COVID-19-Zwischenbilanz (2/3): Die Rolle der Superspreader

Zu den Erkenntnissen des ersten Halbjahres der COVID-19-Pandemie zählt auch, dass sich das Virus besonders gut und gern in Clustern verbreitet. Wo lauerten anfangs die größten Gefahren und was heißt das für die Zukunft?

Cluster und Superspreader

Zahlreiche COVID-19-Ausbrüche traten nach Großveranstaltungen auf und halfen dem Virus bei seiner raschen Verbreitung rund um den Globus. Im Januar wurde in China ausgiebig der Beginn des Jahres der Ratte in China am 25. Januar 2020 gefeiert. In Europa ist der Karneval im Februar nicht nur bei Lungenärzten schon lange berühmt und berüchtigt für seine effektive Verbreitung der jährlichen Grippewellen.

Doch nicht nur die Narren halfen bei der Ausbreitung des neuartigen Sars-CoV-2-Virus. Auch (Ski)urlauber und Champions League – Fans verteilten das Virus in den trotz steigender Gefahr noch durchgeführten diversen Großveranstaltungen im Februar. Hinzu kamen internationale Diensteisen, Chorproben und religiöse Veranstaltungen – all diese Aktivitäten haben die Pandemie so richtig ins Rollen gebracht.

Mailand am 19. Februar 2020: Ein verhängnisvolles Match

Noch nie zuvor hatte Bergamo das Achtelfinale der Champions League erreicht. Um noch mehr Zuschauer zu bekommen – und damit auch mehr Einnahmen – fand das Spiel nicht in Bergamo, sondern in Mailand statt. Corona war damals noch eher eine Biermarke als eine real erlebte Bedrohung. Zudem wähnte man sich in Italien in Sicherheit. Schließlich hatte das Land Ende Januar Direktflüge nach China unterbunden.

So pilgerten mehr als 44.000 Zuschauer nach Mailand zu diesem historischen Spiel. Das entspricht in etwa einem Drittel der Bevölkerung Bergamos. Bergamo gewann mit 4:1. Ein historischer Sieg.

Zehntausende feierten, schrien, umarmten sich. Viele steckten sich an. Einige Wochen später waren Militäreinsätze notwendig, um die Leichenberge der COVID-19-Toten aus Bergamo abzutransportieren. Was für ein Preis für einen Fußball-Sieg. War es das wirklich wert? Als beim Rückspiel am 10. März in einem menschenleeren Stadion in Valencia Atalanta Bergamo mit 4:3 nochmals gewann, feierte schon längst keiner mehr. Immerhin gab Atalanta-Kapitän Alejandro Gomez später zu:

“Es ist schrecklich, dass wir diese Spiele gespielt haben. Vor allem das Hinspiel in Mailand.”

Schließlich habe niemand gewusst, welchen Schaden so ein kleines Virus anrichten könnte. Wirklich niemand?

Verbreitung von “Gerüchten” in Kliniken und Heimen

Zu den ersten und häufigsten Opfern der COVID-19-Pandemie zählten diejenigen, die von Anfang an am meisten exponiert waren: Personal in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen. Zu viele Kontaminierte trafen auf überlastetes Personal, dem nicht nur die Schutzkleidung fehlte.

Der chinesische Augenarzt Li Wenliang war einer der ersten, welche die Gefahr dieses neuartigen Coronavirus in Wuhan erkannten. Am 30. Dezember 2019 warnte er seine Kollegen. Daraufhin wurde der kluge und mutige Arzt von der Polizei wegen der “Verbreitung von Gerüchten” ermahnt. Diese “Gerüchte” retteten vielen Menschen das Leben, die sich daraufhin besser vor dem Virus schützten. Dr. Li Wenliang starb Anfang Februar 2020 an COVID-19. Er wurde nur 33 Jahre alt.

Auch die Betreuten – chronisch Kranke,  Bewohner in Heimen und anderen Massenunterkünften zählten zu den ersten und am schlimmsten betroffenen Opfern.

Leider messen und dokumentieren noch immer zu wenige Ländern diese Fälle bislang adäquat. Spanien ist eines der Länder, welche die Zahl der im Gesundheitswesen Beschäftigen COVID-19-Erkrankten systematisch seit Anfang der Pandemie erfasst und analysiert.

