Wir sind Mathemacher!

BLOG: MATHEMATIK IM ALLTAG

Notizen über alles und nichts, von Günter M. Ziegler
MATHEMATIK IM ALLTAG

Die Frage "Was ist Mathematik?" ist nicht so dumm, wie sie vielleicht klingt. "Was ist Mathematik?" Wissen wir das? Welche Vorstellung(en) haben wir von dem Fach? Und wer glaubt, die Antwort sollte etwas mit dem zu tun haben, was wir tagtäglich tun?

Die Frage "Was ist Mathematik?" ist aktuell — nicht nur, weil das Jahr 2008 ein Mathematikjahr wird, also ein Jahr, in dem die Frage immer neu gestellt und beantwortet wird.

Mathematik lernt man fast nur in der Schule, daher liegt es nahe, das Fach mit den klassischen Themen des Schulunterrichts zu identifizieren. Aber "Das kann doch nicht alles gewesen sein!" (Wolf Biermann).

In der Tat, wir machen Mathe, jeden Tag. Nicht nur rechnen wir ganz regelmäßig, schon um beim Wechselgeld nicht zu kurz zu kommen. Wir analysieren Ampelschaltungen auf ihre Logik, schon um vorauszusehen, wann's weitergeht. Wir überprüfen unsere Bankabrechnungen (sollten wir zumindest – meine Bank hat mir erst kürzlich eine Kreditkartenabrechung zugeschickt, auf der die Summe nicht stimmte!). Wir versuchen Kredit- und Versicherungsangebote einzuschätzen – wer sich da auf "In Mathe war ich immer schlecht" beruft, verläßt sich darauf, dass der Banklehrling hinter dem Schalter im Mathe mehr kann als er selbst … Wir lesen Stadtpläne und Fahrpläne – folgend dem Wahlspruch "Lies keine Oden, mein Sohn, lies Fahrpläne: sie sind genauer!", den der große Hans Magnus Enzensberger schon 1957 Ins Lesebuch für die Oberstufe schrieb. Auch dies ist eine mathematische Tätigkeit – und keine selbstverständliche, wie jeder weiß, der mal in Peking Taxi gefahren ist. Wir interpretieren den Strömungsfilm im Wetterbericht im Ersten – und sehen dem vielleicht auch auf Anhieb an, dass das Wetter morgen offenbar instabil, unübersichtlich, und unvorhersagbar ist – und dass der Wetterbericht vermutlich nicht stimmt. Wir wissen, dass Lotto eine Steuer ist auf alle, die schlecht in Mathe sind – und spielen vielleicht trotzdem.

Was ist Mathematik? Mathematik ist ein wichtiges Schulfach, das Schlüsselqualifikationen vermittelt. Mathematik ist auch eine vielfältige, spannende, aktive und sehr schwierige Wissenschaft, die trotzdem oder eben deshalb auch sehr viel Spaß machen kann. Mathematik ist eine Schlüsseltechnologie, ohne die es kein High-Tech gibt, kein Internet, keine Banksicherheit, keine Wettervorhersage, keine optimierten Karosserien, keine Neuen Materialien, keine Computertomographie, keine Versicherungen, keine effektive Logistik. Mathematik ist aber in erster Line ein Alltagsfach – eines, das sich mit Fahrplänen, Ampelschaltungen, Bankabrechnungen und mit Wettervorhersagen beschäftigt. Auch mein kleiner Bruder, der von sich vermutlich behaupten würde, in der Schule in Mathe schlecht gewesen zu sein, und jetzt bei der Steuerfahndung arbeitet, löst morgens zum ersten Kaffee das Sudoku in der Zeitung – ein mathematisches Logik-Rätsel. Und sogar die Babywindeln seiner jüngsten Tochter sind mit Mathematik optimiert: Schon vor Jahren beschäftigte sich das IWTM in Kaiserslautern im Auftrag der einschlägigen
Industrie mit dem Fließverhalten von Flüssigkeiten in Zellstoff – Mathematik macht Babys glücklich!

(Mathe allein reicht allerdings nicht. Mathematik kann nicht alles.)

Veröffentlicht von

Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, Leiter des “Medienbüros” der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Aktivist, Kommunikator, Sekttrinker, Gelegenheitsblogger, Kolumnist und Buch-Autor: "Darf ich Zahlen?" und "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!".

5 Kommentare

  1. Die Basis

    Mathematik ist die Basis von allen anderen Wissenschaften!

