Die Pommes-Gefühl-Injektion

Adipositas ist ein gewaltiges Problem, das kaum zu bändigen ist. An Lösungen wird hartnäckig geforscht. Ein neues Verfahren wird gerade in Kalifornien an Mäusen getestet: Eine wöchentliche Protein-Spritze bekämpft Fettleibigkeit, indem sie Blutzucker und -fette senkt.

Credit: Christopher Flowers / unsplash / CC0

Es klingt zu gut, um wahr zu sein. Stellen Sie sich vor, eine Spritze könnte übergewichtige Patienten davon abhalten, im Heißhunger eine ganze Tafel Schokolade oder eine große Portion Pommes mit Majo zu verschlingen. Mit einer einzigen Injektion pro Woche. Ein Heilmittel, das einen einfachen und schmerzlosen Weg zum Abnehmen bietet – ganz ohne Nebenwirkungen. Es klingt nach einem unmöglichen Versprechen, nach der Vermarktungsstrategie eines unseriösen Anbieters, der weniger gesundheits- aber dafür umso mehr gewinnorientiert arbeitet.

GDF-15 wirkt am Brechzentrum

Doch Wissenschaftler aus Kalifornien, die für das Biotechnologieunternehmen Amgen arbeiten, erregten diesen Monat in einer Studie in Science Translational Medicine Aufsehen damit, dass diese Vorstellung bald Realität werden könnte. Schon länger kennt man das Protein GDF-15 (growth differentiation factor 15) als potentiellen Faktor in der Gewichtsregulierung. Es wurde zuerst von Dr. Samuel Breit am St. Vincent’s Hospital in Sydney bei Krebspatienten mit tumorinduzierter Anorexie entdeckt. Bei diesen Patienten und auch bei getesteten Labormäusen lag die Konzentration von GDF-15 im Blut 10 bis 100 Mal höher als bei Gesunden.

Seit Dr. Breits Entdeckung suchten die Forscher nach der Ursache für die gewichtssenkende Wirkung des Faktors. Man fand heraus, dass GDF-15 an sogenannte GFRAL-Rezeptoren (GDNF family receptor α-like Rezeptoren) in zwei Regionen des Gehirns andockt: an der Area postrema und im Nucleus tractus solitarii. Sie bilden zusammen das Brechzentrum unseres Gehirns, das uns über verschiedene Mechanismen Übelkeit bescheren kann, beispielsweise, wenn wir zu viel Alkohol getrunken oder verdorbene Lebensmittel gegessen haben.

Entfernt man Mäusen diese Regionen im Tierexperiment, reagieren sie nicht länger auf die gewichtsmindernde Wirkung von GDF-15, was dafür spricht, dass hier der Wirkort des Proteins liegt. Auf Basis dieser Erkenntnisse versuchten die Forscher, eine modifizierte Form von GDF-15 als nebenwirkungsfreies Mittel zur Appetitregulierung von adipösen Patienten zu entwickeln. Und den kalifornischen Wissenschaftlern rund um Yumei Xiong ist dies anscheinend gelungen.

Übergewichtige haben mehr GDF-15 als Schlanke

Besonders in der westlichen Welt nimmt Fettleibigkeit stark zu. Erst vor kurzem berichtete die WHO, dass sich die Zahl der fettleibigen Kinder seit 1975 verzehnfacht hat. Die Rate der übergewichtigen Erwachsenen hat sich um das Dreifache erhöht. Die effektivste Behandlungsmöglichkeit von stark adipösen Patienten sind derzeit chirurgische Eingriffe. Mit mehr Sport und weniger Essen bekommen die meisten Betroffenen ihr Gewicht nicht mehr in den Griff. Doch die OPs zur Magenverkleinerung, Fettabsaugungen und andere bariatrische Eingriffe bergen viele Risiken und haben häufig erhebliche, dauerhafte Nachwirkungen.

