Bergführer anflehen, sie doch bitte ans Seil zu nehmen, denn sonst würden sie dort oben am Grat sterben.
 
Bergsteigen – Sport mit hohem Suchtpotential
 
Auch trotz optimaler Vorbereitung bedeutet Bergsteigen in der Realität meist stundenlanges Hinaufgehen, ohne sich dabei besonders gut zu fühlen. Vielleicht haben Bergtouren gerade deswegen einen hohen Suchtfaktor: Die Bestätigung ein schier unerreichbares Ziel zu schaffen, seine eigenen Grenzen immer wieder zu erfahren und auszutesten, die Notwendigkeit, über sich selbst herauswachsen zu müssen, der Adrenalinkick, die unbeschreiblichen Naturerlebnisse und nicht zuletzt die begehrten Endorphine, die der Körper nach einem erfolgreichen Tag in Massen produziert und leider manchmal auch das Ansehen, das so manch ein besonders begehrter Gipfel seinen erfolgreichen Bezwingern verspricht, haben eine magische Wirkung und lassen viele der damit verbundenen Qualen verblassen.
 
Hochalpine Touren erfordern also eine langfristige und gute Vorbereitung sowie ein regelmäßiges Training und sind auch dann noch bereits für Gesunde mit Risiken verbunden. Eine alte Bergsteigerweisheit besagt, dass wer sich gesund, warm, ausgeglichen, ohne Ängste und Zweifel sowie weder hungrig noch durstig fühlt, sich höchstwahrscheinlich nicht in den Bergen befindet. Denn dort wird das Leben auf das Wesentliche reduziert. Dies alles sind nicht gerade perfekte Bedingungen für chronisch kranke Menschen. Doch wollen und müssen sie deswegen auf solche Herausforderungen verzichten?
 
Gisèle Lafond und ihre besondere Mission
 
Die ehemalige französische Hochleistungssportlerin Gisèle Lafond ist Sporterzieherin mit Spezialisierung in Gesundheitsberufen und 1. Vorsitzende des Vereins "Gym, nature, santé" ("Gymnastik, Natur, Gesundheit"). In Zusammenarbeit mit dem französischen Diabetikerverein trainiert sie regelmäßig Gruppen von jungen Zuckerkranken und führt mit ihnen anspruchsvolle Bergtouren durch. Auch ein deutscher Diabetiker war schon einmal mit Gisèle Lafond auf dem Mont Blanc. Ebenso ist sie regelmäßig mit motorisch Gehandicapten und Sehbehinderten in den Bergen unterwegs.
 
Auch dieses Jahr führte die Ausnahmesportlerin, die selbst mit einer unheilbaren Krankheit, der angeborenen Eisenspeicherkrankheit Hämochromatose lebt, wieder eine Gruppe von neun Personen auf das Dach der Alpen: die beiden jungen Diabetiker Marion (19 J.) und Fabien (19 J.), zwei Ärzte, drei Bergführer und einen Kameramann.
 
Monatelange Vorbereitungen
 
Seit Anfang des Jahres hatten die beiden Diabetiker unter medizinischer Überwachung intensiv trainiert: Regelmäßiges Joggen, Schwimmen, Radfahren, Gletscherbegehungen und andere leichtere Bergtouren standen genauso auf dem Programm wie die Auswahl des richtigen Materials sowie das Erlernen des Umgangs mit Steigeisen und Pickel.
 
Das Ziel in greifbarer Nähe
 
Im Juli war das große Ziel der Beiden dann in greifbare Nähe gerückt. Fünf Tage hatte die Gruppe für die Besteigung des Mont Blanc über den Normalweg von St. Gervais aus geplant. Die ersten beiden Tage galten der Akklimatisierung an die Höhe. Am 3. Tag begann der eigentliche Aufstieg. Nach einer kurzen Nacht im Refuge de tête Rousse (3100 m) brach die Gruppe um 1.30 Uhr in der Nacht auf, um sich gegen Mittag glücklich auf dem Dach der Alpen (4810 m) in den Armen zu liegen.
 
Sogar das Wetter war perfekt. Die Bedingungen waren außergewöhnlich gut und die Sonne strahlte, als wenn sie sich mit den erfolgreichen Bergsteigern mitfreuen würde. Der Mont Blanc präsentierte sich majestätisch in seiner vollen Pracht und ungewöhnlich authentisch. So konnten die Neun die Aussicht und das unbeschreibliche Glücksgefühl in für diesen sonst oft überfüllten Gipfel untypischer Weise sogar ganz allein genießen, wenn auch nur für wenige Minuten. Schließlich musste noch der Abstieg zur Hütte, dem Refuge du Goûter (3817 m), bewältigt werden, wo die Gruppe gegen 16 Uhr erschöpft, aber überglücklich ankam. Am letzten Tag ging es dann zum Nid d’Aigle (2363 m) und von dort mit der Bahn wieder zurück ins Tal nach St. Gervais.
 
