Happy Birthday, Dr. Turing!

BLOG: MATHEMATIK IM ALLTAG

Notizen über alles und nichts, von Günter M. Ziegler
MATHEMATIK IM ALLTAG

Der Film “Colors of Math” der Berliner Filmemacherin Ekaterina Eremenko wird am kommenden Samstag, 23. Juni 2012, im Dokumentarfilm-Wettbewerb des Moskauer Filmfest seine Weltpremiere haben. Gleich zu Beginn des Films spricht Cedric Villani, ein brillianter Mathematiker, Fieldsmedaillist und bekennender Exzentriker, in die Kamera: 

Boltzmann hat sich umgebracht — Mark Kac’ gesamte Familie kam im Krieg ums Leben — Turing hat sich umgebracht, nachdem die englische Regierung ihn für Homosexualität bestraft hat — Nash hat dreißig Jahre zugebracht mit schwerer Geisteskrankheit zugebracht — Maxwell ging’s gut!

Sehen Sie: das ist kein notwendiges Schicksal.

Das ist, natürlich, eine sehr negative und sehr düstere Sicht auf die Mathematiker – und die beruht auf einer sehr eigenwilligen, mutwilligen Auswahl von Mathematikern mit dramatischen Biographien. Unter ihnen findet sich der britische Mathematiker Alan Turing, dem ich hiermit heute zum Geburtstag gratulieren will.

Alan Turing Year 2012 Logo

WISSEN SCHAFFT AKZEPTANZ

Ebenfalls am kommenden Samstag, dem 23. Juni 2012, findet der diesjährige Berliner “Christopher Street Day” statt – unter dem ungewöhnlichen Wissenschafts-Motto “Wissen schafft Akzeptanz”, zu Ehren von Alan Turing. Gleich zu Beginn der politischen Forderungen, die mit dieser Straßendemonstration unterstützt werden solllen, heißt es:

1. Queeres Wissen und Bildung schaffen Akzeptanz und räumen mit Vorurteilen auf. Vorurteile gegenüber Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LSBTI) prägen nach wie vor die öffentliche Wahrnehmung. Wissenschaft und Bildung müssen mit diesen Vorurteilen aufräumen. Die Geschichte wissenschaftlicher Größen wie Magnus Hirschfeld oder Alan Turing zeigt, dass selbst in der Wissenschaft queere Personen verfolgt wurden und werden. 

Schon wieder Alan Turing. Wer war Alan Turing? Ich nehme mal an, dass der Durchschnittsberliner – und auch der Durchschnittskinogänger in Moskau und der Durchschnittsschwule auf dem Berliner CSD – den Namen noch nicht gehört hat.

Zu den bemerkenswerten kalendarischen Zufällen, hinter denen man Absicht oder “Schicksal” vermuten könnte oder wollte, gehört, dass der 23. Juni 2012, der Premierentag auf dem Moskauer Filmfest und der Tag des Berliner CSD 2012, auf den Tag genau der einhundertste Geburtstag von Alan Turing ist.

ALAN MATHISON TURING (1912-1954)

 Wer war Alan Turing? Ein genialer Wissenschaftler, Vater des Computers und der künstlichen Intelligenz, Kriegsheld, und ein Schwuler, der wie Schneewittchen an einem vergifteten Apfel starb. 

Alan Turing war geheim, verdrängt, vergessen – und es ist zu einem großen Teil ein Verdienst seines Biographen Andrew Hodges, ihn der Geschichte entrissen zu haben. Das Buch erschien 1983, kurz nachdem die Archive zu Turings Zeit in Bletchley Park freigegeben worden waren, unter dem Titel “The Enigma”. Zumindest auf meiner Paperback-Ausgabe heißt das dann sehr ausführlich

Alan Turing – the enigma. The extraordinary story of the brilliant scientist who broke “Enigma,” Germany’s most secret World War II code, who pioneered the modern computer age, and who finally fell victim to the cold-war world of military secrets and sexual scandal.

