Berühmte Söhne

BLOG: MATHEMATIK IM ALLTAG

Notizen über alles und nichts, von Günter M. Ziegler
MATHEMATIK IM ALLTAG

Als der Medienhype (ein Wort, das man damals wohl nicht verwendet hätte) um Klaus Mann, den offen-schwulen und schriftstellerisch nicht ganz so sehr überzeugenden Sohn von Thomas Mann ("Mephisto") überhand nahm, spottete Brecht: "die ganze Welt kennt Klaus Mann, den Sohn von Thomas Mann.  Wer ist übrigens Thomas Mann?"

Es besteht aktueller Anlass, anlässlich des 50. Todestags von Alfred Döblin ("Berlin Alexanderplatz") dieses Jahr zu fragen: Alle Welt spricht über Alfred Döblin, den Vater von Wolfgang Döblin. Wer ist übrigens Wolfgang Döblin?

Wolfgang Döblin, einer der vier Söhne von Alfred Döblin, floh 1933 mit der Familie über Zürich nach Paris, studierte dort Mathematik, fiel auf als ein begabter Student, wurde 1936 französischer Staatsbürger, ging 1938 auf Seiten der Franzosen zum Militärdienst und dann in den Krieg, und brachte sich im Juni 1940 um, um nicht den deutschen Truppen in die Hände zu fallen. Erst im Mai 2000 wurde sein "pli cacheté" geöffnet, ein versiegelter Umschlag, in dem Döblin jun. die Ergebnisse seiner Forschungen von der Front an die Pariser Akademie geschickt hatte.  Es fanden sich grundlegende Untersuchungen zu stochastischen Prozessen, Teile des "Ito-Kalküls" – also wichtige Theorien, die allesamt nach dem Krieg von anderen wiederentdeckt wurden, die damit berühmt wurden, und mit Preisen ausgezeichnet wurden.  So unter anderen Kiyosi Itô im letzten Jahr in Madrid mit dem erstmals verliehenen Gauß-Preis von DMV und IMU.

Erst jetzt, siebenundsechzig Jahre später, lernen wir über Wolfgang Döblin, seine Begabung, seine Leistung. Er wird jetzt geehrt – mit einer Biographie von Marc Petit "Die verlorene Gleichung", einem Dokumentarfilm von "A mathematician rediscovered" von Agnes Handwerk und Harrie Willems, einem preisgekrönten Radio-Feature "Die Irrfahrt des Soldaten Döblin" von Jürgen Ellinghaus und Aldo Gardini, und vorgestern auch mit einem deutsch-französischen Festkolloquium "Die versiegelte Formel" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin.  Ich hatte gehofft, dass da einer fragt: "die ganze Welt spricht über Wolfgang Döblin, den Sohn von Alfred Döblin.  Wer ist übrigens Alfred Döblin?"

Dann würde ja großen Naserümpfens viel sein, um's etwas hochgestochen auszudrücken: Immerhin gilt es als unfein, sich seiner geisteswissenschaftlichen Unbildung zu brüsten. Bei naturwissenschaftlicher oder mathematischer Ignoranz ist das anders (nimmt aber ab). Bemerkenswerterweise kann man nicht nur immer noch Politiker hören mit "In Mathe war ich immer schlecht", sondern der Spruch (und andere Umschreibungen von "Besonders helle bin ich nicht") kommt gelegentlich auch einem Journalisten leicht über die Zunge – wie kürzlich einem Würzburger Lokalreporter, der ein "In Mathe war ich immer schlecht, interessiert mich auch nicht, und deshalb kann's auch nicht wichtig sein" in voller Kommentarlänge ausbreitete.

Anlass war die Aufnahme von Carl-Friedrich Gauß, dem vermutlich berühmtesten Sohn der Stadt Braunschweig, in die Walhalla – der ein langer Streit vorausging, der sogar am Kabinettstisch der Bayerischen Staatsregierung unter E. Stoiber ausgetragen wurde, wo wie man hört Carl Friedrich Gauß, Heinrich Heine und Edith Stein gegeneinander ausgespielt wurden.  Jetzt also steht seit September Carl Friedrich Gauß in der Walhalla (Heine: "Marmorne Schädelstätte"), in Form einer recht durchschnittlichen Marmorbüste (mit überraschend Loriot'scher Knollennase).

Und man kann fragen nach unseren Prioritäten, bzw. derer die Bayerischen Akademien der Wissenschaften und der Künste sowie der Bayerischen Staatsregierung, die das in letzter Instanz zu entscheiden hat.  Gauß ("Wissenschaft", ein Genie) dieses Jahr, Edith Stein (Religion) kommendes Jahr, und im Jahr darauf dann Heinrich Heine ("Literatur", und Kritiker)… Ist das eine Steigerung?  Früher war das ja in Geldwerten messbar – Gauß (Mathematik) gab's auf dem 10-Mark-Schein, Clara Schumann (Musik) auf dem Hunderter – und die Religion braucht kein Geld.

Wo bleibt der Fortschritt?

Veröffentlicht von

Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, Leiter des “Medienbüros” der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Aktivist, Kommunikator, Sekttrinker, Gelegenheitsblogger, Kolumnist und Buch-Autor: "Darf ich Zahlen?" und "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!".