Diabetes und Bergsteigen
 
Selbst hinsichtlich der Krankheit war die Besteigung des Mont Blanc ein voller Erfolg. Zwar gilt für Diabetiker in alpinen Höhen besondere Vorsicht, da der Blutzucker dort bei körperlicher Belastung schneller abfällt als im Tal. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie verschiedener Münchner Kliniken, die dieses Jahr auf der 46. Tagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft vorgestellt wurde. Hierzu mussten Typ 1-Diabetiker auf einem Fahrradergometer unter vergleichbaren Bedingungen zunächst im 500 über dem Meeresspiegel gelegenen München und später auf der Zugspitze (2650 m) trainieren. Dabei zeigte sich, dass der Blutzuckerspiegel auf dem Berg vergleichsweise schneller absank als im Tal. Deshalb ist vor allem in den Bergen eine Anpassung des Insulins bzw. der Kohlenhydrate und eine entsprechend engmaschige Kontrolle des Blutzuckers wichtig.
 
Die beiden Diabetiker mussten also besonders gut aufpassen, doch daran waren sie auch im Tal bereits gewöhnt. Die beiden Ärzte im Team gaben zusätzliche Sicherheit. Auch diesmal zeigte sich, dass sie durch die körperliche Belastung wesentlich weniger Basalinsulin brauchten. Für die Mahlzeiten benötigten sie so gut wie gar kein Insulin. Die Anstrengung konsumierte quasi alles. Natürlich waren Pen und Messgerät immer bereit in der Hosentasche, ebenso wie Müsli- und Powerriegel. Auf Letztere greifen aber auch ‘normale’ Bergsteiger gern zurück.
 
Die Beiden konnten einmal mehr beweisen, dass Diabetiker zwar achtsamer sein müssen als gesunde Menschen. Dennoch können auch sie sich sportlichen Herausforderungen stellen und müssen sich keinen Einschränkungen unterwerfen.
 
Und noch mehr Traumziele!
 
Ein anderer von Gisèles Schützlingen, der sehbehinderte Michel, war ebenfalls 2011 auf dem Mont Blanc. Für 2012 hat er bereits ein neues Ziel: Er möchte einen Marathon laufen. Ein Rennen über 42 km in Begleitung eines Gefährten, im gleichen Rhythmus.
 
Warum nicht? Nach seinem bisherigen Erfolg strotzt er vor Selbstvertrauen, Elan und einer unglaublichen Kraft, die er nun gern mit allen vom Leben Benachteiligten teilen würde. Möge jeder von uns wie Michel, Fabien und Marion den Mut, die Kraft und die notwendige Unterstützung haben, auch die schwierigsten Träume zu realisieren.
 
 
Quelle / weiterführende Literatur (auf Französisch):
 

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

6 Kommentare

  1. SCNR

    “Auf den Montblanc trotz Handicap”.
    Ja.
    Warum denn auch nicht.
    Als Diabetiker würd’ ich aber alles daransetzen, erstmal den Zuckerhut zu besteigen.

  2. Mont Blanc

    Also mit Mont Blanc schreibe ich dann doch lieber Briefe und auf so einem Gipfel gibt es ja noch nicht mal Wireless Internet. Kein Ort für mich.

    Dennoch konnte ich diesen gelungenen Reisebericht genießen (dank Wireless).

  3. @ Stephan: Vielen Dank, aber…

    … stimmt es wirklich, dass du nicht einmal mehr für ein paar Stunden ohne Internet leben kannst? Das wäre ja fast schon besorgniserregend…

    Aber ich kann dich beruhigen: Die moderne Technik macht es möglich, dass selbst vom entferntesten Winkel der Welt noch gebloggt werden kann (wenn auch nicht unbedingt mit Wireless).

    Btw – dürfen wir denn jetzt dank Wireless und edlem Mont Blanc- Schreibmaterial auch auf einen Reisebericht aus Budapest hoffen?

  4. @ Trota: Internet-Abhängigkeit

    Hmm, ich habe bis Januar einfach noch zu viel zu tun, um nicht auch auf Urlaubsreisen (ohnehin nur 2 x 1 Woche dieses Jahr) den Laptop mitzunehmen; und dann passiert das eben. Ich will mir danach aber Mühe geben, den Internetkonsum und die Arbeit zu reduzieren. Am ehesten könnte ich noch am Bloggen sparen. 🙂

    Reisebericht, das ist nicht so mein Genre. Dafür gab es ja aber einen Blogbeitrag über “Gedankenlesen” aus der Stadt an der Donau.

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