Turing biography by Andrew Hodges, Cover photo

Weil “man den kennen sollte” kommt hier meine Alan Turing – Kurzbiographie in Stichpunkten:

  • Geboren 23. Juni 1912 in London
  • 1931-1934 Studium der Mathematik am King’s College, Cambridge
  • Sein Aufsatz On Computable Numbers, with an Application to the “Entscheidungsproblem” von 1936 löst das von David Hilbert 1928 gestellte Problem, ob sich jedes mathematisch-formale Problem algorithmisch entscheiden lässt, kurz nach der ersten Lösung durch Alonzo Church. Die Lösung durch Turing, mit dem Modell der “Turing-Maschine”, ist eleganter, und zukunftsweisend – sie gilt als die Geburtsurkunde des Computers, und fundamentale Grundlage der theoretischen Informatik, inklusive Komplexitätstheorie
  • 1939-1945 Leiter der Expertengruppe “Government Code and Cypher School” des Britischen Geheimdienstes zur Entschlüsselung der deutschen Funksprüche. Entschlüsselung der “Enigma”, die für die deutsche U-Boot Flotte verwendet wurde – mit Hilfe der von Turing und Mitarbeitern konstruierten Computer. Funktionsfähige elektronische Computer, kriegsentscheidend!
  • 1946 Ehrung mit dem “Order of the British Empire” (ohne Begründung, weil für Leistungen unter Geheimhaltung)
  • Hervorragender Marathonläufer: Fünfter Platz bei den Vorausscheidungen für die Olympische Spiele 1948 in London mit 2:46 
  • 1950 Aufsatz “Computing machinery and intelligence”: Grundlagen der Künstlichen Intelligenz, der “Turing Test”
  • ab 1952 mathematische Biologie, wieder fundamentale Leistungen: 1952  “The Chemical Basis of Morphogenesis” – spontane Strukturbildung aus Reaktions-Diffusionssystemen
  • 1952 Prozess wegen “Grober Unzucht”, nachdem Turing sich bei der Polizei im Zusammenhang mit einem Einbruch in seine Wohnung sich selbst als homosexuell geoutet hatte. Verurteilung mit der Alternative zwischen Gefängnisstrafe oder Hormontherapie (Östrogen-Therapie, “chemische Kastration”); einjährige Hormonbehandlung 
  • 7. Juni 1954, kurz vor dem 42. Geburtstag, Selbstmord: Zyankalivergiftung, angeblich an präpariertem Apfel.  

(Wikipedia weiß da noch mehr, aber wirklich empfohlen wird die Biographie von Andrew Hodges, und die Turing-Homepage, die Hodges verwaltet.) 

Eine filmreife Biographie, voller Höchstleistungen und Widersprüche. Können wir uns Alan Turing als glücklich vorstellen? Ein Happy Mr. Turing? Es gibt ein Foto von ihm, auf dem er lacht, und aus dem die Organisatoren des Turing-Jahres 2012 ja auch das Logo gemacht haben.

Andererseits Legenden um seinen Tod: Seine Mutter, deren biographisches Buch gerade wieder neu aufgelegt wurde, hält seinen Tod für einen Unfall, Alan sei immer unvorsichtig gewesen beim Umgang mit Chemikalien…. Andererseits die schöne Legende, das Apple-Logo, der angebissene Apfel, sei zu Ehren Turings gewählt worden. Steve Jobs hat das offenbar bestritten.

LITERATUR UND KINO

Filmstoff, Romanstoff: das hat auch der Dramatiker Rolf Hochhuth erkannt, und sich gleich mal daran heftig überhoben. Seine Erzählung Alan Turing von 1987 ist literarisch schwach, biographisch fragwürdig – schlicht überflüssig. Der Kampf um “unseren” Alan Turing wird aber auch in Hollywood ausgetragen. So in dem Film “Enigma” nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris:

Enigma FilmDessen Filmheld “Tom Jericho” ist ein Zombie – die biographische Hülle von Alan Turing und seiner Leistungen in Bletchley Park wird mit einer heterosexuellen Lovestory und einem unrealistischen Spionagethriller gefüllt. “Er war der Mann, der den Code knacken sollte. Sie war die Frau, die er nicht entschlüsseln konnte.” So ein Unsinn. Hat Alan Turing das verdient?

Aber der nächste Film kommt schon. Auf der Biographie von Andrew Hodges basiert ein Drehbuch “The Imitation Game” von Graham Moore, das in Hollywood hoch gehandelt wurde – und in kürzester Zeit für eine Million Dollar an Warner Bros. ging. Angeblich hat Leonardo DiCaprio Interesse an der Rolle des britischen Mathegenies, Codeknackers und Computerpioniers Alan Turing. Ob und wann der Film wirklich kommt, weiß ich aber auch nicht.