5 Kommentare

  1. Berühmtheit von Mathematikern

    „Der gute Christ möge sich hüten vor den Mathematikern und all denen, die leere Vorhersagen zu machen pflegen, schon gar dann, wenn diese Vorhersagen zutreffen. Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Mathematiker mit dem Teufel im Bund den Geist trüben und die Menschen in die Bande der Hölle verstricken.“
    Der Autor dieser Zeilen ist berühmt, es ist der Kirchenvater Augustin.

    Wer kennt den Mathematiker des Namens ***?
    Bertrand Russell bezeichnete *** als einen der größten Köpfe des 19. Jahrhunderts. David Hilbert nannte ***s transfinite Arithmetik „ die bewundernswerteste Blume des menschlichen Geistes und eine der höchsten Leistungen der rein rationalen menschlichen Tätigkeit“; er verteidigte ***s Unendlichkeit nachhaltig: „Niemand soll uns aus dem Paradies vertreiben, das *** geschaffen hat.“

  2. Augustinus-Zitat

    … das Augustinus-Zitat bezieht sich wohl auf die
    Astrologen. So gelesen, ist es durchaus treffend. (Fast hätte ich gesagt, es macht Sinn, aber dann kriege ich wieder einen Anglizismus vorgehalten.) Übrigens könnte man ja probehalber statt “Mathematiker” auch mal “Meteorologen” einsetzen…

  3. Dichter und Mathematiker

    “Worum geht’s hier eigentlich?” wurde gefragt. Mathematiker sind Menschen, sie haben ein persönliches und politisches Schicksal über die Mathematik hinaus. Und Mathematikgenies haben mit lyrischen Dichtern die Gemeinsamkeit, dass sie auch als jung Gestorbene, als „Frühvollendete“ ohne lange Labor- und Lebenserfahrung ein Werk hinterlassen können. Warum das Volk mit Mathematikern/Wissenschaftlern nicht fühlt wie mit Künstlern? Wenn der Verstand eines Kindes sich erhebt aus dem Staub persönlicher Sorgen, sind da zwei Wege: entweder Menschenleben aus höherer Sicht studieren (Shakespeare statt Daily Soap) oder Welten betreten jenseits allen menschlichen Wollens. Auf dem ersten Weg sieht der Laie immer noch Menschen, selbst wenn er ihre Sprache nicht mehr versteht. Auf dem zweiten Weg kommt gleich hinter Sudoku nur noch Nebel – und Sudoku war ein gewaltiger Fortschritt, genau wie Herrn Gaußens Hochzeitsnacht in Kehlmanns Bestseller ein Fortschritt war, vor 20 Jahren in Deutschland noch undenkbar. Jetzt drückt man wieder mal allen Kindern Lupen und Reagenzgläser in die Hand, da rollt auf die Mathematik die unliebe Aufgabe der Auslese zu. Studienabbrecher vieler Fächer scheitern an Statistik, an formaler Logik, dem einzigen Ding, das NICHT mit Willen lernbar ist. Wir brauchen mehr Mathematiker in allen Fachbereichen, denn ob heute vom Lichtausschalten der Strom zusammenbricht, ja sogar ob Goethes Wertherroman „wirklich“ die Selbstmordzahl erhöht hat, das können nur Mathematiker entscheiden. Gleichzeitig brauchen wir Ausbildungswege und Studiengänge für alle Fortschrittsfreunde, die keine höhere Mathematik begreifen – geniale Bastler ebenso wie die, die im Dienst der Wissenschaft schreiben, übersetzen, zeichnen, unterrichten oder vermarkten.

  4. geistiger Vater von Georg Cantor

    Der Kirchenvater Augustinus definiert Gott als Wesen mit der Fähigkeit, das Unendliche zu erkennen:
    “Ihm ist die Unendlichkeit der Zahlen, obwohl sie unzählbar ist, nicht unfasslich, da seiner Erkenntnis keine Zahl zu groß ist. Wenn also alles, was man wissend erfasst, durch des Wissenden Erfassen begrenzt wird, so ist für Gott zweifellos sogar das Unbegrenzte auf unbeschreibbare Weise begrenzt, da es seinem Wissen fassbar ist.”
    Es kann sein, dass Augustinus mit „Mathematik“ die Astrologie meinte, wenn dies auch für die damaligen Zeiten eine sehr eingeschränkte Sicht war. Der Kirchenvater ist aber aus zwei Gründen geistiger Vater von Georg Cantor, dem Begründer der transfiniten Arithmetik:
    1. Augustinus war ein Platoniker. Diese glauben, dass die mathematischen Gegenstände und Sätze losgelöst von der materiellen Welt und unabhängig von Raum und Zeit existieren. D.h. Mathematiker entdecken die Mathematik. Demgegenüber glaubt ein Konstruktivist, die mathematischen Sätze würden konstruiert oder erfunden.
    2. Der Glaube an einen “Ideenhimmel”, in dem alle mathematischen Wahrheiten existieren, war auch die Voraussetzung für die „Realität“ der aktualen Unendlichkeiten. Georg Cantor starb in einer Nervenklinik. Es wäre denkbar, dass er dies als Strafe ansah für die Hybris, die Unendlichkeiten anstelle von Gott selber erkennen zu wollen.

Schreibe einen Kommentar