Spanien: 17 Prozent des medizinischen Personals infiziert

Bis zum 19. August stieg die Anzahl des mit COVID-19-infizierten medizinischen Personals in Spanien auf knapp 55.000 Fälle von zu dem Zeitpunkt etwa 315.000 Fällen. Dies entspricht einem Anteil von etwa 17 Prozent und damit in etwa dem Anteil der Über-80-Jährigen COVID-19-Betroffenen.

Nur bezüglich der Sterblichkeit sieht es beim medizinischen Personal besser aus: Offiziellen Angaben zufolge haben 63 im Gesundheitswesen Beschäftigte ihren Einsatz für die Gesundheit anderer bislang mit dem Leben bezahlt.

Spanien: Übersterblichkeit +155% im April

In Spanien stieg die Kurve der Übersterblichkeit ab etwa Mitte März steil an und erreichte Anfang April ihren traurigen Höhepunkt von 155 Prozent. Fast 1.000 Corona-Tote wurden damals pro Tag registriert.

Am meisten dahingerafft wurden die am meisten Bedürftigen: Bewohner in Heimen und Pflegeeinrichtungen. Auch hierfür hat Spanien Daten. Während der COVID-19-Pandemie starben bis zum 20. Juni 2020 27.359 der insgesamt etwa 340 000 Bewohner spanischer Seniorenresidenzen. Rund 19.000 dieser Senioren und damit mehr als zwei Drittel starben an COVID-19.

Die Zahlen gemäß IfSG in Deutschland

In Deutschland sammelt das Robert Koch-Institut (RKI) die Zahlen der in Einrichtungen gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) gemeldeten Fälle:

  • §23 IfSG (z.B. Krankenhäuser, ärztliche Praxen, Dialyseeinrichtungen und Rettungsdienste)
  • §33 IfSG (z.B. Kitas, Schulen, Heime und Ferienlager)
  • §36 IfSG (z.B. Pflegeeinrichtungen, Obdachlosenunterkünfte, Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylsuchenden, sonstige Massenunterkünfte, Justizvollzugsanstalten)
  • §42 IfSG (z.B. Fleischindustrie oder Küchen von Gaststätten und sonstigen Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung)

Doch nicht bei allen gemeldeten Fällen gibt es diesbezügliche Angaben. So fehlten diese beispielsweise bei den bis zum 25. August 2020 gemeldeten 233.446 Fällen bei mehr als 25% (59.308 Meldungen). 62.886 Fälle und damit rund 27 Prozent aller Meldungen fielen auf eine der gelisteten Einrichtungen. 111.252 COVID-19-Positive und damit etwas weniger als die Hälfte der Gemeldeten waren ohne Tätigkeit, Betreuung oder Unterbringung in den genannten Einrichtungen. Auch wenn damit etwa ein Viertel der gemeldeten Fälle nicht zugeordnet werden kann, zeigt sich, wo COVID-19 bisher am schlimmsten wütete.

COVID-19 in Einrichtungen gemäß IfSG. Potenzielle Superspreader lauern vor allem in Heimen, Arztpraxen und Kliniken. Die Folgen einer nicht genügenden Einhaltung adäquater Hygiene- und Schutzmaßnahmen zeigen sich hier am deutlichsten. Im schlimmsten Fall droht ein Kollaps des gesamten Systems mit erheblichen Todesopfern, auch außerhalb der Risikogruppen.
Ebenfalls erfasst werden Kitas und Schulen (§ 33 IfSG) sowie das Gaststättengewerbe einschl. der fleischverarbeitenden Industrie (§ 36 IfSG). Hier steigen mit Zunahme der Tests bzw. beim Auftreten von Clustern auch die Zahlen der Infizierten, wobei die Todeszahlen weiterhin niedrig bleiben. Datenquelle: Robert Koch-Institut. Grafiken: Dr. Karin Schumacher.

COVID-19 in deutschen Pflegeheimen

Eine Studie von Pflegeforschern in Bremen analysierte die Situation bundesweit in 824 Pflegeheimen, 701 Pflegediensten und 96 teilstationären Einrichtungen während der ersten Welle der Corona-Pandemie. Obwohl nur 8,5 Prozent der Infizierten in solchen Wohnformen lebt, traten 60 Prozent aller COVID-19-bedingten Todesfälle in einem Pflegeheim auf [2].