Xiong und sein Team haben dagegen ein Protein zum Spritzen entwickelt, das Blutzucker sowie Blutfette senkt. Experimente der Amgen-Mitarbeiter zeigten in der Vergangenheit, dass die künstliche Erhöhung der GDF-15-Produktion bei entsprechend gentherapierten Mäusen die Nahrungsaufnahme vermindert und das Körpergewicht senkt.

Feuer mit Feuer bekämpfen

Paradoxerweise fand man heraus, dass die Spiegel an GDF-15 bei adipösen Mäusen erhöht sind, man aber durch die zusätzliche Injektion von GDF-15 im Tiermodell einen Abnehmeffekt erreichen kann. Das könnte daran liegen, dass übergewichtige Mäuse eine GDF-15-Resistenz entwickeln. Zwar können die Tiere das Protein im Körper herstellen, jedoch kann es vermutlich seine Wirkung an den Rezeptoren nicht entfalten. Kompensatorisch bildet der Körper daraufhin mehr GDF-15. Die in der Studie injizierten Dosen von GDF-15 waren jedoch viel höher als die normalerweise gefundene Konzentration in fettleibigen Mäusen. Die Wissenschaftler vermuten, dass durch den Einsatz stark erhöhter GDF-15 Mengen die entstandene Resistenz überwunden wird, das Protein also wieder einen Effekt an den Rezeptoren ausüben kann. Auch bei Studien an Menschen fand man heraus, dass übergewichte Personen erhöhte Spiegel von GDF-15 aufweisen.

Murielle Véniant vom Amgen-Forschungszentrum in Thousand Oaks, Kalifornien erklärt, dass GDF-15 wahrscheinlich im Darm gebildet wird und Teil der Darm-Hirn-Achse ist. Es aktiviert Neuronen in der Area postrema und steuert darüber das Sättigungsgefühl nach dem Essen. Doch das Protein kann noch mehr. Es hilft beim Abbau von Fettreserven und senkt Triglyzeride, Cholesterin sowie Blutzucker. Dies wäre besonders bei Menschen von Vorteil, die unter dem metabolischen Syndrom leiden, also neben Fettleibigkeit auch mit einen erhöhten Blutdruck, Diabetes oder einem schlechten Cholesterinspiegel zu kämpfen haben. Das bisherige Problem, an dem die Forscher bei Medikamentenentwicklungen aus GDF-15 gescheitert sind, lag darin, dass der Faktor nur eine sehr kurze Halbwertszeit hat. Er wird im Körper innerhalb von 3 Stunden abgebaut – zu schnell, um eine ausreichende Wirkung zu entfalten.

Nur eine Spritze pro Woche

Doch den Arzneimittelforschern ist es nun gelungen, das Protein GDF-15 mit Teilen des Antikörpers MIC-1 (macrophage inhibitory cytokine 1) zu verknüpfen und so seine Halbwertszeit deutlich zu verlängern. Das neu hergestellte Protein müsste man nur ein Mal pro Woche spritzen, was die Akzeptanz dieses Mittel deutlich steigern würde. Zudem kann man es in größerer Menge produzieren. Die Forscher testeten das neu designte Protein an übergewichtigen Mäusen und Makaken-Affen. Bei beiden beobachteten sie eine Abnahme des Körpergewichts, der Insulinproduktion und der Körperfette (Triglyzeride) sowie eine verzögerte Magenentleerung. Bei den fettleibigen Mäusen fand man zusätzlich eine Senkung des Cholesterinspiegels. Die Tiere nahmen insgesamt weniger Futter zu sich und bevorzugten kalorienarmes Essen.

Während unbehandelte Mäuse sich bei der Wahl zwischen dem kalorienreichen Standardessen und dem Diätessen auf die Kalorienbombe stürzten, wählten die behandelten Tiere die leichte, gesündere Variante. Die Forscher haben den genauen Mechanismus, wie GDF-15 gewichtsregulierend wirkt, noch nicht verstanden, aber sie vermuten, dass die Tiere sich satter fühlten, weil das Essen länger im Bauch blieb und sie dadurch weniger Interesse an fettiger Nahrung zeigten.

Sättigungsgefühl oder Übelkeit?