“WE’RE SORRY”, BUT NO PARDON

Die Britische Regierung unter Gordon Brown hat sich 2009 – aufgrund einer Internet-Petition mit vielen Tausend Stimmen – für das Urteil über Alan Turing entschuldigt, ein großes “Sorry” also. Im offiziellen Statement wurde das Urteil “horrifying” und “utterly unfair” genannt, und man stellte fest, dass das Land bei Alan Turing in großer Schuld steht:

Tausende Leute haben sich zusammengefunden, um Gerechtigkeit zu fordern für Alan Turing und Anerkennung der abstoßenden Weise, wie er behandelt wurde. Während Turing mit den damals geltenden Gesetzen behandelt wurde und wir die Uhr nicht zurückdrehen können, war seine Behandlung trotzdem extrem ungerecht und es freut mich jetzt die Gelegenheit zu haben zu sagen, wie sehr mir und uns allen das leid tut, was ihm passiert ist.

Deshalb bin ich stolz darauf, im Namen der Britischen Regierung und all derer, die frei leben Dank Alans Werk, es tut uns leid, Du hättest es besser verdient.

(Meine Übersetzung, nach der Version im Guardian. Das Original klingt ähnlich schwammig und redundant.) 

Das war’s dann aber auch. Eine Initiative, die auf eine posthume Begnadigung hinzielt, und damit auf die offizielle Eingeständnis, dass das Urteil Unrecht war, war bisher nicht erfolgreich. Das Urteil sei damals nach geltendem Recht erfolgt. Eine Petition an die Britische Regierung läuft, sie hat inzwischen fast 35000 Unterschriften.

EINLADUNG AUF DEN CSD BERLIN 2012

 
Feiern Sie mit – auf dem Berliner CSD, der vermutlich größten Geburtstagsparty für einen Mathematiker aller Zeiten. Der schwule Mathematiker Alan Turing wird am kommenden Samstag, 23. Juni 2012, hundert Jahre alt. Für die Geburtstagsparty erwarten wir eine halbe Million Teilnehmer. Happy Birthday, Dr. Turing!

CSD Banner

 

 

 

Veröffentlicht von

Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, Leiter des “Medienbüros” der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Aktivist, Kommunikator, Sekttrinker, Gelegenheitsblogger, Kolumnist und Buch-Autor: "Darf ich Zahlen?" und "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!".

4 Kommentare

  1. Commemoration of a hero

    First, I apologize for writing in English. I read other sclilogs dot de, thus found my way here. Thank you for your post. Google Translate did it justice. Also, your translation of The Guardian excerpt was very fine quality. I read the original. I read your translation into German and back to English too! Well done!

    Next: I am not troubled by the choice of photograph, showing Alan Turing smiling. Although a victim of societal ideology of the time, tragically so, it is my sincere hope that the man experienced some happiness in his lifetime, even if fleeting.

    You already addressed the British government attitude to posthumous recognition of Turing. The cinematic coverage is rather inexcusable, in my opinion. Turing’s biographical record is clear enough. The cover of the film “Enigma” inane. An image of a pretty woman is the focal point. There were many women working at Bletchley Park. Women do not have much visibility in math, the sciences, nor military history. It would be great to have a motion picture that focused on achievements of the women of Bletchley Park. But it diminishes all involved to fabricate a heterosexual romance between Turing and one or more of these women, spy thriller effects etc.

    The thought of Leonardo Di Caprio playing the role of Alan Turing (thank you for providing that source article) in a possible Warner Brothers film… I will pass on viewing that too 🙁

    That party on 23 June at Berlin-CSD was a wonderful idea! I wish I could have been there. To brave, brilliant mathematician Alan Turing, Ph.D.: Happy birthday, and thank you for your contributions. You are a hero.

  2. Turing und eLearning

    Interessanter Beitrag, einige Dinge kannte ich noch gar nicht (z.B. das mit dem Marathon).

    Habe Turing vor kurzem in dem Beitrag “Haben schlechte Vorlesungen eine Zukunft?” erwähnt:

    “…Der Lehrer muss im Prinzip gar nicht mehr am Leben sein. Eine Vorlesung von Hilbert, Einstein oder Turing wäre auch heute interessant. Wenn Verstorbene eine bestimmte Sache besonders gut erklären können, werden auch alte Vorlesungen nützlich sein…”

    Wissen Sie ob eine Videoaufzeichnung von Turings Vorlesungen existiert?

  3. @Stephan Goldammer: Turing-Vorlesungen?

    Ich weiß weder, ob es irgendwelche Film-Aufnahmen von Turing gibt, noch, was man über seine Vorlesungen weiß – aber ich bin da auch kein Experte, und hoffe, dass evtl. einer kommentiert…

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