Fehlende Schutzkleidung, Personalmangel, durch infizierte Mitarbeiter noch verschärft, zu wenig Tests und Zeit für Hygiene. Dazu noch Einsamkeit und Verlust menschlicher Zuwendung durch Besuchs- und Kontaktverbote beendeten den Traum vieler Senioren, ihren Lebensabend im Kreise ihrer Lieben zu beschließen.

Applaus reicht nicht!

Neben den Pflegebedürftigen ist auch das Personal durch erhöhte Infektionsrisiken gefährdet. Die Studie der Bremer Pflegeforscher ergab einen doppelt so hohen Anteil infizierter Mitarbeiter in ambulanten Pflegediensten im Vergleich zur Normalbevölkerung. Im stationären Bereich sei der Anteil sogar sechsmal so hoch.

Die Folgen sind auch für die Beschäftigten deutlich spürbar. Knapp die Hälfte der Pflegedienste berichtete darüber, dass Leistungen von Pflegebedürftigen seit Ausbruch der Pandemie nicht mehr in Anspruch genommen werden.

Um ihre Großeltern zu schützen und zu behalten, ziehen viele Angehörige es vor, auf professionelle Unterstützung durch ambulante oder teilstationäre Betreuung zu verzichten. In der Folge beklagten vier von zehn Pflegediensten ihre durch COVID-19 bedingte wirtschaftliche Verschlechterung.

Die Krise als Chance?

In der aktuellen Situation der Pflege zeigt sich besonders deutlich, in welchen Bereichen dringend Verbesserungen notwendig sind. Hierzu zählen eine adäquate Personalausstattung und Vergütung, die dauerhafte und ausreichende Bereitstellung von Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln, Erstellung, Einhaltung und Überwachung von Leitlinien. Aber auch die systematische und regelmäßige Testung von Betreuten und Personal sind lebensnotwendig. Außerdem bedarf es einer höheren Wertschätzung durch die Bevölkerung über reines Beklatschen hinweg.

Erst wenn sich das Gehalt einer Altenpflegerin mit dem eines Profi-Fußballspielers decken, sind wir in einer gerechteren Gesellschaft angekommen. Erst wenn der Krankenpfleger genauso wie die Ärztin geachtet wird, haben wir Medizin wirklich besser begriffen. Erst wenn wir beginnen, Flüchtlinge nicht einfach in Heimen zu verwahren, sondern auch die Fluchtursachen nachhaltig bekämpfen, helfen wir wirklich.

Ob Sars-CoV-2 das schaffen wird, wage ich allerdings zu bezweifeln. Daher kümmere auch ich mich lieber bevorzugt persönlich um die mir ans Herz gewachsenen Alten – damit “wir noch lange von Ihrem Wissen und Ihrer Weisheit profitieren können”, wie Bundespräsident Steinmeier in seiner Gratulation zum 95. Geburtstag Henry A. Kissingers am 25. Mai 2018 schrieb.

Wir haben es selbst in der Hand, wie sich die Zukunft entwickeln wird. Die erfolgreiche Virologin Ilaria Capua sieht die Corona-Krise jedenfalls als Chance, Modelle für nachhaltigere Gesundheit und Biodiversität zu entwickeln. COVID-19 zeigt uns unsere Grenzen, aber auch unsere Möglichkeiten zur Mitgestaltung einer besseren Zukunft. Nutzen wir sie.

Quelle / weiterführende Literatur:

[1] Esteve, Albert et al. (2020): National age and co-residence patterns shape covid-19 vulnerability, in: medRxiv, 2020.05.13.20100289

[2] Wolf-Ostermann, Karin und Aussenhofer, David: Ambulante Versorgung Pflegebedürftiger destabilisiert. Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes des IPP und des SOCIUM zu Herausforderungen
für die Pflege in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie liegen vor. Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Universität Bremen. PM vom 10.06.2020

Datenquellen:

Weitere Corona-Literatur auf diesem Blog:

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

Schreibe einen Kommentar