Doch noch sind keine klinischen Studien am Menschen geplant. Erstmal müssen die Schlankmacher weiter auf ihre Verträglichkeit an Tieren getestet werden. Denn es gibt einige Bedenken zu klären. Ein kritisch zu betrachtender Punkt ist, dass GDF-15 seine Wirkung unter anderem am Brechzentrum des Gehirns zu entfalten scheint. Die Forscher bemerkten zwar keine Anzeichen von Übelkeit, Unwohlsein oder Erbrechen der Tiere. Doch man kann einen Affen oder eine Maus schlecht fragen, wie es ihnen geht.

Der Neurowissenschaftler Richard Palmiter, der die Appetitregulierung an der Universität von Washington in Seattle erforscht, bemerkt: „Es besteht das Risiko, dass dieses Medikament dazu führt, dass die Leute Übelkeit bekommen, anstatt sich gesättigt zu fühlen.“ Und wer würde schon ein Mittel nehmen wollen, welches dazu führt, dass ihm die ganze Zeit schlecht ist.

Darüber hinaus ist GDF-15 ein relativ unspezifisches Protein, das an einer Vielzahl von physiologischen Prozessen beteiligt ist. Es ist Bestandteil verschiedenster Signalwege, die kompliziert und wenig verstanden sind. Um ein Medikament gegen Fettleibigkeit herzustellen, bräuchte man eigentlich einen viel spezifischeren Angriffspunkt, der so wenig wie möglich mit anderen Strukturen in unserem Körper interagiert. Die Forscher um Xiong berichten, dass sie bislang keine Nebenwirkungen bei der Injektion des modifizierten Proteins feststellen konnten. Es scheint selektiv an die GFAR-Rezeptoren der zwei Gehirnregionen des Brechzentrums zu binden.

Doch genau erforscht ist der Mechanismus bisher nicht. GDF-15 ist auch an der Reaktion von Zellen auf Verletzungen beteiligt. Erhöhte Level findet man bei Sauerstoffmangel, Entzündungen, Krebs und oxidativem Stress. Es ist zudem ein wichtiger Marker bei Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In einer Studie fand man heraus, dass GDF-15 ein wichtiger Faktor zur Vorhersage der Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung ist. In der Kardiologie kennt man das Protein als einen Faktor, der eine große Rolle bei Herzinfarkten und Herzinsuffizienzen spielt. Bei diesen Erkrankungen wird GDF-15 vermehrt gebildet, es ist allerdings unklar, ob es einen schützenden oder verschlechternden Effekt auf die Krankheiten hat.

Hoffnungsträger oder Reinfall?

Solange keine Studien am Menschen beweisen, dass GDF-15 keinen Schaden anrichtet, sollte man den Optimismus bremsen. Der Fall des in den letzten Jahren entwickelten Medikaments zur Gewichtsabnahme „Beloranib“ zeigt, dass sich die großen Hoffnungen auf ein Heilmittel gegen Übergewicht sehr schnell zerschlagen können. Beloranib führt über die Hemmung des Enzyms METAP2 zu einer Ankurbelung des Fettabbaus und damit zu einer Gewichtsabnahme bei gleich bleibendem Essverhalten. Ursprünglich wurde es für die Krebstherapie entwickelt, um das Gefäßwachstum zu bremsen. Sobald man jedoch die gewichtsregulierende Eigenschaft entdeckt hatte, begann der Pharmakonzern Zafgen mit der Entwicklung eines Mittels zum Gewichtsverlust.

Phase I und II der Studie am Menschen klangen vielversprechend: im Gegensatz zum Placebo führte Beloranib zu einem signifikanten Gewichtsverlust bei behandelten Frauen und verbesserte sogar die kardiovaskulären Risikofaktoren. Im Dezember 2015 startete die Phase III der Medikamententestung an Patienten mit Prader-Willi-Syndrom, einer genetischen Erbkrankheit, die unter anderem zu starkem Übergewicht führt. Nachdem zwei der Studienteilnehmer plötzlich verstarben wurde die Medikamentenentwicklung jedoch eingestellt, da nicht mit Sicherheit bestimmt werden konnte, ob die Todesfälle mit der Behandlung in Zusammenhang standen.