    Mathematik ist die Basis!
    Physik ist angewandte Mathematik!
    Chemie ist angewandte Physik!
    Biologie ist angewandte Chemie!
    Medizin ist angewandte Biologie!
    Psychologie ist angewandte Medizin!

    etc. mit Verzweigungen in der Hierarchie…
    Astronomie ist angewandte Physik!
    Informatik ist angewandte Mathematik!
    Astrologie ist mutierte Psychologie! 😛

  2. Notwendig oder hinreichend?

    Notwendige Bedingungen für etwas gibt es oft unzählige. Sicherlich gibt es kaum ein Gebiet, in dem die Mathematik nicht notwendig wäre. Bereits die Pythagoreer hielten die Zahl für das Wesen der gesamten Wirklichkeit. Nur kann dies in der Regel auch jede andere Wissenschaft für sich beanspruchen. So hält sich jede Wissenschaft – da unentbehrlich – für die Wichtigste. Ist womöglich alles gleich wichtig bzw. gleich viel wert? Ich denke, die wirklich großen Leistungen, an denen man den Wert einer Wissenschaft ermessen kann, sind die, die nahezu im Alleingang erzielt worden sind. Maßgeblich sind eben die hinreichenden Bedingungen.

    PS Wer dem plumpen Reduktionismus von »Heng« zugetan ist, sollte sich mal den blog von Carsten Könneker (Was ist der Mensch?) anschauen.

  3. Warum Mathematik betreiben?

    Mathematik ist das Studium von Mustern. Zum Beispiel bilden (3,4,5), (5,12,13),… folgendes Muster: 3^2+4^2=5^2, 5^2+12^2=13^2. Ausserdem bilden sie ein geometrisches Muster. Nach der Umkehrung des Satzes von Pythagoras lassen sich rechtwinklige Dreiecke mit den Masszahlen (3,4,5), (5,12,13),…konstruieren.
    Dir Gründe, weswegen Mathematik betrieben wird, sind:
    1. Wissbegierde über Muster, speziell von Zahlen, geometrischen Formen und ästhetische Befriedigung (reine Mathematik).
    2.Die Notwendigkeit Muster zu studieren, die in der Wirklichkeit vorkommen (angewandte Mathematik).

  4. Alltagsmathematik

    Hier ist nicht das Bezahlen beim Bäcker gemeint. Wichtig für unser Leben sind oft die Verhältnisse von Chance und Risiko bei unseren Entscheidungen. Ein feines Gespür für diese Dinge entwickelt wer sich mit Mathematik beschäftigt. Einerseits wird Mathematik in einem Sprachlichen Kontext neuronal gespeichert, andererseits in einem Bildlichen. Wer Mathematik verstanden hat sieht der Situation an, riecht was dahintersteckt. Mehr? http://www.dpast.de/zufall3.pdf
    Auch hier: http://www.dpast.de/entscheiden.pdf
    Viel Spaß beim Schmöckern.
    Dieter Past

  5. Was ist Mathematik

    “Die Frage “Was ist Mathematik?” ist nicht so dumm, wie sie vielleicht klingt”.

    Meine späte Antwort, so hoffe ich, auch nicht:

    Mathematik ist der Teil der menschlichen Sprache, der eine optimale Genauigkeit und Kürze besonders in der schriftlichen Form anstrebt.
    Extremes Beispiel ist der Punkt, kleiner läßt sich ein komplizierter Vorgang (Multiplizieren) nicht beschreiben.
    Alle mathematischen Zeichen, Ziffern und Buchstaben komprimieren große Komplexe in symbolische Kleinstformen, ohne dabei an Genauigkeit zu verlieren.
    Das Dezimalsystem, das Kürzen von Brüchen, die Darstellung von großen Zahlen als Zehnerpotenz und viele andere Beispiele dienen alle dem gleichen Zweck, mit der Kürze die Übersichtlichkeit zu verbessern.

    Der Grund für den Erfolg der maximalen Komprimierung liegt in der biologischen Beschränkung unserer bewußten Auffassung.
    Wir können in einer Sekunde nur ein paar Bit (circa 4-10) wahrnehmen. Die Mathematik komprimiert große Komplexe in kleine Häppchen, die unser Geist verdauen kann.
    Die kürzeste Arbeit für einen Nobelpreis kennen wir unter: E=mc²

    Mit freundlichen Grüßen
    Steffen Rehm

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