Das erste vielversprechende Adipositas-Medikament des 21. Jahrhunderts stellte sich als Misserfolg heraus. Auch GDF-15 müsste sich vor seinem Einsatz erst durch alle drei Phasen der Medikamententestung kämpfen. Selbst bei Erfolg kann man also nicht mit einem Einsatz in den nächsten Jahren rechnen.

Behandlung lebenslänglich?

Der Vorsitzende der neurowissenschaftlichen Abteilung am Mount Sinai Health Zentrum in New York Paul Kenny bestätigt: „Der Schlüssel ist, ob es sich als sicher bei der Anwendung im Menschen herausstellt“. Auch die Frage, wie lange die Abnehmeffekte nach erfolgtem Gewichtsverlust anhalten, ist nicht geklärt. Gibt es eine permanente Veränderung im Gehirn, sodass das Hungergefühl für immer reduziert wird? Oder müssten sich die Menschen das Protein ein Leben lang spritzen? Welche Auswirkungen hätte dies auf den menschlichen Körper? Fragen auf diese Antworten müssen erst noch gefunden werden.

Möglicherweise funktioniert GDF-15 in dieser Hinsicht ähnlich wie das Insulin bei Typ-2-Diabetikern. Insulin ist ein Hormon zur Senkung des Blutzuckerspiegels. Typ-2-Diabetiker haben eine Insulinresistenz, d.h. die Körperzellen reagieren weniger empfindlich auf das Hormon. Anfangs produzieren die zuckerkranken Menschen zwar noch Insulin in genügend großen Mengen, sie haben sogar eine Überproduktion, aber die Insulinrezeptoren der Körperzellen sind so herabreguliert oder verändert, sodass es seine Wirkung (u.a. die Aufnahme der Blutglukose in die Körperzellen) nicht richtig entfalten kann. Irgendwann ist die Bauchspeicheldrüse der Diabetiker durch die Überproduktion so erschöpft, dass die körpereigene Insulinherstellung zusammenbricht. Die betroffenen Patienten müssen nun das blutzuckersenkende Hormon künstlich spritzen, um den Mangel auszugleichen. Da die Forscher bei GDF-15 einen ähnlichen Resistenzmechanismus vermuten, könnte also auch hier eine eventuelle lebenslange Therapie mit dem Protein nötig sein.

Gegen Adipositas gibt es keine Standardbehandlung

GDF-15 hat dennoch ein enormes Potential in der zukünftigen Adipositas-Behandlung. Die Forscher sehen ihr Medikament allerdings eher in Kombination mit weiteren Therapien als effektiv an. W. Scott Butsch, Adipositas-Arzt am Massachusetts General Hospital in Bosten, erklärt: „Wir sind schon längst darüber hinaus, dass es ein einziges Medikament geben wird, das Übergewicht heilt. Fettleibigkeit ist eine komplexe Erkrankung, für die es keine Standard-Behandlung gibt, die allen Patienten gleichermaßen hilft. Die Verbindung mit anderen Behandlungsmethoden ist die Zukunft.“ So könnte GDF-15 den Appetit der Menschen zügeln, während zusätzlich ein anderes Medikament den Stoffwechsel beschleunigt. Bis wir ein Heilmittel haben, das uns erlaubt, ohne Reue zu Süßigkeiten, Pizza und Pommes zu greifen, müssen wir uns noch lange gedulden. Und ob das Sündigen dann ohne Nebenwirkungen funktioniert, sei dahingestellt. Am Besten ist bisher immer noch der Entstehung von Übergewicht mit gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung vorzubeugen.

Anmerkung: liebe Leser, dieser Beitrag erschien zuerst auf meinem DocCheck Blog.

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Dr. med. Marlene Heckl arbeitet als approbierte Ärztin und hat an der Technischen Universität München und Ludwig-Maximilians-Universität studiert und promoviert. Seit 2012 schreibt die Preisträgerin des "Georg-von-Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus" für Ihren Blog "Marlenes Medizinkiste" und veröffentlicht Science-Videos auf Youtube und modernen social-media Plattformen, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Für Spektrum der Wissenschaft, Die Zeit, Thieme, Science Notes, DocCheck u.a. befasst sie sich mit aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Themen, die ihr am Herzen liegen. Kontakt: medizinkiste@protonmail.com

4 Kommentare

  1. Die Meldungen über appetitregulierende hormonelle/regulatorische Faktoren häufen sich. Nicht nur das oben beschriebene GDF-15 beeinflusst den Appetit, auch das (Neuro-)Hormon Asprosin, wie im Artikel Asprosin is a centrally acting orexigenic hormoneAsprosin is a centrally acting orexigenic hormone beschrieben. Asprosin stimuliert den Appetit direkt im Hirn und Antikörper gegen Asprosin reduzierten in adipösen Mäusen die Nahrungsaufnahme und das Gewicht. Auch im Scientist-Artikel Hormone Loss Prevents Obesity and Diabetes in Mice wird über den dramatischen Effekt von Asprosin-Antikörpern auf das Körpergewicht von Mäusen berichtet.

    Im übrigen stimmt es, dass die heute (immer noch) empfohlene kalorische Restriktion (“friss die Hälfte”) und die zugehörigen Diäten Misserfolgsquoten über 90% besitzen. Es scheint aber, dass intermittierendes Fasten weit besser wirkt. Allerdings braucht es dazu eine fast noch grössere Umstellung in der Lebensweise als bei der kalorischen Restriktion, denn beim intermittierenden Fasten müssen die Betroffenen beispielsweise jede Woche für 2 Tage aufs Essen überhaupt verzichten. Die Diäten versagen, weil schon kurze Zeit nach Beendigung der Diät das Körpergewicht wieder steigt, was sehr wahrscheinlich an solchen (Neuro-)hormonen wie Asprosin liegt, die bei zur Adiopositas neigenden einfach in zu hoher Konzentration vorliegen.

    • Ergänzung. Der Wikipedia-Eintrag über das in der Leber Glucose freisetzende und zugleich appetitregulierende Hormon Asprosin fasst das Wissen über Asprosin akkurat zusammen. Entscheidend im hier besprochenen Zusammenhang ist der letzte Satz:

      In einem Test der pharmakologischen Asprosin-Depletion bei Tieren zeigte sich die Möglichkeit der therapeutischen Anwendung bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes und Fettleibigkeit. Chopra [Erstentdecker] und Kollegen beobachteten, dass, wenn Antikörper gegen Asprosin in diabetische Mäuse injiziert wurden, Blutzucker- und Insulinspiegel sich verbesserten.

      Ich habe überhaupt den Eindruck, dass man bis vor kurzem Phänomen wie Appetit, Hunger und zugehörige Krankheiten wie Anorexie und Fettsucht kaum verstanden hat und die zugehörigen Probleme fälschlicherweise der Willensschwäche (Adipositas) oder dem Suchtverhalten (Anorexie) der Betroffenen zugeordnet hat. Es stimmt sicherlich, dass psychische Faktoren bei Anorexie und Adipositas eine Rolle spielen. Nur sind psychische Faktoren letztlich eben auch physische Faktoren, denn eine strikte Trennung von Psyche und Physe gibt es nur in der Philosophie (Dualismus), nicht aber in der Medizin.

  2. Eine gute Übersicht über die Appetitregulation gibt der Artikel Appetite regulation: an overview.
    Scheinbar spielen Hypothalamus-Peptide (sowohl appetitanregende als auch sättigende) eine wichtige Rolle, daneben gibt es im Blut zirkulierende Faktoren, die Hirnstamm und Hypothalamus direkt beeinflussen. Leptin ist ein solcher im Blut zirkulierender Faktor. Es wird von Fettgewebe erzeugt. Insulin und pankreatisches Polypeptid sind vom Pankreas erzeugte zirkulierende Faktoren. Daneben gibt es vom Darm erzeugte zirkulierende Faktoren und Triiodhyronin, welches von der Schilddrüse produziert wird. Aber auch Karbohydrate, Lipide und Aminosäuren und damit das, was man gerade gegessen hat, beeinflussen den Appetit.
    Es gibt mehrere Studien, die den Erfolg der gewichtskorrigierenden Operationen (bariatrische Operationen) mindestens teilweise auf Einflüsse in die oben genannten appetitregulierenden Faktoren zurückführen (Zitat: “Es gibt jedoch immer überzeugendere Beweise dafür, dass die daraus resultierende Gewichtsabnahme nach der Operation zumindest teilweise auf eine Veränderung des Kreislaufniveaus und der Physiologie bestimmter Darmhormone zurückzuführen ist”)
    Jedenfalls ergibt sich ein kompliziertes Bild gegenseitiger Beeinflussung multipler regulatorischer Kreisläufe. Die im obigen Artikel erwähnte Protein GDF-15 findet sich in älteren Übersichten nicht einmal, was zeigt, dass das Bild noch unvollständig ist.

  3. Adipositas erhöht das Risiko für Typ 2 Diabetes und umgekehrt verlieren Diabetiker (vom Typ 2), die vorübergehend hungern (sehr wenig Kalorien einnehmen), ihre Zuckerkrankheit. Eine Untersuchung des Effekts von Very Low Calorie Intake an Nagetieren ergab nun folgendes: In der Leber senkt VLCD die Glukoseproduktion durch: 1) Verminderung der Umwandlung von Laktat und Aminosäuren in Glukose; 2) Verminderung der Rate der Leber-Glycogenumwandlung zu Glukose; und 3) Verminderung des Fettgehalts, die in der Folge die Antwort der Leber auf Insulin verbessert. Diese positiven Effekte von VLCD (very low calorie intake) trat nach nur 3 Tagen auf.

    Dies ist ein Beispiel für den Zusammenhang von Diabetes und Kalorienaufnahme. Es gibt auch noch ein weitergefasstes Zusammenspiel von überkalorischer Ernährung, ungesunden Blutftetten wei Cholestorl und Atheroskelorse. Oxidiertes Cholesterol wird an den Arterienwänden abgelagert und löst dort Entzündungsreaktionen aus. Das wiederum aktiviert Makrophagen, welche sich teilweise aber in Schaumzellen umwandeln (je älter man ist umso häufiger) und die schliesslich Plaques an den Arterienwänden ausbilden. Doch der Körper kann sogar diese Plaques wieder loswerden und das Zytostatika Trodusquemine ist im Mausmodell in der Lage Atherosklerose rückgängig zu machen, indem es das Enzym tyrosine-protein phosphatase non-receptor type 1 (PTP1B) blockiert. Zitat:

    Trodusquemine ist derzeit in einer Phase 1-Studien für Brustkrebs, aber dies ist das erste Mal, dass das Medikament in Tiermodellen von Atherosklerose getestet wurde. Bisher sind die Ergebnisse beeindruckend und sie zeigten, dass eine einzelne Dosis des Medikaments in der Lage scheint, die Auswirkungen der Atherosklerose vollständig umzukehren.

    Die beiden Beispiele, die ich gegeben habe, zeigen deutlich, dass heute von vielen als irreversible geltende Veränderungen wie Diabetes oder Atherosklerose zwar die Folge eines ungünstigen Lebenswandels mit erhöhter Kalorienzufuhr sein können, das dies jedoch kein unumkehrbares Schicksal sein muss, sondern zunehmend therapeutisch zugänglich wir. Es gibt natürlich auch einen Bezug dieser Forschung zu Antiaging. Adipositas, Atherosklerose, Diabetes vom Typ 2 und das metabolische Syndrom gehören in den Bereich der degenerativen kardiovaskulären Krankheiten, die mit dem Alter wahrscheinlicher werden. Antiaging und die Prävention und Heilung von kardiovaskulären Erkrankungen steht jetzt im Zentrum zahlreicher Forschungsanstrenungen und die ersten Erfolge stimmen hoffnungsvoll.

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